"Alles war noch zu tun. Alle Abenteuer warten weiter"

Ein spekulativer Dialog mit Kodwo Eshun

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Die Lektüre von Kodwo Eshuns Sonic-Fiction-Debut "Heller als die Sonne" ist eine halluzinative, süchtig machende Erfahrung. Monatelang trug ich diese Theoriebibel mit mir herum und inhalierte Satz um Satz. Als DJ und Musikkritiker spricht Eshun in Plattentiteln. Während wir auf dem Boden von Rotterdams Medienlabor V2 saßen, fokussierte unser Gespräch nicht auf Eshuns These von schwarzer elektronischer Musik als Science Fiction. Stattdessen untersuchten wir gemeinsam das Genre des spekulativen Denkens. Meine Erfahrungen mit dieser speziellen Form des Textes hatten mir als Teil der "Bewegung zur Förderung der Illegalen Wissenschaft" (Adilkno/Bilwet) gezeigt, wie verwirrend, aber auch ermunternd es sein kann, feste Definitionen und Interpretationen hinter sich zu lassen und die akademische Bewusstseinspolizei, journalistische Codes und den postmodernen Zeigeist zu ignorieren. Konzepte können frei und dennoch sehr präzise nach vorne getreten, gedehnt, invertiert, unscharf gemacht, neukombiniert, negiert und mutiert werden. Was sind die Regeln dieser intensiven textuellen Erkundungsreisen? Sicher sind nicht alle Ergebnisse immer erfolgreich. Theoretisches Durchdrehen kann schnell zu Materialermüdung führen. Paranoia, Ekel und intellektuelle Erschöpfung warten an der nächsten Ecke. Immer besteht die Möglichkeit, auf der Suche nach dem richtigen Mix kultureller Artefakte die Zeichen der Zeit misszuverstehen oder als missverstandener Genius zynisch zu werden. Auf den weiten Plateaus der Immanenz geht man schnell verloren. Andererseits kann ein brilliantes Konzept dich schnell in einen Millionär, Popstar oder wenigstens einen hippen Erfinder verwandeln. Eine Weile lang waren spekulatives Denken und der Aufstieg der neuen Medien ein produktives Paar. Als dieses Interview im Sommer 1999 aufgezeichnet wurde, hatte ich das Gefühl, dass diese historische Konstellation, der "kurze Sommer des Internet", bereits vorbei war. Kodwo Eshuns goldene Tage von Techno, Drum'n'Bass, Drogen, und psychedelischer Theorie, Deleuze und Guattari und Kybernetik müssen sich ihm in ungefähr der selben Periode eröffnet haben, nämlich Mitte bis Ende der Neunzigerjahre. Kodwo war immer unter ihrem Bann. Wir fühlten beide, dass die ursprüngliche Energie noch da war. Man musste sie nur anzapfen, egal, was die historischen Wettervorhersagen auch prophezeiten. Für mich waren negatives Denken und spekulative Theorie Verbündete. Sowohl der Alien-Pol als auch das Engagement des Kritikers für das Alltägliche bewegen sich weg von den ritualisierten Phrasen der aktuellen PR-Diskurse. Spekulatives Denken ist dem Visionär weit voraus - und ist um einiges riskanter. Anstatt Szenarien linearen Wachstums werden radikale Modelle für unwahrscheinliche Zukünfte zusammengetragen. Das Spiel mit den Ideen gehört dir. Aber was sind seine Regeln? (Geert Lovink)

An welcher Stelle deiner Biographie würdest du die Ursprünge spekulativen Denkens situieren?

Kodwo Eshun: Einer der Schlüsselinputs ist McLuhan. 1968 gab er ein Interview, das unter dem Titel "Hot and Cool" veröffentlicht wurde. Beim Lesen wurde mir klar, dass McLuhan mein Projekt vorausgedacht hatte. Er sagte, dass das Extrahieren von Konzepten aus jedem beliebigen Feld verlangt, sie als Sonden zu benutzen, um einen Möglichkeitsraum zu eröffnen. Und sie eben nicht zu kontextualisieren und historisieren, also eine Archäologie von Konzepten zu betreiben, wofür Akademiker eigentlich ausgebildet werden. Oft ist es hilfreich, wenn ein Konzept relativ leer ist. McLuhan war sehr fasziniert von dieser Idee.

