Wenn sich Hirnforschung, Psychiatrie und Humangenetik verbünden ...

Der Genetifizierung des Körpers folgt die Biologisierung von Verhalten und Bewusstsein

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In Berlin folgen Anfang Juli zwei Veranstaltungen aufeinander, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Zum einen findet der siebte Weltkongress für Biologische Psychiatrie statt, der davon ausgeht, dass psychische Störungen vor allem genetischen Ursprungs sind. Zum anderen veranstalten psychiatriekritische Gruppen die internationale Konferenz Freedom of Thought, mit dem Symposion Geist gegen Gene und dem Russell-Tribunal zur Frage der Menschenrechte in der Psychiatrie. Diese wenden sich gegen die Allianz von Biowissenschaften und Psychiatrie und gegen den Versuch, abweichendes Verhalten von Menschen genetisch vorhersagen und behandeln zu wollen. Zur Kritik an der Biologischen Psychiatrie erscheint morgen ein weiterer Artikel.

Von der Biologischen über die Soziale bis zur Anti-Psychiatrie

In der Ursachenforschung psychischer Störungen lassen sich zwei Hauptrichtungen ausmachen: Während die eine eng mit Psychologie und Soziologie verbunden ist und als Ursache psychischer Störungen vor allem Umwelteinflüsse und seelische Faktoren betont, sieht die andere Richtung, zu der die Biologische Psychiatrie gehört, vor allem in organischen Krankheiten die Ursache psychischer Störungen. Sie stützt sich auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der molekularen Genetik.

Ganz jenseits dieser Fraktionsstreitigkeiten verorten sich die Verbände der Psychiatrie-Erfahrenen. Indem die Soziale Psychiatrie ihren Schwerpunkt auf "psychologische statt psychiatrischer Behandlung" lege, leiste sie "eine immanente Kritik" an der Psychiatrie, sagt René Talbot vom Berliner Landesverband Psychiatrie-Erfahrener. "Die Soziale Psychiatrie delegiert die Verantwortung erneut an Experten", kritisiert Talbot. Das Problem bestehe in dem "objektivierten Krankheitsbegriff", den auch die Soziale Psychiatrie mittrage. Die Psychiatrisierten-Selbstorganisation unterscheidet im Gegensatz dazu nicht zwischen Psychiatrie und Psychologie und fordert die Abschaffung der psychiatrischen Zwangsanstalten.

Was ist biologische Psychiatrie?

Innerhalb der modernen Psychiatrie dominiert inzwischen der Glaube an die Biologie als Ursache für geistige Krankheit. Die Biologische Psychiatrie feiert ein weltweites Comeback. Biologische Psychiater behaupten, dass geistige Krankheiten größtenteils genetischen Ursprungs sind und mit biologischen Manipulationen behandelt werden sollten. Selbst Depressionen werden als genetische Störung verhandelt. Der Umwelt und gesellschaftlichen Faktoren wird dagegen eine sekundäre Rolle zugewiesen.

Dies zeigt sich auch im Programm des siebten Weltkongresses für Biologische Psychiatrie, der vom 1. bis zum 6. Juli 2001 in Berlin stattfindet. Organisiert wird er von der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP). Den erwarteten 7000 TeilnehmerInnen werden Themen geboten wie "Geistige Krankheit in der Postgenom-Ära", die "Suche nach Genen für Geisteskrankheit" oder "Genetische Untersuchung von Sucht". Gesponsort wird der Kongress von den Pharma-Unternehmen AstraZeneca, Johnson & Johnson sowie AkzoNobel. Auch das inhaltliche Programm wird von der pharmazeutischen Industrie bestimmt: Die Firmen Pharmacia Corporation, AstraZeneca, Pfizer Pharmaceuticals Group, SmithKline Beecham, Bristol-Myers Squibb, Novartis Pharma, Eli Lilly und Solvay bieten zahlreiche Symposien an.

