Skandale als medialer Politikersatzstoff

Skinheads, Reichsnährstandsindeologie oder Surrogat des Politischen

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Vielleicht beginnt die unaufhaltsame Karriere des politischen Skandals mit Sokrates, der die Jugend seiner Zeit mit staatsgefährdenden Sprüchen verführt haben soll und für diese Verfehlung den Schierlingsbecher trinken musste. Was sich aber damals als Normabweichung des Gemeinwesens darstellte, empfiehlt sich inzwischen als Norm des Politischen.

Für die einen ist es ein Skandal, Hunderttausende Rinder zu schlachten, Stammzellen zu klonen, Spenden schwarz zu verbuchen, Rentenversprechen zu verraten, öffentlich finanzierte Luxus- und Privatreisen zu buchen, als Außenminister in juvenilen Straßenkämpfertagen Polizisten verprügelt zu haben, Verbrecherplakate des Kanzlers anzufertigen, politische Gegner mit (neo)nazistischem Gedankenleergut zwischen Skinheads und "Reichsnährstandsideologie" zu kontaminieren. Andere mögen das nicht für skandalfähig halten - und das wird wiederum für jene zum größten Skandal. Politische Themen, die nicht skandalfähig sind, sind unter den medialen Prämissen von Aufmerksamkeitsjägern besonders skandalös, auch wenn es skandalös wäre, das zuzugeben. Aber ist es nicht hyperskandalös, wenn Skandale inzwischen das Politische als amoralische Dauererzählung entlarven und entwerten? Wie auch immer - die politische Welt scheint also inzwischen alles zu sein, was der Skandal ist.

Paradoxe des Skandals

Aber zwischen echter Betroffenheit und Hypokrisie, die in der Hitze der Medienerregung zerlaufen, liegen erhebliche Paradoxe für Moralfundamentalisten aller couleur: Als etwa der "Rentenbetrug" mit Hilfe von Verbrecherkarteifotos plakativ kriminalisiert wurde, geriet der entfesselte Moraldiskurs schnell zum unfreiwilligen Rollentausch. Aus Anklägern wurden Angeklagte, aus Ermittlungsorganen der Demokratie Verdächtige. Die schnelle Einsicht in die politische Eselei verdankten die attackierten Angreifer dann aber angeblich nicht etwa dem zornigen politischen Gegner, sondern – wie CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer feststellte – der hohen Moral der eigenen Wähler.

Nun wurde der Generalsekretär selbst zum Opfer. Jürgen Trittin hatte Meyer in einem Interview die Mentalität eines Skinheads bescheinigt, weil dieser wie jene Schläger stolz darauf sei, eine Deutscher zu sein. Die CDU/CSU-Fraktion beantragte daraufhin im Bundestag, Bundesminister Trittin zu entlassen, weil er "mit seinen diffamierenden öffentlichen Äußerungen gegenüber dem Generalsekretär der CDU Deutschlands, Laurenz Meyer, die Gemeinsamkeit der Demokraten verlassen" habe.

Der Bumerang politischer Angriffe jenseits der Harmonie der Demokraten schlägt regelmäßig Angreifern wie Verteidigern gleichermaßen um die Ohren. Trittins moralinbitterböse Äußerung gegen CDU-Generalsekretär Meyer, die angeblich dessen "Deutschtümelei" treffen wollte, verkehrt sich zur unfreiwilligen Wahlwerbung des Grünen für den Christdemokraten, weil eine so törichte Kritik zur politischen Überlebensfrage für den Kritiker wird.

Politik im Medienformat des Skandals vollzieht sich parteiübergreifend und mit gleichen Waffen. Verglich der bayerische Regierungschef Stoiber noch gerade die Politik der Landwirtschaftsministerin Künast mit der natinonalsozialistischen Agrarpolitik, hat er sich jetzt den Verdacht zugezogen, er habe als Bundesratspräsident Luxus- statt Charterflüge gebucht. Der nationalsozialistische Unrechtsstaat ist seit Anbeginn der Republik die Negativfolie bundesrepublikanischen Politikverständnisses. In solchen Vergleichen läge aber die ultima ratio der moralischen Vernichtung des Gegners, wenn nicht die Keule aus der braunen Stammesgeschichte so viele hässliche Widerhaken auch für den Verwender bergen würde. Thierse bezeichnete Trittins Angriff als "bösen Ausrutscher", da sich insbesondere die Parteien im Parlament darauf geeinigt hätten, Vergleiche mit den braunen Terror zu unterlassen.

