Molekularbiologen wollen eine virtuelle Pflanze realisieren

Das ehrgeizige bioinformatische Projekt steckt das Ziel für die Forschung nach der Genkartierung ab

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Die Sequenzierung des menschlichen Genoms ist sicherlich interessanter als die einer Blütenpflanze, gleichwohl sind mögliche gentechnische Anwendungen hier nicht nur viel schneller, sondern auch weitaus weniger kompliziert zu realisieren. Und gerade die Notwendigkeit, für die wachsende Zahl von Menschen umweltverträglich angesichts der Erosion der Böden und dem Schwinden der Artenvielfalt eine ausreichende Ernährungsrundlage zu schaffen, macht zumindest eine schnelle weitere Forschung über die Entwicklung neuer Pflanzenarten zwingend.

Der Drosophila oder, komplizierter, der Maus für die Tierforscher entspricht bei den Botanikern Arabidopsis thaliana. Die winzige Acker-Schmalwand gehört zur Familie der Kreuzblütengewächse, lässt sich leicht kultivieren, pflanzt sich schnell fort und hat mit 25000 Genen ein relativ kleines Genom, das zudem schon weitgehend sequenziert ist. Überdies sind auch schon viele der Gene identifiziert und ihre Funktion charakterisiert, auch wenn immer noch die Funktion der Hälfte der Proteine unbekannt ist.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern ruft jetzt zu einem internationalen Projekt auf, bis zum Jahr 2010 die Acker-Schmalwand sozusagen transparent zu machen und dabei vornehmlich bioinformatische Mittel zu entwickeln. Hergestellt werden soll anhand eines vollständig bekannten Modells eine virtuelle Pflanze, aus der sich wiederum Eigenschaften anderer Pflanzen besser verstehen lassen: "Das Ziel des 2010-Projekts ist es, alle Gene von Arabidopsis zu verstehen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir verstehen lernen können, was eine Pflanze ist", erklärt Joanne Chory vom Howard Hughes Medical Institute am Salk Institute und Mitautorin eines Berichts, der die Ziele des Projekts ausführt. "Wie beim Human Genome Project ist die Kenntnis der Gensequenz nur der Beginn. Die wirkliche Aufgabe, der wir uns alle gegenüber befinden, ist herauszubekommen, was die Gene machen."

Im Rahmen des Projekts sollen Wissenschaftler ausgebildet, Forschungsmittel entwickelt und spezielle Gentechnikzentren aufgebaut werden. Zunächst geht es darum, die Funktion der einzelnen Gene zu klären und dann die Interaktionen des Gennetzes zu analysieren, aus denen die Proteine und schließlich die Zellen und Gewebe entstehen. Wichtig wird dabei auch sein, ein dem Reverse Engineering vergleichbare "reverse genetics" auszuführen, also die Funktion eines Gens durch dessen Mutation oder Ausschaltung bei dem daraus entstehenden Phänotyp zu erkennen.

Am Ende des ehrgeizigen Projekts soll ein vollständiges "Schaltdiagramm" aller Verbindungen der Pflanze stehen: "Letztlich hoffen wir, eine 'durchklickbare Pflanze' schaffen zu können", erklärt Chory das Vorhaben. Wir wollen zum Computer gehen, auf eine Zellart klicken und alle Protein-Protein-Interaktionen verstehen können. Wir wollen beispielsweise ein vierdimensionales Bild einer Pflanze sehen, das alle Einzelheiten vom Keimen des Samens bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Samen für die nächste Generation von der Mutterpflanze abfallen. Und wir würden gerne den Prozess jederzeit während des Lebenszyklus einer Pflanze unterbrechen können und nachschauen können, welche Proteine ausgedrückt werden und wie sie interagieren."

Da viele der Gene von Arabidopsis auch in anderen Pflanzen zu finden sind, könnten Erkenntnisse auch auf diese übertragen werden oder Eingang in die gentechnische Erzeugung von Nutzpflanzen bzw. in die medizinische Forschung finden. Vorhergesagt werden soll aus dem digitalen Modell die Evolution einer neuen Genfunktion durch einen Genomvergleich mit anderen wichtigen Pflanzenarten. Allerdings wollen die Wissenschaftler auch ähnliche Projekte für andere Pflanzen anstoßen, da vieles, was in der Landwirtschaft oder in der Medizin von Interesse sein könnte, sich nicht aus der Analyse von Arabidopsis allein ergeben wird.

Für Chory könnte das 2010-Projekt beispielsweise auch größere Kenntnisse der "phänotypischen Plastizität" von Pflanzen ermöglichen. Wenig bekannt ist nämlich noch, wie sich die Genexpression bei Pflanzen und Organismen überhaupt durch Umweltbedingungen verändert: "Pflanzen verändern ihre Entwicklung in Reaktion auf die Umwelt stärker als fast alle anderen Organismen. Und da sie einfach zu manipulierende Systeme sind, könnten wir einige sehr fundamentale Fragen über die Auswirkungen der Umwelt auf die Plastizität stellen. Diese Fragen bei Pflanzen zu stellen, wird auch Techniken ermöglichen, die auf andere Organismen wie Tiere anwendbar sind."

Um dem Projekt größere Legitimation zu verschaffen, verweist Chory auf die künftigen Ernährungsprobleme, die ein zweite Grüne Revolution erforderlich machen. Um die Erträge zu steigern, dürfe man aber nicht das gesamte landwirtschaftlich nutzbare Land gebrauchen: "Da wir bereits den Großteil der Produktivitätszunahme erreicht haben, der durch traditionelle Züchtung erzielt werden kann, benötigen wir jetzt Techniken zur Herstellung transgener Pflanzen, um den nächsten Schritt in der Domestizierung wilder Arten und in der Produktion von Nutzpflanzen mit größeren Erträgen und mit mehr Nährstoffen machen zu können."