Der Münchner Psychiater Hans-Jürgen Möller ist Präsident des siebten Weltkongresses der Biologischen Psychiatrie. In der Kongress-Einladung wirft er das Szenario einer "neuen Klassifikation psychiatrischer Krankheiten" an die Wand, "die in großem Maße auf molekulargenetischen Ursachenbestimmungen und anderen biologischen Urteilen beruhen könnte". Es sei von "größter Wichtigkeit, dass die Biologische Psychiatrie in Zukunft in dieser Richtung vorangeht". Die Forderung des Bundeskanzlers, die deutsche Bioethik-Debatte müsse endlich aus dem Schatten der NS-Vergangenheit treten, löst Möller ein, indem er die Vergangenheit der Psychiatrie in Deutschland als Erfolgsstory schildert: Da "die deutsche Psychiatrie im letzten Jahrhundert entscheidend zur Entwicklung der Biologischen Psychiatrie beigetragen" habe, sei es "angemessen, diesen Weltkongress in Berlin, der Hauptstadt von Deutschland, stattfinden zu lassen". Dass der Beitrag der deutschen Psychiatrie vor allem darin bestand, ein Euthanasie-Programm durchzuführen, in dem zwischen 1939 und 1947 mehr als 275 000 als psychisch krank stigmatisierte Menschen ermordet wurden, lässt er dabei völlig außer Acht.

Forschung an Depressions- und Schizophrenie-Genen

Die aktuelle Vorherrschaft der Biologischen Psychiatrie lässt sich gut an dem "Kompetenznetz Schizophrenie" verdeutlichen, einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Netzwerk aus 16 Psychiatrischen und 5 Jugendpsychiatrischen Universitätskliniken, 14 Krankenhäusern sowie 6 Arztpraxenverbänden. Hier soll ebenso wie im Kompetenznetz "Depression" die Ursache dieser Erkrankungen erforscht werden. Obwohl nicht ausschließlich Vertreter der Biologischen Psychiatrie beteiligt sind, werden die genetischen Faktoren in den Vordergrund gerückt.

"Die genetische Veranlagung spielt eine Rolle" für Depressionen, ist zu erfahren. Man suche "nach genetischen Anlagen, die für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko hinsichtlich affektiver Erkrankungen verantwortlich sind." Die am "Kompetenznetzwerk Schizophrenie" beteiligten Wissenschaftler behaupten sogar, "schizophrene Psychosen sind zu ungefähr 50 Prozent genetisch bedingt". Es sei zwar "noch keines dieser Gene" auf dem Genom identifiziert, einige aber lokalisiert worden. Vor allem die Diagnostik solle durch die Kenntnis der "genetischen Determinanten" verbessert werden. "Ziel ist es, die genetischen Bedingungsfaktoren zu identifizieren und damit das Risiko gefährdeter Personen, im Laufe ihres Lebens an Schizophrenie zu erkranken, besser abschätzen zu können" bellt es aus dem Konzept. Da für diese Forschungen Körpermaterialien der Patienten gebraucht werden, sollen an den Psychiatrischen Kliniken in Bonn und München in sogenannten Ressourcenzentren "Zell-Linien von Patienten angelegt" werden. Dieses Patientenmaterial soll "für molekulargenetische Projekte innerhalb des Netzes als auch außerhalb", z.B. für das Humangenomprojekt zur Nutzung bereitgestellt werden.

Psychiatrie als Polizeiwissenschaft: Erkennung, Erfassung, Intervention

Zielsetzung und Vorgehensweise des Netzwerkes lesen sich wie aus einem polizeiwissenschaftlichen Handbuch abgeschrieben: Die Psychiatrie möchte ein umfassendes System aus Fahndung, gendiagnostischer Identifikation und therapeutischer Intervention aufbauen. Der erste Schritt - die "Früherkennung" - diene dem Zweck, "mögliche Risikopersonen ausfindig zu machen". Dazu sollten "Vorfeldeinrichtungen" in die Fahndungsmaschinerie einbezogen werden, also "Schulen, Erziehungsberatungsstellen oder Hausärzte". Dort werden in der Vision der Psychiatrie dann "mittels Screening-Bögen Menschen identifiziert, die Symptome und Beschwerden haben, die auf ein erhöhtes Risiko hinweisen könnten. Diese Personen werden zur weiteren Abklärung an Früherkennungszentren überwiesen".

Auffällig ist die extrem ausgeweitete bzw. ungenaue Definition der auf den Index gesetzten Verhaltensmerkmale: So erklären die beteiligten Psychiater, zu den typischen Symptomen der Schizophrenie zählten "sozialer Rückzug, Konzentrationsstörungen, Leistungsabfall, aber auch spezifischere Denk- und Wahrnehmungsstörungen."

