Moralität ist ein Produkt der Evolution

Der Hirnforscher Steven Pinker im Interview über den Sprachinstinkt und andere Erbschaften

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Nach dem Wissenschaftler Steven Pinker werden wir alle mit einem Organ geboren, das uns fehlerlos sprechen lässt. Ein anderes Organ ist für ihn verantwortlich für moralisches Verhalten. Wenn etwas falsch läuft - und das ist außergewöhnlich -, dann verdankt sich dies genetischen Störungen.

Am Ende des Jahres 2000 war Steven Pinker einer der 1200 Professoren, die von Papst Johannes Paul II. eingeladen wurden, am Welttreffen der Universitätsprofessoren in Rom teilzunehmen. Es war das erste Mal, dass sich der Vatikan mit einem großen Aufruf an die akademische Welt wandte, um Ideen über den Stand der wissenschaftlichen Forschung und die Zukunft der Seele auszutauschen. Im Hinblick auf das Heilige Jahr - das 2000jährige Jubiläum - wurden an die 60 Konferenzen in Rom, Bologna und dem Mittleren Osten organisiert. Unter den Teilnehmern befanden sich 8 Nobelpreisträger, beispielsweise J. D. Watson, einer der Entdecker der DNA. Der Papst beharrte darauf, dass die neuesten Entwicklungen im Bereich der Gehirnforschung in den Auditorien des Vatikan vorgestellt werden sollten. Daher fanden hier zwei Konferenzen statt: "Die frühe menschliche Entwicklung" über die pränatale Gehirnforschung sowie "Architekturen des Geistes, Architekturen des Gehirns". Bei letzterer war der amerikanische Forscher Steven Pinker einer der Hauptredner.

Steven Pinker ist der Autor der Bestseller "Der Sprachinstinkt" (1994), "Wie das Denken im Kopf entsteht (1997) und "Wörter und Regeln" (1999). Seine Forschung am McDonnell-Pew Center for Cognitive Neuroscience des MIT in Cambridge, Mass., konzentriert sich auch die Mechanismen in unserem Gehirn, die sicherstellen, dass wir uns die meiste Zeit und ohne größere Probleme zu sozialen und kommunikativen Lebewesen entwickeln. Er veröffentlicht seine Ideen in erfolgreichen populärwissenschaftlichen Büchern, in denen er jüdischen Humor mit ziemlich technischen Themen verbindet. Die Theorien von Steven Pinker sind faszinierend, vor allem aber einflussreich, weil er ein hohes Ansehen, ein extrem gutes Marketing und weltweite Präsenz durch endlose akademische Publikationen, Vorträge, Interviews, Medienberichte und Beratungsjobs genießt.

In der Aula Vecchia des Sinodo hielt Pinker einen Vortrag über "Wörter und Regeln im Geist und im Gehirn". Ein Vortrag mit vielen Anekdoten, der irgendwie zwischen einem wissenschaftlichen Bericht und einer Werbung für sein Buch mit demselben Titel rangierte. Während die Aula nach seinem Vortrag sich leerte, konnten wir mit dem umstrittenen Wissenschaftler und Autor sprechen, der die persönliche Herausforderung in seiner Forschung so beschreibt: "Ich will die Orte in unserem Gehirn finden, wo die grammatikalischen Berechnungen stattfinden, wo wir zwei Teile eines Wortes zusammenfügen, um ein längeres Wort in einer Reihe von Worten zu bilden damit ein Satz entsteht. Und wie dies mit der Bedeutung verbunden ist. Welche Kommunikationsprozesse im Gehirn sind verantwortlich für die Umsetzung einer Vorstellung in eine Reihe von Worten?"

Wir werden für Sie mit einem Sprachorgan geboren. Wie müssen wir uns solch ein Organ vorstellen?

