Vom Menschenrecht auf Faulheit

Der Bundeskanzler im Kampf gegen staatlich alimentierte Faulheit

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Linda Evangelista würde Kanzler Schröder keine Freude bereiten: Hat das Topmodel doch gesagt, dass sie sich für unter 10.000 Dollar täglich erst gar nicht aus dem Bett erheben würde. Vielleicht sieht es mancher Sozial- oder Arbeitslosenhilfeempfänger ja ähnlich, wenn er für unter 1.000 DM monatlich aufstehen soll. Aber mit diesem Müßiggang ist jetzt Schluss.

"Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft" meint der pragmatische Sozialdemokrat Schröder. Wer also zumutbare Arbeit ablehne, dem solle auch die Unterstützung gekürzt werden.

Die schuftende Solidargemeinschaft

Das Grundgesetz enthält kein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf Faulheit, aber vielleicht handelt es sich um ja ein Natur- oder Menschenrecht. Christus plädierte zumindest in der Bergpredigt für die Faulheit: "Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, und doch sage ich Euch, dass Salomo in all' seiner Pracht nicht herrlicher gekleidet war." (Matthäi 6, 28 und 29.) Auch die russische Volksseele erkannte sich im 19. Jahrhundert in Gontscharows "Oblomow" wieder, der es vorzog, im Bett zu bleiben, die hektischen Zeiten an sich vorüber ziehen zu lassen und die Faulheit als Lebenssinn zu entdecken.

Dieser Sinn für das gemächlich-komtemplative Leben ist inzwischen verkümmert, obwohl Richard Sennett die Leiden des "flexiblen Menschen" an der Dotcom-Gesellschaft drastisch beschrieben hat. Aber es geht nicht nur um lebenslängliche Flexibilität für höhere Unternehmensziele, sondern in turbokapitalistischen Zeiten werden auch "sweat-jobs" wieder attraktiv, da der Zusammenhang zwischen Konjunktur und Vollbeschäftigung doch als so unwiderleglich gilt. Populär ist des Kanzlers Verdikt staatlich alimentierter Faulheit in den Ohren all jener, die selbst für wenig mehr als die "Stütze" malochen sollen, während die anderen fürs Nichtstun vom Sozialamt bezahlt werden. Ressentiments waren von je gute Wahlhelfer.

Wer so das Recht auf Faulheit leugnet, ist ein Populist, der auf Wählerstimmen aus dem großen Kreis aller billig und gerecht Denkenden spekuliert. Wirtschaft wie Stammtisch sehen es genau so. Der Kanzler kann keine Arbeitslosen brauchen, weil die Regierung zu ihrem Ziel steht, die Arbeitslosigkeit bis zur Bundestagswahl 2002 auf unter 3,5 Millionen zu senken. Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland ist im März gegenüber dem Februar unbereinigt um 113.100 auf 3.999.600 gesunken. Das ist der geringste Rückgang im Frühjahr seit der Wiedervereinigung 1990.

Bei dem statistischen Regierungsziel kommt es indes nicht auf die Frage nach dem volkswirtschaftlichen Sinn oder gar auf die Qualität der Arbeit an. Auch ein "McJob" als Tütenschlepper darf danach als gesellschaftlich wertvolle Arbeit gelten. Dabei sind die vordergründigen Zusammenhänge zwischen Arbeitslosenzahlen und Konjunkturentwicklung alles andere als klar. Immer mehr Unternehmen sehen die wirklichen Gefahren darin, dass die deutsche Konjunktur von der Wachstumsabschwächung in den Vereinigten Staaten und ihren Folgen auf die Weltwirtschaft stark betroffen ist.

Könnte es also sein, dass die Frage, ob einige vorgebliche "Sozialschmarotzer" mehr oder weniger in den letzten Soziotopen bundesrepublikanischer Faulheit leben, für den Wirtschaftsaufschwung, den der Kanzler sich nicht klein reden lassen will, völlig belanglos sind? Aber da in der Ökonomie ohnehin alles "irgendwie" mit allem im Zusammenhang steht, müssen auch die faulen Arbeitslosen als die Spielverderber der hochsolidarischen "Ein-Boot-Gesellschaft" herhalten.

Vom Adel der Arbeit

Wenn doch angeblich die Arbeit den Menschen adelt, bleibt die Frage, warum dann Millionen es vorziehen, so unfeudal zu leben. Arbeit gilt als Grund gesellschaftlicher Wertschätzung. Arbeitslosigkeit ist zahlreichen Studien zufolge die Ursache für viele Formen persönlichen Unglücks, aber auch für steigende Kriminalitätsraten, die nicht vom verfassungsrechtlich verbürgten Sozialstaatsprinzip abgefedert werden können.