Forschung an psychiatrisierten Patienten

Der diagnostischen Früherkennung sollen im zweiten Schritt "je nach Grad des Risikos unterschiedliche Strategien für eine Frühintervention" folgen, die von psychologischer Behandlung bis zur medikamentösen Behandlung mit Neuroleptika reichen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse der Behandlung "auch der Grundlagenforschung über den Einsatz von Medikamenten in Risiko- und Frühstadien" dienten. Der oben bereits erwähnte Psychiater Hans-Jürgen Möller, Mitglied des Netzwerk-Vorstands, räumte gegenüber Telepolis sogar ein, eigentliches Ziel sei die "angewandte Forschung im klinischen Bereich". Schließlich sind Zwangspsychiatrien mit ihren nicht-einwilligungsfähigen Insassen ideale Experimentierfelder der Pharmaindustrie.

Ob dieser guten Forschungsbedingungen wundert es nicht, dass auch die Neuroleptika produzierenden Pharma-Konzerne Janssen-Cilag, Lilly und Lundbeck das Schizo-Netzwerk unterstützen. Zur Legitimation ihres Vorhabens führen die Verantwortlichen des Netzwerkes die Kosten der Krankheit an: "Die teuerste psychische Erkrankung Schizophrenie belastet das Gesundheits- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland mit jährlich rund sieben Milliarden Mark. Sie ist damit die teuerste psychische Erkrankung." Ein Argument, dass aus der nationalsozialistischen Biopolitik hinlänglich bekannt ist.

Gehirn-Therapie: Die neurowissenschaftliche Aufrüstung der Psychiatrie zur Verhaltens-Task Force

Biologische Psychiatrie und Neurowissenschaften bauen stark aufeinander auf: Jede "Früherkennung" und "Frühintervention" wäre ohne neurowissenschaftliche Instrumentarien undenkbar. Schließlich sollen für die Diagnose von Schizophrenie auch "Anomalien in der Hirnstruktur" erfasst werden, schreibt das Schizonetzwerk.

Die Bedeutung der Gehirnforschung für die moderne Psychiatrie erschöpft sich aber nicht im Bereitstellen neuer Diagnosemöglichkeiten: Die Neurowissenschaften arbeiten an dem Instrumentarium der zukünftigen psychiatrischen Bewußtseins-Polizei. Nicht mehr nur eine Diagnose der "schlechten Gehirne" soll möglich sein, sondern die "therapeutische Intervention". Nach US-amerikanischem Vorbild rief im vergangenen Jahr eine Gruppe deutscher Neurowissenschaftler eine Dekade des menschlichen Gehirns (2000-2010) ins Leben. In dem Konzeptpapier schreiben sie, die "entscheidende Aufgabe der nächsten Jahre" sei es, das Verständnis des menschlichen Gehirns "für therapeutische Anwendungen nutzbar zu machen". In naher Zukunft werde eine "Früherkennung pathologisch veränderter Hirnfunktionen zu einem Zeitpunkt möglich sein (...), an dem eine therapeutische Intervention noch eine deutliche Verbesserung des Zustandsbildes oder sogar eine Unterbrechung des krankhaften Prozesses bewirken" könne.

Um dem nahtlos mit dem psychiatrischen Begehren zusammenlaufenden Ziel der Gehirn-Therapie näher zu kommen, arbeiten die Neurowissenschaften an der Kartierung des Netzwerks aus 14 Milliarden Nervenzellen. Ziel sei es, "die Funktionen des Gehirns von der molekulargenetischen Ebene bis hin zur Verhaltensbiologie zu entschlüsseln", schreiben die deutschen Gehirnforscher. Mit diesem Kartierungsvorhaben befeuern die Neurowissenschaften den Wahn der Biologischen Psychiatrie, menschliches Verhalten biologisch zu erklären. So wie sich die Genomforschung über das humane Genom dem Körper nähern will, versuchen die Neurowissenschaften über das humane Gehirn den Geist unter Kontrolle zu bekommen.

Der Genetifizierung des Körpers folgt die Biologisierung von Verhalten und Bewusstsein. Entscheidend für die neurowissenschaftlichen Bewusstseinstechnologien ist dabei die klare Unterscheidung, welches Bewusstsein erwünscht und welches unerwünscht ist.

Umgedreht brauchen die Neurowissenschaften die Psychiatrien für die Forschung: "Wesentliche Fortschritte sind aus einer engen Verknüpfung von grundlagenwissenschaftlicher und klinischer Forschung zu erwarten", so das Konzept. Wie oben angedeutet, ist die Forschung am Menschen schließlich nirgendwo besser zu verwirklichen, als in den Psychiatrien.