Die neue Übersichtlichkeit

Je mehr "Komplexität" in politischen Systemen verarbeitet werden muss, je unübersichtlicher die Verhältnisse werden, desto mehr bieten sich Skandale als letzte kognitive Bastionen der Welterschließung an. Skandale geben einer durch immer neue Krisenexplosionen verunsicherten Öffentlichkeit den Lebenssaft zurück, den sie in unendlichen Rückgriffen auf eine bessere Welt, die sich partout und parteiprogrammswidrig nicht einstellen will, verloren hat. Die vormals hoffnungsfrohen Prospekte einer doppelt und dreifach reflektierten Aufklärung, Politik sei zumindest im konsensorientierten Gespräch der Öffentlichkeit rationalisierbar, scheitern am Chaos der Verhältnisse, vulgo: an einer Expertokratie, die nicht nur die informationelle Selbstbestimmung des Bürgers restlos überfordert, sondern zugleich selbst hoffnungslos überfordert ist, neue Heilswege zu beschreiten.

Wird Politik nicht zunehmend auf das Reservat beschieden, das entscheiden zu müssen, was - mit Heinz Förster gesprochen - eben nicht zu entscheiden ist? Politik wäre danach "die Kunst des Unmöglichen", da zu handeln, wo alle Hoffnung auf kognitive oder sonst rationalisierbare Entscheidungskriterien vergeblich sind. Wenn Risikofolgenabschätzungen und wissenschaftliche Politikberatung, Bioethikkommissionen oder ökologische Prognostik versagen, muss gleichwohl eine Entscheidung her, die vielleicht auch der Zufall treffen könnte, wenn nicht allein das Ritual des politischen Verfahrens ungleich mehr Vertrauen bei Wählern auslösen würde.

Vermag der Wähler sich in Sachfragen nicht mehr zu orientieren, werden etwa Rentenformeln zum mathematischen Verwirrspiel, das jedem Laienverständnis spottet, wird Moral zum kostengünstigen Methadonprogramm der Demokratie. Löst sich die politische Trennschärfe zwischen Parteien nicht nur im trüben Blick des Wählers auf, wird der Disput als moralische Veranstaltung umso wohlfeiler, je massiver sich der ungeheuerliche Verdacht aufdrängt, dass sich der partizipatorische Gehalt von Demokratien auflösen könnte.

In dieser Stunde eines kränkelnden Demokratieselbstverständnisses wird der Skandal zur Maul- und Medienseuche einer nachtragenden Öffentlichkeit, die den Schaum vor dem Mund als Ausweis moralischer Betroffenheit so ernst nimmt wie weiland der Hexenhammer die Teufelsmale. Und die bundesrepublikanische Skandalgesellschaft gewöhnt sich an das fröhliche Paradox, dass die vermeintlich diskursive Verarbeitung von Skandalen die emotionale Aufheizung der Öffentlichkeit nicht besänftigt, sondern erst richtig entfacht, um schließlich im Mediennirwana zu verpuffen.

Symbolische Politik

Politiker wissen aus ihrer Entscheidungsnot wie -armut eine Tugend zu machen und entdecken Murray Edelmann zufolge die symbolischen Möglichkeiten ihres Metiers. Diese Politiksorte inszeniert sich vor allem als Instrument des Machbaren und wer will schon entscheiden, was noch politische Wirklichkeitsgestaltung und was lediglich Glasur von fremddynamischen Kräften ist. Ob Kriege, Wiedervereinigung, BSE, therapeutisches Klonen etc. - das Verhältnis von politischer Tatkraft und aufgedrängtem Vollzug ist unter globalen Prämissen längst diffus geworden.