Und sie funktioniert sehr gut in der Science Fiction als Theorie im Schnellvorlauf. Zum Beispiel in J.G. Ballards Theory Fiction, wo es sehr oft eine Figur mit besonderen Obsessionen gibt, die versucht, ihr Projekt zu inszenieren: Weltkrieg 3, das Attentat auf JFK oder Malcolm X. Um dies zu erreichen, müssen diese Figuren sich ihren eigenen Theoriebaukasten basteln. Ihnen gegenüber steht dann der Wissenschaftler, der spekulative Analysen anwendet, um die spekulativen Projekte des Anti-Helden zu verstehen.

Als ich diese Aspekte entdeckt hatte, versuchte ich sie auf Klangkonzepte anzuwenden, die Produzenten und Musiker vorlegten. Diese gaben selten programmatische Statements ab, ihre Konzepte versteckten sich eher in Tracktiteln oder auf dem Albumcover. Man kann sie zwar sehen, aber sie sind komprimiert, verkürzt und ich wollte sie entpacken.

Ein weiteres Schlüsselelement entnahm ich Deleuze und Guattaris "Mille Plateaux": Die Philosophie sollte sich als Konzeptmanufaktur rekonstituieren. Philosophie - Heidegger, Hegel, Merleau-Ponty, Lacan - hatte mir immer Kopfschmerzen verursacht, weil sie unwägbar war. Die Manufaktur von Inhalten macht den Philosophen dagegen zu einem Elektriker des Denkens, der nach Schaltkreisdiagrammen der Gegenwat sucht. D&G waren so brilliant, als sie sagten: Wir können auch nichts dafür, wenn Proust uns genausoviel über die Raumzeit sagt wie Einstein, oder wenn Henry Miller uns genausoviel über das Funktionieren des Verlangen sagt wie Freud. Die Grenze zwischen Fiktion und Theorie ist total durchlässig.

Diese Ideen kamen mir 1994-96, als ich Nick Land, Sadie Plant und ihre Studenten Mark Fisher, Steve Goodman, Suzanne Livingston an der Cybernetic Culture Research Unit in Warwick traf. Wir arbeiteten alle an der selben Sache, an der durchlässigen Membran zwischen bestimmten Konzepten, die in Science Fiction angelegt waren, wir wollten bestimmte Aspekte in Haraways Cyborg Manifest radikalisieren. Und wir bekamen einen besonderen Schub durch Musik. Drum'n'Bass ließ den Song weit hinter sich. Jede Woche kam neue Musik heraus, die forderte, dass man einen konzeptionellen Apparat entwickelte, der total post-human war.

Wir waren besonders von der Art und Weise fasziniert, in der Rhythmus die Musik dominierte. Die Neunzigerjahre waren das Zeitalter des Drummers, der noch nicht einmal mehr ein menschlicher Drummer war. Man konnte die Evolution von Rhythmus zur Information hören, vom Drumkit zum Sampler, zum virtuellen Studio, zur Komplexifizierung von Rhythmus.

Die Leute um uns herum aber waren so ordentlich, so ernst und moralisch, was uns deprimierte. Sie benutzten Theorie aus Prestigegründen und um Spekulation zu verhindern. Man konnte etwa diesen lahmen Text lesen von jemand, der versuchte, Heidegger auf "The Parliament" anzuwenden, weil auf einem Albumcover das Wort "Ontologie" zu lesen war. Anstatt umgekehrt Parliament auf Heidegger anzuwenden, machten sie es immer anders herum. Theorie wurde gerade nicht dazu benutzt, um zu pluralisieren, um zu sehen, dass sie selbst schon überall war, wohin man auch sah und was man auch hörte.

Wenn man Sound produziert, theoretisiert man tonal oder akustisch. Diese Überlegung formuliert den wichtigen Unterschied zwischen meinem Buch und den meisten Cultural-Studies-Analysen. Sie haben immer noch nicht verstanden, dass Sonologie generativ ist, in und durch sich selbst. Jede materielle Kraft kann ihre eigene Form schaffen.

Nach meiner Erfahrung kann spekulative Beschleunigung in zwei Richtungen gehen. Die eine ist die Bewegung in Richtung des Inneren, des Zwischenraums, des Raums zwischen den Räumen. Die andere Bewegung richtet sich nach außen, in Richtung des Utopischen, des Alien.

Kodwo Eshun: Der erste Schritt in Richtung Innerspace ist die mikroskopische Analyse. Er führt von den imaginären Soundwelten, die eine Platte in deinem Kopf erzeugt, nach unten, hin zu spezifischen Figuren innerhalb dieser Welt. Es geht dabei um all die akustischen Lebensformen, die aus der Welt der Aufnahme in die Welt deines Kopfes übersetzen. Wenn man Kopfhörer aufsetzt, erweitert sich die funktionale Expansion deiner Hörkapazität auf die Größe eines ganzen Universums. R Murray Schafer, der Begriffe wie Soundscape und Schizophonics erfunden hat, spricht von Kopfhörern als einem "Headspace", der nicht geographisch, sondern expansiv ist. Beide Bewegungen - nach innen wie nach außen - sind endlos.