Was ist aber zumutbare Arbeit? Nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit gilt jede Arbeit als zumutbar, die in Höhe der Arbeitslosenunterstützung entlohnt werde. Der Deutsche Gewerkschaftsbund erkennt gerade darin die Gefahren des Lohndumping. Nach Auffassung des DGB sitzen die "wirklichen Drückeberger" in den Chefetagen, wo auf gute Gewinn- und Wachstumslagen eben nicht mehr Arbeitsplätze angeboten, sondern mehr Überstunden angeordnet würden.

Das ist der Populismus der Gegenseite, der mit genau so viel Recht wie der Kanzler in die andere Richtung auf selbst verordnete Diäten von Parlamentariern, fette Unternehmergewinne, saftige Abfindungen von ausscheidenden Vorstandsmitgliedern oder auf Ämterhäufungen verweisen könnte, die wenig mit Arbeitsüberlastung, aber viel mit Pfründen zu tun haben. "Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen", meint der Kanzler. Aber mit wie viel Solidarität können die rechnen, die für andere die Zumutbarkeit von Arbeit definieren, während sie sich über die Zumutbarkeit der eigenen Arbeit längst keine Gedanken mehr machen müssen?

Bevor der Kapitalismus zur Weltwirtschaftsordnung avancierte, wurden solche wechselseitige Populismen mit der probaten Formel des "Klassenkampfs" paramilitärisch aufgeladen. Aus der "industriellen Reservearmee" werden heute die postindustriellen "Sozialschmarotzer". Angela Merkel hat den Klassenkampf abgeschafft: "Wir haben keine Politik für Klassen oder Schichten gemacht. Die CDU war und ist die große Volkspartei der Mitte. Ich will auch heute keine Gesellschaft der falschen Einteilungen, in so genannte Modernisierungsverlierer und Modernisierungsgewinner. Ich will eine Wir-Gesellschaft). Das ist eine Gesellschaft, die die Veränderungen durch Globalisierung und Digitalisierung zur Kenntnis nimmt."

Gerade diese Veränderungen von Nationalökonomien zum grenzenlosen Globalbusiness schaffen aber immense Schwierigkeiten für Gesellschaftssysteme und ihre Arbeitsmärkte, die sich nicht im Windmühlenkampf wider die gesellschaftliche Faulheit auflösen lassen. Transnationale Arbeitsteilungen, Arbeit unter virtuellen Bedingungen, wachsende Zwänge lebenslänglichen Lernens gehen nicht nur an die Zumutbarkeitsgrenze von Arbeitnehmern, sondern auch an die von nationalen Gesellschaften. Ca. 2,5 Prozent der Arbeitsplätze seien in Deutschland gegenwärtig im Umfeld des Internet zu finden. Und der Anstieg der Arbeitsplätze gilt in keiner Branche so groß wie im Bereich der "New Economy". Gerade der euphorisch begrüßte Weg in die globale Informationsgesellschaft mit Telearbeit, virtuellen Unternehmen und der Entgrenzung des digitialen Arbeitsalltags produziert aber neben der Hoffnung auch die apathischen Outcasts der Weltgesellschaft.

Eine nationale Arbeitsmarktpolitik oder eine rigide Anwendung des Sozialstaatsprinzips werden nicht zu einer internationalen Angleichung von humanen Arbeitsbedingungen vorstoßen. Die Gefahren des internationalen Outsourcing haben sich durch die Virtualisierung von Arbeitsbedingungen enorm verschärft: Unvorhersehbare Turbulenzen drohen nach einer kühnen Hochrechnung des MIT ohnehin für die nationalen Arbeitsmärkte, weil sich bis zum Ende des Jahrzehnts ca. 80 % aller Arbeitsplätze in den führenden Industriestaaten auslagern lassen.

So wird die Parole der "Wir-Gesellschaft" so wenig wie irgendeine Palliativrhetorik die wachsende digitale Kluft abschaffen. Und nur Vulgärsoziologie möchte glauben, dass die Differenzen zwischen Besserverdienenden und Hungerlöhnern sich auf die sozialdarwinistische Unterscheidung von Fleiß und Faulheit reduzieren lassen können. Sicher, auch für die Nationalstolzdebatte mag sich das Kanzlerverdikt über die Faulheit vorzüglich eignen, sind die Deutschen doch von Natur aus - vor allem aber in der Selbsteinschätzung – besonders fleißig.