Steven Pinker: Das Sprachorgan ist nicht wie ein einzelnes Ding. Es gleicht eher Systemen und Subsystemen, die differenziert, aber nicht isoliert sind, so wie der Körper Blut hat, das in ihm zirkuliert und alle Gewebe durchdringt. Blut unterscheidet sich vom Herz oder von Magensäften. Manche biologischen Lehrbücher nennen Blut ein Organ. Aber man kann keine gepunktete Linie um das Blut ziehen, da es sich nicht an einem Ort befindet. Im Geist gibt es auch solche differenzierten Teile und Systeme, er ist keineswegs so homogen wie ein Hackbraten.

Also kann man Ihr Sprachorgan nicht wirklich mit einer Leber oder einer Niere vergleichen?

Steven Pinker: Naja, man könnte schon. Denken Sie daran, dass unser Herz mit den Lungen interagiert, dass Blut mit dem Herzen und den Lungen interagiert. Auch in unserem Gehirn haben wir wahrscheinlich eine sehr komplizierte Struktur, wo es manche Dinge gibt, die wie Organe sind, und manche, die wie Gewebe sind. Entscheidend ist einfach, dass unser Sprachorgan eine differenzierte und spezialisierte Menge von Strukturen ist. Es ist kein einzelnes Ding.

Manche Bereiche in unserem Gehirn sind mit der Sprache, aber auch mit anderen kognitiven Funktionen verbunden.

Steven Pinker: Das ist manchen so, bei manchen aber auch nicht.

Ist es aber dann nicht ein bisschen wagemutig, den Schluss zu ziehen, dass wir ein bestimmtes Sprachorgan besitzen? Oder eine spezifische Funktion bestimmten "Modulen" zuzuschreiben?

Steven Pinker: Ich denke, man kann die Funktionen identifizieren, aber diese Funktionen interagieren miteinander. Daher kann man wieder eine Analogie mit dem Körper herstellen. Das Herz hat ganz deutlich eine Funktion, die von der der Lungen verschieden ist. Aber das bedeutet nicht, dass Herz und Lungen durch Mauern voneinander getrennt sind. Sie haben Funktionen, aber die Funktionen interagieren miteinander.

Aber es gibt große Unterschiede beispielsweise zwischen dem Japanischen und dem Holländischen. Und die Kinder von japanischen Eltern können holländisch lernen. Was ist also angeboren und was wird erlernt?

Steven Pinker: Die Organisation neurologischer Teile sorgt für die Möglichkeit, auf bestimmte Weise lernen zu können. Das ist etwas Angeborenes, das durch die Gene festgelegt ist. Nicht das Verhalten selbst wird durch die Gene bestimmt, sondern die Lernmechanismen in einem bestimmten Bereich. Wir werden also nicht mit der Fähigkeit geboren, Englisch zu lernen, sondern mit Mechanismen, um eine Sprache zu lernen. Manche Gene sind für die Grammatik, für Probleme, die spezifisch für die Sprache sind und keine Gegenstücke besitzen, die mit Musik zu tun haben. Ich weiß, diese Theorie ist ein Angriff auf die tiefverwurzelte Vorstellung, dass das Gehirn ein Lernwerkzeug mit einem allgemeinem Zweck ist, eine Leere, die der Interaktion mit der Umelt vorangeht.

Wenn es Gene für die Grammatik gibt, was machen die?

Steven Pinker: Sie bilden ein grammatikalisches Organ, wie Chomsky sagte. Für die meisten Menschen ist diese Vorstellung so absurd oder unsinnig wie die vorher besprochene. Seh- und Handlungsvermögen, Gemeinsinn und Gewalt, Moralität und Liebe sind für ein intelligentes Wesen keine Zufälligkeiten, sondern natürliche Bestandteile. Jedes ist ein "tour de force", das Ergebnis eines gut gemachten Designs. Hinter den Wänden unseres Bewusstseins muss es eine fantastisch komplexe Maschinerie geben: optische Analyse, Systeme, die für die Bewegung zuständig sind, Simulationen der Welt, Datenbanken mit Menschen und Gegenständen, fokussierte Programme, Konfliktlösungen und vieles andere mehr. Jede Erklärung, wie das Gehirn funktioniert, die auf eine übergeordnete Kraft oder Intelligenz hinweist, die wie Kultur, Lernen oder Selbstorganisation für Nektar sorgt, beginnt sehr hohl zu erscheinen.

