Planet Nummer 10 kurz vor Entdeckung?

Astronomen vermaßen überraschend großen Brocken im Kuiper-Gürtel, der zu Spekulationen einlädt

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Auf der Suche nach Asterioden und Kometen in unserem Sonnensystem haben amerikanische Astronomen im Kuiper-Gürtel bereits letzten November einen Himmelskörper entdeckt, der ein neues Bindeglied zwischen Planet, Asteroid und Mond bildet. Nunmehr ist dem US-Forscher David Jewitt mitsamt Team gelungen, den geheimnisvollen Brocken genaustens zu untersuchen und zu vermessen. Größer als der größte Asteroid Ceres, kleiner als Pluto und um eine Nuance kleiner als der Pluto-Mond Charon kann sich das Gebilde namens Varuna WR106 aber wohl noch nicht dem Club der Planeten zugehörig fühlen. Trotz seines Durchmessers von 900 Kilometer ist Varuna höchstwahrscheinlich nicht mehr als ein Asteroid. Doch wie die Wissenschaftler im neuesten Fachmagazin Nature (411) berichten, gehen sie aber davon aus, demnächst noch größere Objekte jenseits des Plutos aufzuspüren. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass darunter der geheimnisvolle Planet X sein könnte

Im altbewährten Brockhaus-Lexikon steht es schwarz auf weiß. Danach sind Planeten "nur im reflektierten Licht eines Sterns, nicht aus sich selbst leuchtende Himmelskörper, die sich in elliptischen Bahnen um den sie beleuchtenden Zentralstern bewegen". Doch anhand dieser abstrakten Definition lässt sich nicht allein klären, warum in unserem Sonnensystem bislang nur neun Himmelskörper den arrivierten Status eines Planeten zugeordnet bekamen. Denn genau genommen sind die Einzelfaktoren und Charakteristika, die einen echten Planeten ausmachen, subtiler strukturiert. Zum einen darf die Masse einen Planeten nicht zu groß sein; ansonsten bestände die Gefahr einer solaren Kernfusions-Reaktion - gleich welcher Art auch immer. Daneben spielt auch die Form des Objekts eine wichtige Rolle: Planeten haben in der Regel keine unförmige, sondern eine sphärische "Gestalt". Dies rührt von ihrer Masse her. Sie muss groß genug sein, damit die Eigengravitation ausreicht, ihm in eine Kugelform zu pressen. Signifikant für einen Planeten ist des weiteren, dass er in der Regel einen Stern oder ein Doppelsternsystem umkreist. Und dabei folgt er nicht einer kreisförmigen, sondern ovalen, ellipsenartigen Bahn.

Seit 71 Jahren gelten die Himmelskörper Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun und Pluto als die planetaren Vagabunden unseres Sonnensystems, wobei der erst 1930 entdeckte Pluto immerfort in der Diskussion und zur Disposition stand. Bis auf den heutigen Tag herrscht Uneinigkeit darüber, ob er wirklich ein Planet oder doch nur ein Asteroid ist. Als sonnenentferntester und kleinster Planet unterscheidet sich Pluto von seinen "Kollegen" durch seine geringe Größe und Masse. Aber auch seine Bahn ist ungewöhnlich: Sie ist stark geneigt (17 Grad) und stark elliptisch, so dass zeitweise sogar der Neptun zum äußersten Planeten wird.

70.000 größere Brocken - Milliarden kleinere Objekte

Irgendwo zwischen fünf und sechs Milliarden Kilometern Entfernung von der Sonne vermuten Astronomen das Ende unseres Sonnensystems. Jenseits davon sind, so die bisherige gängige Lehrmeinung, keine planetengroßen Körper, sondern nur noch eisige Kometen anzutreffen. Zu ihnen gehören auch die so genannten transneptunischen und transplutonischen Objekte, die zu Hunderten ihren exzentrischen Umlaufbahnen folgen und Teil des Kuiper-Gürtels sind, der bis 1992 nichts weiter als eine Theorie war, dessen Existenz aber heute indes als gesichert gilt. In dieser scheibenförmigen Region, die sich hinter der Neptunbahn erstreckt, befinden sich in der Tat unzählige kleine vereiste Felsbrocken, die gelegentlich aus ihrer Bahn geworfen werden und dann als Kometen in die Nähe der Sonne und der Erde kommen. Obgleich bisher nur 400 Objekte im Kuiper-Gürtel aufgespürt werden konnten gibt es Schätzungen, wonach dort vermutlich mindestens 70.000 dieser Trans-Neptun-Objekte (TNO) mit einem Durchmesser von über 100 Kilometern treiben. Möglicherweise befinden sich in diesem kosmischen Sektor aber auch noch Milliarden Objekte in der Größenordnung von zehn Kilometer, was zur Folge hätte, dass dort 100 mal mehr Masse vorhanden ist als im klassischen Planetoidengürtel zwischen Mars und Jupiter. Kein Wunder, dass sich Astronomen ganz besonders für diese Region interessieren, zumal sie schon seit der Geburt des Sonnensystems nahezu unverändert existiert.