Die Bewegung in Richtung des Utopischen und des Alien ist sehr stark. Ich selbst wollte mit diesem obligatorischen Pessimismus brechen. Während ich mich mit Cultural Studies beschäftigte, arbeitete ich mit Autoren wie Frantz Fanon, Edward Said, Homi Bhaba. Die Prämisse war: Weil die sozialen Beziehungen im Kapitalismus kahl und öde sind, setzt dies die Parameter für unser Denken. Ich konnte nicht feststellen, dass dies der Fall war. Ich hatte das Gefühl, dass so das Denken blockiert wurde. Dann las ich D&Gs "Anti-Ödipus" und Foucault, der sagte: "Denkt nicht, dass ihr traurig sein müsst, um militant zu sein."

Wir glauben, dass die Theorie unbekanntes Land erkunden kann und diese Aufgabe nicht darauf reduziert werden muss, die Arbeiten anderer Leute zu zitieren. Sie trägt vielmehr eine Avantgardeposition in sich, einen Sinn der Vorausschau. Ich schäme mich nicht dafür, trotz aller Kritik und der Tatsache, dass die Avantgarde schon so oft für tot erklärt wurde.

Kodwo Eshun: Ich habe es aufgegeben, Leuten zuzuhören, die behaupten, alle Abenteuer sein vorbei, jeder Heroismus sei überflüssig, wir seien alle zu spät geboren und hätten keine andere Option als herumzusitzen und Formen anderer, größerer Leute zu rekombinieren. Als ich Nick Land und Sadie Plant traf, wurde mir klar, dass das nicht stimmt. Alles war zu tun. Alle Abenteuer warten weiter. Sadie Plants "Nullen und Einsen" etwa ist ein heroisches Buch mit einer massiven Tragweite. Es durchkreuzt Jahrhunderte, generalisiert wild, ist rigoros, aber gigantisch. Es ist auf der einen Seite mikro, und andererseits total makro. Alles kann molekular und molar sein.

Mein nächstes Buch wird eine afrofuturistische Anthologie mit einer historischen Sektion sein, mit Samuel Butler (The Book of Machines) zu McLuhan und einigen der Komponisten. Der zweite Teil wird mit David Toop und Greg Tate starten und durch Belgien, Deutschland und Frankreich, die Ost- und Westküste reisen. Es wird die Verbreitung von Konzepten zeigen, die Verbindung von Science Fiction und Sound - "Sonic Fiction". Afrofuturismus als transversale Tendenz, die durch die populäre Kultur verläuft, die sich gegen die Vorstellung einer schwarzen Identität wendet, dagegen, was man sich unter Popidentität und kultureller Identität vorgestellt hat.

Die Identifikation von sagen wir mal deutschen Kids mit Gangsta Rap hat sich als Falle herausgestellt.

Kodwo Eshun: Wir könnten das auf sich beruhen lassen und auf ganz anderen Vektoren weiterreisen. Ich wollte damit weitermachen, womit Sun Ra als Vektor startete. Es war im Sinn von Avantgarde wichtig, sich vorwärtszubewegen und dort anzukommen, wo sich schwarze Identität als nur vorübergehende, oft sogar nichtexistente zeigt. Das führte mich zu einer Idee von Identität, die eine vorübergehende Fluktuation darstellt, ein Epiphänomen konvergenter Prozesse im Körper. Identität und Bewusstsein funktionieren nicht top-down. Künstliche Intelligenz fing immer mit einem Modell der Welt an, Künstliches Leben dagegen startete mit lokalen Tendenzen, etwa einem kleinen Muskel. Wenn man viele von ihnen kombiniert, dann entsteht zum Beispiel die Intelligenz eines Beins. Identität kommt erst später, als Kommunikation zwischen Antriebssystemen. Auf diese Art und Weise kommt man von einer zentralistischen Herangehensweise weg, die nur in Sackgassen führt. An dieser Stelle wird Robotik interessant. Wenn man sich einen Film aus den Vierzigerjahren anschaut, dann wird man damit konfrontiert, dass Afroamerikaner bestenfalls als Aufzugspersonal und Diener auftauchen. Wenn man sich Norbert Wieners Texte aus der selben Zeit ansieht, stößt man dort auf die Feststellung, dass Roboter das exakte Äquivalent der Sklavenarbeit sind. Dann wird einem klar, warum alle Stimmen in Maschinen immer Frauenstimmen sind: Weil Frauen früher eben diese Jobs gemacht haben.