Wird Politik selbst von den Volksvertretern an Auguren abgetreten, schlägt die Stunde der moralischen Wiedergeburt des verunsicherten Bürgers im Skandal. Die "Minima Moralia" geben dem gutgläubigen Wähler die Politik als Fünf-Minuten-Terrine zurück, die gegenüber Regierungserklärungen, Parteiprogrammen, Gutachten oder Statistiken den unbestreitbaren Vorteil besitzt, des Bürgers Hunger auf Durchblick in schwierige Verhältnisse unmittelbar zu befriedigen.

Auch Jürgen Trittins Vergleich des CDU-Generalsekretärs mit den Skinheads beschert in seiner skandalösen Brisanz ein eindimensionales Politikmodell zum Anfassen und vor allem: Aufregen. Der oberste Umweltschützer kontaminiert den CDU-Generalsekretär mit einer fernseh- und radioaktiven Dosis, die in den Medien so lange verstrahlt werden kann, bis ihre Halbwertszeit die Medienprotagonisten eilig neuen Brennstoff suchen lässt. Wer wäre nicht in der Lage, Trittins unzulässigen Vergleich sofort zu verstehen? In der Metonymie der medialen Bildsprache erscheinen Skinheads ja vornehmlich im moralischen "punctum" von Springerstiefeln, Bomberjacken und Glatzen. Die Welt des Bösen wird vornehmlich "unterhalb der Gürtellinie" dargestellt und schon regiert die Logik eines einfachen Vexierspiels den von jeder Theorieschwere befreiten Politdiskurs.

Wir leben in einer politischen Konnotationskultur, einem Medienreich der Insignien, einer piktografischen Welt der kürzelhaften Vereinfachungen, die den Akklamations- oder Verwerfungsmodus im moralischen Schnellverfahren sicherstellen. So kommt es nicht von ungefähr, dass Trittin seine "Säbel-Blank-Attacke" auf den politischen Gegner zudem mit dem grotesken Hinweis auf die Glatze Meyers ritt. Seeing is believing - und so soll wohl der politische Kurzschluss des Rotgrünen einem bildgläubigen Publikum mindestens unterschwellig einleuchten. Auch der inzwischen abschwellende Bocksgesang, der von sämtlichen, eilig zusammen geklaubten Streetfigher-Fotos des juvenilen Fischer aus dem Familienalbum umrankt wurde, feierte sich in einer schneidigen Haudrauf-Rhetorik, die Inhalte lässig mit Emotionen überblendet.

Der Verlust des Politischen

Die hysterische Moralisierung der Berliner Republik ist gleichwohl mehr als irritierend, weil das Verhältnis von Politik und Moral die Geschichte einer Entzweiung ist. Politik ist kein Moralvollzug und Moral reicht nicht aus, politische Entscheidungen zu treffen. Schon gar nicht gibt es einen Rekurs auf eine universalistische Moral, die Politikern das Geschäft erleichtern würde, eine Letztinstanz anzurufen, die das Wahre, Gute und Machbare versöhnt. Machiavelli steht für die Spannung zwischen einer Staatsräson, die sich von moralischen Prinzipien freizeichnet und einer moralischen Prätention, die wiederum den höheren Zielen der Staatsräson dient.

Moralische Inszenierungen haben Politik in Verruf gebracht, amoralisches Handeln hinter der Fassadenmoral zu tarnen. Das wäre zwar aus übermoralischen Gründen - etwa der Wahrung von Gemeinwohlinteressen gegen Individualinteressen - nachvollziehbar, aber eine "amoralische Moral" oder wie Luhmann sagt, eine "höhere Amoralität", passt zum wenigsten zu den Einsinnigkeitsprofilen, die der Bürger glaubt, der Politik abverlangen zu dürfen.

Bürger mühen sich zumeist vergeblich, aber nachhaltig ab, hinter den symbolischen Inszenierungen die Moral von Politikern zu ermitteln, wenn es schon so schwer bis unmöglich erscheint, das moralische Potenzial der Politik selbst anzugeben. In ihrer medialen Aufbereitung werden Politiker folgerichtig zum skrupulösen Untersuchungsgegenstand einer moralisierenden Öffentlichkeit. Zugleich konterkarieren aber Medien die eigenen Ermittlungen, weil Aufmerksamkeitsgewinne wichtiger sind als medial-moralische Abschlussverfügungen. So mutierte etwa die Barschel-Affäre im Laufe der Untersuchungen zu einer Engholm-Affäre, was schließlich die moralischen Verstrickungen aber nicht auflöste, sondern je nach Tatsachenbewertung die moralischen Optionen weit offen hielt.

