Das Recht auf Gedankenfreiheit ist nicht beschränkt auf Gedanken, die staatlicherseits für gesund gehalten werden

Psychiatrie-Erfahrene verteidigen den Geist gegen die Gene

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Während es in Berlin auf dem siebten Weltkongress für Biologische Psychiatrie vor allem darum geht, dass psychische Störungen vor allem genetischen Ursprungs sind (Wenn sich Hirnforschung, Psychiatrie und Humangenetik verbünden ...), veranstalten psychiatriekritische Gruppen die internationale Konferenz Freedom of Thought, mit dem Symposion Geist gegen Gene und dem Russell-Tribunal zur Frage der Menschenrechte in der Psychiatrie. Diese wenden sich gegen die Allianz von Biowissenschaften und Psychiatrie und gegen den Versuch, abweichendes Verhalten von Menschen genetisch vorhersagen und behandeln zu wollen.

Die internationale Konferenz "Freedom of Thought" findet vom 30. Juni bis zum 1. Juli 2001 an der FU Berlin stattfindet. Veranstaltet wird sie von internationalen psychiatriekritischen Organisationen wie den Landesverbänden Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg und Nordrhein Westfalen, der Irren-Offensive, der Israeli Association Against Psychiatric Assault und der US-amerikanischen Support Coalition International. Auch universitäre Einrichtungen wie die Discourse Unit and Review of Critical Psychology und die Gruppe Psychology Politics Resistance, beide von der Manchester Metropolitan University, beteiligen sich. Weitere Unterstützer sind die Heinrich Böll-Stiftung und das mit Biowaffen befasste Sunshine Project. Die Freie Universität ist selbst nur mit dem Lehrstuhl FUER Wahnsinn sowie dem dortigen Asta vertreten. Da die Universitätsleitung die vorerst zugesagten Räumlichkeiten mit fadenscheinigen Argumenten verweigert, klagen die OrganisatorInnen derzeit vor dem Berliner Verwaltungsgericht.

Die Leerstellen der derzeitigen Bioethik-Diskussion

Während die Betroffenen biomedizinischer Forschung meist dadurch auffallen , dass sie die Forschung massiv unterstützen - viele Gene wären nicht identifiziert worden, wenn sich die Selbsthilfegruppen nicht engagiert hätten , praktizieren Behindertengruppen und Psychiatrie-Erfahrene eine andere Form der Selbsthilfe: So wie Anfang der neunziger Jahre die Auftritte des australischen "Bio-Ethikers" Peter Singer attackiert wurden, verlangen die nie um starke Worte verlegenen Betroffenverbände Psychiatrie-Erfahrener diesmal, "dass das Treffen der Biologischen Psychiatrie sofort abgesagt wird". Mit "Abscheu und Entsetzen" sei zur Kenntnis genommen worden, dass sich der Weltkongress der Biologischen Psychiatrie in Berlin versammelt.

Stattdessen schlagen sie eine "Erinnerungstour" zu den Gedenkstätten der Euthanasie vor. Die Konferenz "Freedom of thought" sei allerdings nicht nur als Gegenveranstaltung zu dem Kongress der biologischen Psychiatrie zu begreifen, schreiben die OrganisatorInnen. Der inhaltliche Bogen ist in der Tat weiter gespannt und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Leerstellen der bioethischen Debatte in Deutschland. Zwar wird allerorten über den Status des Embryo in vitro, die Präimplantationsdiagnostik und den Stammzellen-Jungbrunnen feuilletonisiert - über den Beitrag des Humangenomprojektes zur Entwicklung von Biowaffen, die Ausgrenzung bestimmter Menschen aufgrund genetischer Merkmale und die Versuche, abweichendes Verhalten genetisch vorherzusagen und zu behandeln, ist aber selten etwas zu erfahren. Diesen blinden Flecken wendet sich "Freedom of thought "zu.