JCMT-Teleskop in Hawaii - 15-Meter-Durchmesser (Mauna Kea)

Nur fast ein Planet

Nunmehr sieht es aber danach aus, als hätte Pluto einen neuen, wenngleich etwas kleineren Artverwandten. Entdeckt worden ist das Gebilde bereits am 28. November 2000 vom Spacewatch-Team in Arizona, das den Himmel systematisch nach Asteroiden und Kometen in unserem Sonnensystem durchsucht. Wie jüngst der US-Astronom David Jewitt mit seinem Team vom Institute for Astronomy in Honolulu auf Hawaii mit Hilfe des James Clerk Maxwell Telescope herausgefunden hat, ist der im äußeren Bereich des Sonnensystems ansässige Himmelskörper überraschend groß: fast so groß ist wie der Plutomond Charon.

Das von Jewitt und seinen Kollegen optisch- und infrarotmäßig betrachtete Objekt ist neben Pluto und seinem Mond Charon das dritthellste Gestirn im Kuiper-Gürtel und unterscheidet sich vom Plutomond durch eine auffallende dunklere Oberfläche. "Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Pluto und Charon im Kuiper-Gürtel nicht die einzigen großen Objekte mehr sind. Wir können uns nun vorstellen, dass wir dort noch größere und weitaus entferntere als Pluto finden werden", freut sich Steve C. Tegler vom Department of Physics and Astronomy der Northern Arizona University. Bislang übersahen die Astronomen derartige Objekte, weil deren reflektierte Sonnenstrahlung schlichtweg zu schwach war, woran auch zum Teil die dunklen Oberflächen dieser Himmelskörper ihren Anteil hatten.

Erfahrungsgemäß gestalten sich in der Praxis Messungen von abgegebener Wärmestrahlung eines "kalten" Objekts wie Varuna WR106 schwierig, weil die Erdatmosphäre eine großen Teil der Infrarot-Strahlung regelrecht verschluckt. Da das JCM-Observatorium jedoch mehr als 4 Kilometer über den Meeresspiegel liegt, konnten die Forscher die Intensität der eingehenden Wärmestrahlung von Varuna WR106 problemlos detektieren. Dass dies auch im optischen Spektrum gelang, zeigte Varuna WR106 auf eindrucksvolle Weise: Denn im "Okular" präsentierte es sich als ausgesprochen helles Objekt. So hell, dass es den Forschern sogar möglich war, die Reflexionsintensität der Sonnenstrahlung, die für Varuna signifikant ist, im optischen und infraroten Spektrum zeitgleich zu messen. Ihren Berechnungen zufolge beträgt das Rückstrahlvermögen (die Albedo gibt den Prozentsatz des von einer Oberfläche reflektierten Lichts an) des Vagabunden summa summarum 7 Prozent, was für einen Asterioden ein überaus hoher Wert wäre.

Dass Varuna WR106 7 Prozent der eingehenden Sonnenstrahlung reflektiert, hat die Wissenschaftler überrascht. Denn mit diesem Wert hebt sich das Gebilde deutlich von den bislang bekannten Asterioden im Kuiper-Gürtel ab, die ungleich "dunkler" sind. Andererseits kann Varuna mit Charons Albedo von 40 Prozent nicht mithalten; wahrscheinlich sorgt auf dem Plutomond eine Eisoberfläche für eine intensivere Reflexion. Ferner fanden die Forscher heraus, dass der sich langsam durchs All bewegende exzentrische Himmelskörper einen für einen Planeten zu geringen, für einen Asterioden hingegen fast schon zu großen Durchmesser aufweist: Er beläuft sich auf 900 Kilometer. Zum Vergleich: Pluto hat stolze 2.400 und sein Mond Charon immerhin 1.200 Kilometer zu bieten.

Rätselhafte Asterioden nichts Neues

Bereits im Februar 2000 entdeckten Astronomen einen besonders dicken Brocken, der nicht minder rätselhaft war. Hierbei handelte es sich um den rund 400 Kilometer großen 2000 CR105. Seine Umlaufbahn war derart groß, dass die Forscher sie nicht mit der Konstellation der Riesenplaneten in Einklang bringen konnten. Die großen Planeten und ihre Gravitation konnten es danach nicht gewesen sein, die 2000 CR105 auf seine ungewöhnliche Bahn drängten. 2000 CR105 kann sich der Sonne bis auf eine Distanz von 6,6 Milliarden Kilometern nähern und ist dann immer noch mehr als zwei Milliarden Kilometer von Neptun entfernt - seine größtmögliche Entfernung liegt bei 58,2 Milliarden Kilometern. Vielleicht lief Neptun dereinst selbst auf einer Umlaufbahn, die weit exzentrischer war als es heute der Fall ist, und auf der er den Kometen dorthin lenkte, wo er heute zu finden ist.

Auf jeden Fall dürfte mit der Entdeckung von Varuna die Diskussion um den Planetenstatus von Pluto erneut aufflammen. Sollte demnächst ein weitaus größeres Objekt im Kuiper-Gürtel lokalisiert werden, könnte es sogar zu der paradoxen Situation kommen, dass Pluto aus dem Club der Planeten verbannt wird, während sein größerer Nachfolger zu ungeahnten Ehren gelangt. Freilich würde dann die Suche nach Planet X weitergehen müssen. Und freilich wäre dann zu überlegen, was aus Pluto werden soll.