Mediale Inquisition

Der mediale Untersuchungsmodus nimmt die Form des Skandals an, was Politikkontrollen vordergründig erheblich einfacher macht, als etwa nach den strukturellen Wirkungen politischer Entscheidungen zu forschen. Wird der Politiker auf die moralische Schaubühne seiner televisonären Inszenierung gezwungen, leidet darunter seine strukturelle bzw. institutionelle Macht, die ihn zuvor vor der Einswerdung mit dem Wähler relativ schützte. Medien kennen keine Bannmeilen, sondern geben sich erst zufrieden, wenn ihren die porentiefe Introspektion politischer Physiognomien gelingt. Längst mutieren auch die klassischen Institutionen wie Parlamente, Ausschüsse oder Parteien unter dem moralisch-medialen Druck zu Bühnen, die populistische Inszenierungen vor ihre politische Arbeit stellen. Wenn die Kraft der Medialisierung so erheblich ist, Fakten zu generieren, die politische Stimmungen prägen, wird das politische Handeln zu einer sekundären Angelegenheit. Würde man nach einer Unmoral der Medien fahnden, wäre nicht das Ergebnis, das Medien einfach die Unwahrheit sagen, sondern sich ihre Bobachtungen von den abstrakten Wert- und Prioritätenkatalogen der Verfassung abwenden, um Politik zu personalisieren.

So wird also die Frage, ob ein Außenminister, der früher Polizisten geprügelt hat, noch tragbar ist, wichtiger als die Frage, welche Außenpolitik dieses Gemeinwesen verfolgt. Das ist fatal, weil so dräuende Probleme über die Moralisierung des Politikers marginalisiert und schließlich verdrängt werden können. Die mediale Codierung aller Informationen und Nachrichten in dem Schema Aufmerksamkeit/Nichtaufmerksamkeit avanciert gegenüber dem politischen Gestaltungswillen zum Supercode, dem sich Politiker beugen oder untergehen.

Surrogat des Politischen

Der Skandal wird zum Surrogat des Politischen, das sich seiner öffentlichen Wirksamkeit jenseits von Hysterie und Panik nicht mehr sicher sein darf. Stand die Ära Kohl vornehmlich für die politische Erfindung des "Aussitzens", droht die Ära Schröder sich zuvörderst dem politschen Ingenium der öffentlichen Erregung zu verschreiben. An der Ausgestaltung dieser medialen Richtlinienkompetenz arbeitet indes weniger der verfassungsrechtlich ermächtigte Kanzler höchstselbst, sondern Regierung und Opposition kooperieren hier in feindseligem Einverständnis.

Die Zusammenarbeit in der medialen Selbstinszenierung könnte für einen Moment lang vergessen lassen, dass die erregbaren Protagonisten nur die Exponenten einer medial selbstläufigen Struktur sind. Es wird hier müßig, nach Kausalitäten zu fahnden, wenn ohnehin keine Remedien in Sicht sind, das kollusive Zusammenspiel von politischen Selbstdarstellern, medialer Informationsgefräßigkeit und öffentlichem Sensationshunger zu beenden.

Moralisches Leertheater

Informationsübersättigte Bürger verstehen Skandale regelmäßig nicht als Politikersatzdroge, sondern begreifen die moralischen Qualitäten ihrer Volksvertreter als das Wesen der Politik selbst. Hat sich erst im nachhaltigen Einsatz der Volksvertreter beim Bürger der Glaube eingenistet, dass Politik ein schmutziges Geschäft sei, schwingt sich die Skandalchronik zum Selbstbestätigungsdiskurs der Demokratie auf. Eine Demokratie, der die alten ideologischen Herausforderungen, aber auch konkretere Ideale einer freiheitlichen Gesellschaft abhanden gekommen sind, fällt auf das moralische Leertheater zurück – und herein. Medien klären im Skandal regelmäßig nur das, was bereits vorentschieden ist - mithin gar nichts. Die Diskurse über Trittins neue und Meyers alte Verfehlungen sind so wertvoll für die Demokratie wie das Boulevardzeitungs-Horoskop für die Zukunft des Lesers.