Warum?

Steven Pinker: Die Sprachen unterscheiden sich, aber sie haben viele gemeinsamen Eigenschaften. Das kann nur durch angeborene Lernmechanismen erklärt werden. Viele Forschungsergebnisse deuten in diese Richtung. Meine eigene Forschung mit Kindern, mit eineiigen Zwillingen, die getrennt aufgewachsen sind, oder über Gehirnstörungen und damit verbundene Sprachprobleme deutet in dieselbe Richtung.

Was mich am meisten beeindruckt, ist das Problem der Roboter. Alle von KI-Wissenschaftlern geschriebenen Programme sind für einen bestimmten Zweck wie das Sehen, Sprache oder Bewegung erstellt worden. Niemand wird einen menschenähnlichen Roboter schaffen können, wenn er nicht mit unterschiedlichen Rechensystemen ausgestattet ist, die spezifisch für bestimmte Probleme entwickelt wurden. Eine großes Thema meiner Bücher "Wie das Denken im Kopf entsteht" und "Der Sprachinstinkt" ist der Umstand, dass Dinge, die wir als gegeben akzeptieren und die wir können, wie beispielsweise Farben zu sehen, einen Stift in die Hand zu nehmen oder einen Satz zu verstehen, bemerkenswert komplex sind. Man wird noch einen langen Weg gehen müssen, um zu Computersystemen zu kommen, die das so gut können wie ein durchschnittlicher Mensch. Wir sind uns nicht bewusst, was wir tun, weil dies automatisch geschieht. Aber wenn man versucht, das zu analysieren oder in einer Maschine nachzubauen, dann erkennt man zum ersten Mal, welche Komplexität hier vorliegt.

Welche Bedeutung haben für Sie die soziale Umwelt und das Feedback?

Steven Pinker: Das kommt darauf an. Zu wissen, dass Feedback eine Rolle spielt, erklärt noch nicht viel. Man kann sich unter Feedback ein computerisiertes Feedback vorstellen. Die Frage ist, was das Wesen des Feedbacks ist. Wir wissen, dass die Eltern an einem bestimmten Punkt kein Feedback im Hinblick auf die formalen Aspekte der Sprache, auf die Grammataik geben. In der Schule achten die Lehrer auf den Unterschied zwischen dem standardisierten und dem nicht-standardisierten Dialekt, zwischen "ain't" und "isn't" oder "them boys" und "those boys". Normalerweise gibt es zwei Dialektformen. Der eine ist mit der Unterschicht, der andere mit der Mittel- und Oberschicht verbunden. Die Lehrer werden das korrigieren, weil es Zeichen der Schichtzugehörigkeit sind. Doch die überwiegende Zahl von Fehlern, die Kinder spontan beim Reden machen, werden nicht verbessert. Die Eltern konzentrieren sich auf den Inhalt und nicht auf die Form des von den Kindern Gesagten. Wenn sie etwas sagen, das unhöflich ist oder ganz falsch ist, dann werden sie dies verbessern. Aber wenn ein Kind so etwas sagt wie "er hat es gedenkt" oder "ich werde dir ein Bild schreiben", was grammatikalisch falsch ist, dann werden dies die Eltern nicht verbessern. In Ausnahmefällen schon, aber nicht jedes Mal, weil man sonst die Kinder jedes Mal verbessern müsste, wenn sie den Mund aufmachen.

Aber das ist genau das, was man macht. Spracherwerb ist eine niemals endende Geschichte für die Eltern und Kinder. Ich korrigiere meine Kinder immer auch auf der formalen Ebene der Sprache, und die sind 8 und 9 Jahre alt.

Steven Pinker: Sie schreiben sich das aber nicht auf, daher wissen Sie auch nicht, wie oft Sie dies machen. Als Ihre Kinder zwei Jahre alt waren, war alles, was sie gesagt haben, grammatikalisch nicht richtig. Wenn sie sagten: "Ich will Keks", dann haben Sie sie nicht korrigiert, auch dann nicht, wenn sie das Subjekt des Satzes ausgelassen haben.