Von der Faulheit des Denkens

Das Problem des Kanzlers und der anderen "Wir-Gesellschafts-Theoretiker" ist ein verkümmerter Arbeitsbegriff, in dem "Schuften" und Erwerbseinkommen, Faulheit und gesellschaftliche Krisen kurzerhand gleichgesetzt werden. Die wirtschaftliche Produktivität wird in Zukunft immer stärker von menschlicher Arbeit unabhängig. Es wird zum unerträglichen Paradox in Zeiten einer rasenden Technologie, die vormals gefeierte Automatisierung, den Wegfall stupider Körperfron, den Schwund an gesellschaftlich notwendiger Arbeit nicht länger als gesellschaftlichen Fortschritt zu definieren, sondern nun mit dem Fetisch der Vollbeschäftigung zu wedeln.

Der Schwiegersohn von Karl Marx und Vorkämpfer des Marxismus in der französischen Arbeiterbewegung Paul Lafargue fand in seiner Schrift "Das Recht auf Faulheit" ("Le droit à la Paresse") schon 1891 – lange vor der Entwicklung vollautomatischer Fabriken und menschenfreundlicher Robotisierung – harte Worte:

"Die blinde, wahnsinnige und menschenmörderische Arbeitssucht hat die Maschine aus einem Befreiungsinstrument in ein Instrument zur Knechtung freier Menschen umgewandelt: die Produktionskraft der Maschine ist die Ursache der Verarmung der Massen geworden .... Um die Kapitalisten zu zwingen, ihre Maschinen von Holz und Eisen zu vervollkommnen, muss man die Löhne der Maschinen von Fleisch und Bein erhöhen und die Arbeitszeit derselben verringern."

Zumindest für die Dimensionen zukünftiger Menschenarbeit ist zu fordern, dass der individuelle oder kollektive Zweck der Arbeit unter den neuen Bedingungen technologischer Bedingungen human definiert wird.

Nun macht Arbeit noch lange nicht frei, sondern mitunter sogar arm. Die Leistungs- und Start-up-Gesellschaft Deutschland ist nach wie vor nicht bereit und wahrscheinlich auch nicht in der Lage, notwendige Arbeiten zu bezahlen. Für die Arbeit von Hausfrauen und Müttern gibt es keine Entlohnung. Stattdessen wird es bei der gesellschaftlichen Ächtung solcher Arbeit geradewegs zum paradoxen Privileg überlasteter Familien wenigstens noch eine Teilzeitarbeit für "Mutti" zu finden. Und eine Steuerreform, die Familien geringere Entlastungen als Singles beschert, scheint diese unabdingbare Arbeit auch in Zukunft nicht anzuerkennen. Gespart wird nach wie vor da, wo die Lobbys schwach sind, und nicht da, wo Ressourcen liegen, die umverteilt werden könnten.

Dass Arbeit längst nicht Arbeit ist, demonstriert auch die Behandlung gemeinnütziger Tätigkeiten. Hier gibt es kein Dotierungssystem, das solche Arbeiten noch so attraktiv halten könnte, wie es eine immer mehr zersplitternde Gesellschaft so dringend nötig hätte, um auch einen "Output" jenseits von Börsennotierungen zu definieren.

Es gibt kein Recht auf Faulheit in dieser Gesellschaft. Das sollte dann auch für die Faulheit des Denkens gelten, statt kreative Gesellschafts- und Arbeitsmodelle vorzustellen, Arbeit, Erwerbstätigkeit, Einkommen und die "Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot"-Mentalität zu einem frühindustriellen Turbokapitalismus kurzzuschließen. Vor der wohlfeilen Verdammung der "Drückeberger" wären auch die Starrheiten des deutschen Arbeitsrechts und die hohen Lohnnebenkosten für Geringverdiener einer Revision zu unterziehen. Ohne einer manchesterkapitalistischen "Hire-and-Fire"-Arbeitsgesellschaft das Wort zu reden, sind flexiblere Möglichkeiten des Wechsels von Arbeitsplätzen für Unternehmen und Arbeitnehmer immer noch Zukunftsmusik.

Paul Lafargue hat es gegenüber den ersten, unheimlichen Beschleunigungsschüben der frühen Industrie satirisch genommen: "Alles individuelle und soziale Elend entstammt einer Leidenschaft für die Arbeit. O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!" Aber das ist sicher wie alle Satiren nicht ernst zu nehmen.