Fordert man wie Bundestagspräsident Thierse die politischen Kultur des Landes ein, reklamiert man einen fairen demokratischen Umgangsstil jenseits der Diffamierung des politischen Gegners, so lässt sich dem entgegen, dass doch gerade die politischer Kultur in einer nie geahnten Weise hypermoralisch wird. Doch längst ist dem Skandal nicht mehr zu bescheinigen, dass er ein gesellschaftliches Ritual ist, "das eine reinigende und erneuernde Funktion im Hinblick auf die Erhaltung grundlegender Werte und Normen der Gesellschaft erfüllt", wie es Richard Münch vor einem Jahrzehnt noch glaubte konstatieren zu dürfen (Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt/M. 1991, S. 92). Wäre es so, müssten die permanenten Skandalniederschläge die gesellschaftlichen Verhältnisse ja moralisch hochwertiger zurücklassen, als sie im Skandal angetroffen werden. Das Gegenteil ist der Fall. Der nächste Skandal muss seine Vorgänger überbieten, wenn er ein erregungswilliges, aber zugleich eben auch desensibilisiertes Publikums überhaupt noch an der moralischen Schlagader treffen will.

Vor allem aber kombinieren sich Skandale mit Konsequenzlosigkeit. Köpfe rollen selten, Verfahren werden eingestellt und die allfälligen Bußen im Zweifel aus der Portokasse beglichen. Der Mechanismus der Skandalverarbeitung ist banal: Entschuldigung, Nichtannahme der Entschuldigung, Hammelsprung in den parlamentarischen Sandkasten. Da capo!

Zum Sendeschluss

Ein strukturelles Politikverständnis könnte erweisen, dass sich die Effekte politischen Handelns unabhängig von Intentionen, Motivationen oder der Moral der Akteure einstellen. Moraldiskurse könnten als sinnlos erkannt werden, weil sie zur strukturellen Aufklärung über die Gesellschaft nichts beitragen. Verfehlungen im Privatleben wie in der Amtsübung von Politikern eröffnen allein die gesinnungsethische Möglichkeit zu entscheiden, ob diese Art der Politik moralischen Maßstäben hinreichend genügt.

Der Ambivalenz der Moralisierung von Politik und der Politisierung von Moral entkommt man, wenn weniger die Motivation der Handelnden als die Moral politischer Strukturen betrachtet wird: Mögen unmoralische Politiker fehlsame Menschen sein, mögen sie Eigen- vor Fremdnützigkeit stellen und überdies rhetorische Rüpel sein, in ihren rechtlichen, institutionellen und zweckrationalen Bindungen hält sich der Schaden in Grenzen.

In Abwandlung eines Spruchs von Karl Kraus möchte man Politikern also zurufen: Seht zu, dass es keinen Krieg gibt, die Renten gesichert sind, Fleisch und Flüsse nicht vergiftet werden, macht also die Arbeit, für die ihr gut bezahlt werdet - für die Moral sorgen wir dann schon selbst. Aber dieser Wunsch wäre vermessen, weil die relativen Glückseligkeitsversprechen der Demokratie eben nur noch als hypermoralisches Theater aufgeführt werden können.

Wäre das Politische nicht moralisierbar, würde schließlich vielleicht herausgefunden, dass das Moralpotenzial einer Gesellschaft schnell austrocknet, wenn es um wirklich vitale Interessen der Machterhaltung geht. Das aber spielt sich zu oft gerade jenseits des gegenwärtigen Kasperletheaters ab, das Politiker ihren Wählern zu schulden scheinen, wenn sie diffamieren, zurückschlagen und zum Hammelsprung ansetzen, weil ihnen zurzeit noch der finale Sprung an die Gurgel des Gegners untersagt ist.