Man muss den Satz nicht jedes Mal wiederholen, aber man kann beispielsweise auch antworten: Willst DU einen Keks? Man antwortet in ganzen Sätzen und die Betonung gibt Hinweise, die sie dann wieder imitieren. Das ist das Feedback, das zu einem richtigen Sprachgebrauch führt. Haben Sie Kinder?

Steven Pinker: Nein, aber es gibt Untersuchungen, bei denen gezählt wurde, wie oft Eltern etwas korrigiert haben. Sie zeigen, dass die Korrekturen sich nicht auf grammatikalische Mängel beziehen.

Wie steht es um das Feedback, das sie von ihren Altersgenossen bekommen? Von ihren Freunden?

Steven Pinker: Ich glaube nicht. Sie mögen vielleicht an eine Anekdote denken, aber wenn man wirklich über lange Aufzeichnungen schaut, dann gibt es dort, wie ich glaube, keine Anzeichen dafür. Und selbst wenn man etwas finden würde, dann würde sich das sicher von Kind zu Kind unterscheiden, obgleich wir alle schließlich dieselbe Sprache sprechen, so dass dies nicht entscheidend sein kann. Sonst würde es Menschen geben, bei denen andere Kinder nicht ihre Fehler korrigiert haben und die eine andere Sprache sprechen würden.

Aber die Tatsache, dass wir dieselbe Sprache sprechen, kann doch auch ein Beweis dafür sein, dass das Feedback der sozialen Umwelt meist ziemlich gut funktioniert.

Steven Pinker: Ja, aber das ist ein anderes Thema. Die Frage ist: Von wem lernt man? Ich glaube, die Kinder schenken ihren Altersgenossen mehr Aufmerksamkeit. Aber das ist etwas anderes als die Frage, ob die Gleichaltrigen auch ein grammatikalisches Feedback geben. Die Kindern lernen von den anderen Kindern, aber dabei handelt es sich um einzelne verbale Äußerungen, die diese machen, aber nicht um ein korrigierendes Feedback au ihre eigenen Äußerungen. Das sind zwei unterschiedliche Dinge.

Aber gehen die nicht zusammen?

Steven Pinker: Nicht notwendigerweise. Die Sprache wird zur Kommunikation gebraucht. Wir verbringen normalerweise nicht unsere Zeit damit, anderen Menschen die Sprache zu lehren, sondern wir benutzen sie als ein Mittel für einen Zweck, für die Koordinierung von Verhaltensweisen. Daher geht das nicht notwendigerweise zusammen.

Nach Ihrem neuesten Buch "Wörter und Regeln" kategorisieren wir. In diesem Sinn gehören für Sie die unregelmäßigen Verben zum Lexikon, die regelmäßigen aber in die Grammatik.

Steven Pinker: Bei beiden geht es um die Kategorisierung, aber um verschiedene Ziele. Das eine ist eine Kategorisierung durch eine Regel, das andere eine Kategorisierung durch eine Menge von ähnlichen Fällen. Der menschliche Geist verfügt über diese beiden unterschiedlichen Arten der Kategorisierung von Dingen.

Schauen wir doch einmal, wie Sie Großmütter kategorisieren. Hier gibt es zwei unterschiedliche Möglichkeiten. Die eine basiert auf der Genealogie, da eine Großmutter die Mutter eines Elternteils ist. Die andere erfolgt durch Stereotypen, die auf die meisten Großmütter zutreffen, obgleich sie sehr unterschiedlich sein können. Beispielsweise ist Tina Turner eine Großmutter, aber man denkt nicht an sie, wenn man an eine Großmutter denkt. Sie passt nicht in das Stereotyp. Vielleicht wird sie das in 20 Jahren, oder vielleicht werden dann auch ale Großmütter wie Tina Turner aussehen, was noch besser wäre. Aber man assoziiert Großmütter eher mit weißen Haaren, Schürzen und Muffins. Aber das sind die zwei Weisen, in denen der menschliche Geist kategorisiert und die den regelmäßigen und unregelmäßigen gleichen.