Ich habe in spekulativem Denken zirkuläre Bewegungen festgestellt, Bewegungen der Entdeckung bis zum Moment der Verwirklichung (oder auch nicht). Dann stirbt das Konzept, blendet aus, verliert seine Magie und fühlt sich ausgeleiert an. In bestimmten Fällen findet spekulatives Denken in völliger Isolation statt. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass solche Reisen ans Ende der Theorie unter völlig unzeitgenössischen Umständen stattfinden, auch wenn die Position des Eremiten nicht unbedingt freiwilig sein muss. Formen der Kritik, die einen bewegen, die nach neuen Sprachen und Ästhetiken suchen, könnten ein Ausweg sein. In welcher Beziehung stehen deiner Erfahrung nach Spekulation und Kritik?

Kodwo Eshun: Überall wird der Tod der Kritik sichtbar. Aber Kritik ist nicht gleich Kritik. Ich selbst fing damit an, Musik mit Kunst und Science Fiction zu kombinieren. Dann stellte ich fest, dass sie schon immer miteinander verknüpft waren und soziale Disziplinierungsapparate am Werk sind, um sie immer wieder zu separieren. Wenn man erst einmal festgestellt hat, dass diese Bereiche miteinander verknüpft sind, kann man mit dem Versuch aufhören, zwischen ihnen Brücken zu schlagen. Man hört auf, reaktiv zu sein und dann werden Ausmaße wichtiger als Analogien und Metaphern. Denk zum Beispiel an das seltsame rechteckige Material in einer neuen Arbeit von Art+Com aus Berlin. Oder den Typographen David Carson mit seinen gigantischen Wortobjekten, die diese verdrehten 3D-Formen haben. Ich mag auch die Hyperarchitektur von Lars Spuybroek und ihre nichtlineare Geometrie. Die digitalen Künstler, mit denen ich gearbeitet habe, versuchen alle die Psychogeographie zu verstehen, also etwa die Frage, was Computernetze für die Frage von Örtlichkeit und Topologie bedeuten.

Dann sind Konzepte nicht mehr nur bloße Ideen, Ideologien oder Moden, sondern schaffen eine Funktionalität.

Kodwo Eshun: Mir ist aufgefallen, wie viele Neologismen in Hyperarchtektur benutzt werden. William Gibson hat die Idee formuliert, dass der Neologismus der ursprüngliche Akt von Pop-Poesie ist. Es ist die erste Phase der Konzeptmanufaktur, die auf einer immanenten Analyse der Formen des Mediums basiert, in dem man sich bewegt. Weil das Medium sich in einem permanenten Prozess der Veränderung befindet, übt es Druck auf deine Sprache aus.

Die Experimente mit Internetradio und der Erfolg von MP3 basieren auf Distribution, nicht auf Produktion. Wie könnte man sich vernetzte Musik vorstellen? Die meisten Musiker scheinen immer noch unter den Bedingungen von Bach und Mozart zu arbeiten. Sie benehmen sich wie ein individuelles Genie, komponieren offline und lassen das Ergebnis dann ins Netz fallen. Können wir uns eine Musik vorstellen, die innerhalb der Netze produziert wird?

Kodwo Eshun: Irgendwann werden wir vielleicht eine Musik hören, die den Klang des Netzes verstärkt. Bald werden wir Zeugen eines immanenten Netzsounds werden, der sowohl im Netz produziert als auch dort verbreitet wird. Ich bin erst 1998 online gegangen und habe diese Verspätung zu einem Vorteil gemacht. Die alten Medien lieben den Netz-Backlash, der im Augenblick stattfindet. Alle erliegen jetzt aber der Faszination, die Idee zurückzuweisen, eben nicht mehr online zu sein, und stattdessen zurück auf der Straße, auf Drogen und Sex. Im Radar dieser Faszination könnte eine netzbasierte Musik entstehen. Sowohl der Boom- als auch der Doom-Aspekt des Netzes sind vorbei. Wenn beide erst einmal wirklich kollabieren, werden wir etwas Neues sehen. Im Augenblick nehme ich aber noch eine Lücke wahr, denn das ist noch nicht passiert. Netztheoretiker erhoffen sich zuviel von MP3, aber es passiert nichts. Akustische Evolutionen passieren erst, wenn Leute Sachen aufgeben. Als man Breakbeats aufgab, wurde Drum'n'Bass möglich, ohne dass das jemand bemerkt hätte. HipHop ist tot - und dann werden plötzlich extreme Mutationen möglich.

Übersetzung: Ulrich Gutmair