Unregelmäßige Verben gehören zu Stereotypen - fling flung, sting stung -, weswegen wir spling splung zur Antwort bekommen, wenn wir Menschen nach der Vergangenheitsform eines unsinnigen Wortes wie spling fragen. Das passt zur Stereotype. Die regelmäßigen Verben hingegen hängen von einer Regel ab. Genau wie der Begriff einer Großmutter dadurch definiert ist, dass sie die Mutter eines Elternteils ist, ist jedes Verb, das keine im Gedächtnis abgespeicherte Form besitzt, unregelmäßig. Selbst wenn es einem unregelmäßigen Verb ähnlich ist, so ist es regelmäßig, weil es der Regel gehorcht.

Für viele der Argumente, die Sie als Beleg für Ihren "Spracheninstinkt" und Ihren "Spracherwerb" anführen, gibt es ebenso viele Gegenargumente.

Steven Pinker: Na klar. Und sie können aus vielen Richtungen kommen, aber sie müssen zeigen, was ich für unterschiedliche Sprachen demonstriert habe, nämlich bei ihnen das Phänomen nicht vorkommt. Ich habe über Menschen mit Hirnschädigungen gesprochen, aber vielleicht sind das ungewöhnliche Patienten. Vielleicht findet man Patienten, die völlig unterschiedliche Eigenschaften besitzen.

Deswegen haben Sie solange Recht, bis Sie widerlegt werden.

Steven Pinker: Jede wissenschaftliche Theorie kann überholt werden.

Sie haben eine Menge an Kritik und heftiger Reaktion aufgrund von Ihrem mechanistischen Verständnis des menschlichen Geistes erfahren. Ist der Grund, dass viele Menschen nicht die Komplexität verstehen? Oder wollen sie den Geist einfach mystifizieren?

Steven Pinker: Ich glaube, es gibt hier eine Kombination von Gründen. Ein Grund ist vielleicht der Wunsch nach Unsterblichkeit. Wenn es nicht so etwas wie eine Seele oder das, was wir eine Seele nennen, dann gibt es nur Abläufe im Gehirn. Wenn das Gehirn stirbt, dann existieren wir nicht mehr. Die Menschen mögen das nicht.

Ein anderer Grund ist, dass Manche denken, die Seele sei der Sitz der Verantwortung und werde in der nächsten Welt bestraft oder wegen der guten Taten belohnt. Wenn es keine Seele gäbe, dann würden die Menschen einfach böse Taten begehen können. Oder die Menschen glauben, dass die Seele einen göttlichen Zweck im Leben besitzt, um Gutes zu tun oder Wissen zu suchen. Gäbe es keine Seele, dann habe das Leben keinen Sinn und keine Bedeutung. Ich glaube, es stimmt, dass wir dann, wenn unser Gehirn stirbt, nicht mehr existieren. Wir sind sterblich.

Wir sind sterblich, also hätten wir genau so gut gar nicht geboren werden müssen.

Steven Pinker: Ja, das stimmt. Es ist nicht notwendigerweise schlecht, dies zu erkennen, aber es ist gut zu verstehen, dass das Leben auf der Erde endlich ist und dass es besser ist, in jedem Augenblick das Beste zu machen. Im Hinblick auf die moralische Verantwortlichkeit der Seele sehe ich nicht, warum wir nicht sagen könnten, dass wir mit einem moralischen Gefühl ausgestattet sind, das wir erweitern und das wir anderen zusprechen können, um Menschen für ihre Taten verantwortlich zu machen. Selbst wenn sie von ihren körperlichen Gehirnen verursacht werden, kann das Gehirn auf Belohnung und Bestrafung, auf Anerkennung, Argumente, moralische Überlegungen, Scham oder Wertschätzung reagieren. Und selbst wenn das Gehirn ein mechanisches System ist, können wir noch immer Moral und Ethik beachten und Menschen zur Verantwortung.

Wir können allerdings während der ganzen Geschichte sehen, dass es immer Religion und Philosophie als Mittel und manchmal auch als Zwangsmittel gegeben hat, mit dem Guten und Bösen umzugehen. Die Biologie wird sicher viel erklären können, aber sie wird beispielsweise nicht unser Bedürfnis nach Philosophie auslöschen können.

Steven Pinker: Wir denken nicht immer an neuronale Ursachen, wenn wir moralische Entscheidungen treffen. Wir setzen den freien Willen strikt gegen die Ansicht mancher Philosophen, die Verantwortung nur utilitaristisch verstehen. Wenn man über Moral so denkt wie über die Wahrnehmung von Farben, wenn man sie im Gegensatz zu etwas, das eine äußere Existenz besitzt, als evolutionären Kringel versteht, dann wird das Problem des freien Willens verschwinden. Wenn man glaubt, dass die Dinge an sich gut oder böse sind, unabhängig davon, ob sie unser Gehirn als richtig oder falsch versteht, dann kehrt das Problem zurück. Genauso wie Bewusstsein hat auch der freie Wille in der Moral einen Kern, der bislang ein Geheimnis geblieben ist. Es gibt eine Psychologie der Moralität und eine Evolutionsbiologie der Moral. Das ist beim freien Willen und beim Bewusstsein so. Im Falle des freien Willens sind die einfachen Fragen auf die Gehirnstrukturen gerichtet, die ein willentliches Verhalten oder einen Gedankenfluss initiieren. Welche berechenbaren Eigenschaften können wir ihnen zuschreiben? Und im evolutionären Sinn. Warum ist das Gehirn so und nicht anders organisiert? Das Hauptproblem ist, wie wir diese Tatsache mit der Tatsache verbinden können, dass willentliches Verhalten nicht verursacht, sondern gewählt wird? Und ist dies genau der Grund, warum wir Menschen zur Verantwortung ziehen können?

Fraglich bei der Genforschung und der Vererbungstheorie bleibt, dass Menschen ausgeschlossen werden, wenn sehr früh ein genetischer Fehler entdeckt werden sollte.

Steven Pinker: Da stimme ich nicht überein, denn ich glaube, dass man denselben Fatalismus haben kann, wenn man behauptet, dass die Grundlage der Persönlichkeit, die man sein wird, während der ersten drei Jahre gelegt wird. Selbst wenn wir das menschliche Genom kennen, gibt es dort eine Menge offener Programme, die es uns ermöglichen, als autonome Wesen zu handeln. Wenn man die Frage stellt, ab welchem Zeitpunkt etwas als Störung klassifiziert werden kann, dann würde ich sagen, von dem Zeitpunkt an, an dem der Betroffene zu leiden beginnt und er es sich wünscht, das nicht zu haben. Das würde eine Möglichkeit sein, eine Grenze zu ziehen. Das stünde im Gegensatz zu einer bloßen Exzentrizität oder zu einer Präferenz. Die Homosexualität ist ein gutes Beispiel. Aus einer bestimmten Evolutionsperspektive ist sie eine Störung, aber aus der Perspektive unserer Medizin, unserer Psychiatrie und unseres Rechtspolitik sollte sie nicht so behandelt werden, dass die Menschen unter ihr leiden und sich deswegen verändern wollen.

Aber hat nicht das große Tabu vor der Homosexualität dazu geführt, dass schwule und lesbische Menschen eine schwere Zeit hatten? Sexuelle Orientierung hat damit solche nichts zu tun. Wir können nicht wirklich von einer Störung wie bei Alzheimer oder beim Autismus sprechen.

Steven Pinker: In einem strengen evolutionären Sinn ist sie eine Störung.

Nur wenn man Fortpflanzung als Bedingung für sexuelles Verhalten annimmt. Sonst nicht. Aber moralisches Verhalten ist für Sie auch ein Produkt der Evolution. Wir können wir Ihren moralischen Instinkt mit dem meinen abstimmen?

Steven Pinker: Moralität ist ohne Zweifel das Produkt der Evolution. Und wenn dies der Ursprung der Moralität ist, dann müssen wir herausbekommen, was man tun soll, indem wir untereinander darüber diskutieren, was wir mit diesen Intuitionen anfangen, anstatt eine Moral von einer Lehre zu erhalten, die durch einen Glauben begründet ist.

Wir werden unweigerlich zu einer Art "Erklärung der Moral" gelangen, die von einer Gruppe von Menschen verfasst wird. Wie lässt sich vermeiden, dass man hier wieder in einer Art Lehre landet?

Steven Pinker: In gewisser Weise wird dies so geschehen - wie bei der Goldenen Regel, die von verschiedenen Gruppen diskutiert wurde. Wenn wir uns Moralität als eine Kombination von Intuitionen vorstellen, die Teil unseres Gehirns sind, dann macht eine solche eingeborene Logik der Moralität keinen Sinn, wenn sie impliziert, dass die auf Sie bezogene Moralität derjenigen entgegengesetzt wäre, die vielleicht auf mich bezogen ist. Es ist unweigerlich so, dass wir zu einer universalen Moral gelangen.

Wie können Sie wissen, dass wir mit einem moralischen System auf die Welt kommen?

Steven Pinker: Indem ich Menschen beobachte, die keines besitzen, also Menschen mit antisozialen Störungen, die manchmal Schädigungen an bestimmten Teilen des Gehirns haben: im Vorderhirn. Indem ich die Leistungen des moralischen Sinns oder die Sprachprobleme beobachte, die bei eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwachsen, aufgrund der Gene zwar nicht identisch, aber ähnlich zu sein scheinen. Indem man verschiedene Arten und verschiedene Grade des Einfühlens und der Großzügigkeit vergleicht.

Glauben Sie, dass moralische Störungen korrigiert werden können, wenn man in einer sozialen Umwelt aufwächst, die sehr offen und großzügig ist?

Steven Pinker: Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das wissen wir einfach nicht. Es gibt nicht viele Hinweise, dass dies möglich ist. Soziopathen sind schon als Kinder grausam und herzlos. Wenn man sie durch irgendeine Art des Trainings aus dem herausholen kann, ist eine interessante Frage. Das aber müsste erst entwickelt werden.

Was bedeutet es für Sie, ein Teilnehmer einer Konferenz im Vatikan zu sein, einmal davon abgesehen, dass Sie deswegen die Sixtinische Kapelle exklusiv besichtigen konnten?

Steven Pinker: Was mich unmittelbar faszinierte, war die einzigartige Möglichkeit, nach Rom zu kommen und all die Schönheit dieser Stadt, ihren geschichtlichen Wert, den Vatikan und die Sixtinische Kapelle sehen zu können, aber es gibt auch eine andere Verbindung, an der ich interessiert bin, nämlich ob die Ergebnisse der Neurowissenschaft, der Kognitionswissenschaft und der Evolutionspsychologie einige der herkömmlichen Grundlagen der Kognition, die mit der Religion verbunden sind, in Frage stellen. Man kann hier eine Art Revolution beobachten Am ersten Tag der Konferenz erzählte ein Sprecher des Vatikans, wie Wissenschaft und Glaube zwei unterschiedliche Formen des Wissens sind, die einander nicht widersprechen. Es sei eine Frage, wie man sie versöhnen könne. Ich denke, das ist eine schöne Überzeugung, aber ich weiß nicht, ob sie stimmt. Wenn die allgemeine Glaubenslehre davon ausgeht, dass eine nichtmaterielle Substanz der Moral zugrunde liegt, dann kann das Individuum für seine Entscheidungen verantwortlich gemacht werden. Aber wenn dann Menschen auf einer Konferenz wie dieser herausfinden, dass es sich um einen Schaltkreis im präfrontalen Cortex handelt, dass es ein Netzwerk von Neuronen ist, dann sind diese Vorstellungen nicht so leicht zu versöhnen. Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Theorien der Kosmologie, in dem die Lehre von der Seele durch die Wissenschaft in Frage gestellt werden.