Biologische Waffen

Dazu gehört zum einen die Biowaffen-Problematik. Dr. Jan van Aken, Abrüstungs-Experte des sunshine project kritisiert, dass Biowaffen in der Öffentlichkeit kein Thema seien. So wie jede Schlüsseltechnologie werde auch die Biotechnologie für militärische Zwecke genutzt. In vielen Ländern werde an Krankheitserregern geforscht: Das russische Militär etwa habe "Milzbranderreger so manipuliert, dass herkömmliche Impfungen wirkungslos bleiben" und gleichzeitig einen neuen Impfstoff für die eigene Seite erfunden. Das US-Militär arbeite im Rahmen der Forschung an "non-lethal weapons" an ölfressenden Bakterien, die gegnerische Panzer lahmlegen sollen. Legitimiert werde die Biowaffenforschung über die Abwehr des Bioterrorismus. Die eigentlichen militärischen Interessen hinter der Forschung werden aber immer offensichtlicher. Erst kürzlich machten die USA deutlich, dass ihnen an einer Modernisierung der Biowaffen-Konvention nicht gelegen ist.

Kritik an naturwissenschaftlicher Wissensproduktion

Der eigentliche Schwerpunkt der Konferenz bezieht sich aber auf die "Allianz von Medizin, biologischer Psychiatrie und Bioindustrie". In einer Zeit, in der die Utopien biotechnische sind und das Prinzip Hoffnung in den Stammzellen gesucht wird, erlaubt sich "Geist gegen Gene" den Luxus, "jenseits utilitärer Marktlogiken" nach "philosophischen und sozialen Utopien" zu fragen.

Bemerkenswert ist dabei der theoretische Fokus der Konferenz: Schließlich erweckt die öffentliche Debatte zuweilen den Anschein, als wenn jegliche Kritik an den Biowissenschaften entweder in religiös begründeter Ethik oder in ultrakonservativem Lebensschützertum wurzeln müsste. Demgegenüber propagiert das Symposion "Geist gegen Gene" eine radikale Wissenschaftskritik, die nicht erst bei der Anwendung bestimmter Verfahren ansetzt, sondern die "Unabhängigkeit naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche" anzweifelt. Die naturwissenschaftliche Wissensproduktion soll in den Kontext "von historischen Möglichkeiten, kulturellen Bedingungen und politischen Interessenlagen" gestellt werden, um ihre Verwendung beeinflussen zu können.

Die alte Arbeitsteilung, nach der die Sozialwissenschaften reflektieren, was die Naturwissenschaften an Tatsachen produziert haben, wird hier durchbrochen. "Geist gegen Gene" nimmt die "erkenntnistheoretischen Prämissen einer zu hinterfragenden biogenetischen Logik körperlicher und geistiger Gesundheit" in den Blick. "Welche Phantasien verbergen sich dahinter? Mit welchen Versprechungen werden Wünsche und Bedürfnisse der Menschen ins Zirkulieren gebracht?"

Die Genetifizierung von Geist und Verhalten

Eines dieser biowissenschaftlichen Versprechen ist das allumfassender Gesundheit. Selten genug wird in der deutschen Debatte um die Auswirkungen der Genomforschung das Versprechen allseitiger körperlicher Gesundheit kritisiert, noch seltener allerdings werden die Visionen problematisiert, die sich um die Herstellung "geistiger Gesundheit" ranken. Indem sie auf die "Norm geistiger Gesundheit" verweise, nehme die "Ordnungsmacht" Psychiatrie in der Förderung eugenischer Modelle eine "prädestinierte Stellung" ein, betonen die "Geist gegen Gene"-InitiatorInnen.

Durch die "Systematisierung von Krankheitsbildern und Diagnostik" werde "abweichendes Verhalten" zur "Geistes-Krankheit" umdefiniert. Die Verkündigung der Biologischen Psychiatrie, sie könne "das Verhalten der Menschen mittels Genanalysen voraussagen" sei "wissenschaftlich nicht beweisbar" und entspreche einem "Mythos", so das Konzeptpapier. Vielmehr ziele die "Verhaltenswissenschaft" Psychiatrie darauf ab, ein gesellschaftlich erwünschtes Normalitäts-Profil zu erstellen, "indem sie Gesundheit zur Norm erhebt und - das ist der Clou - Norm als Gesundheit definiert." Geistige Krankheit auf Gendefekte zurückzuführen, wie es die biologische Psychiatrie tut, ist in dieser Sicht nur der Umkehrschluss der NS-Prämisse, dass "in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist" wohnt.

Häufig mündet der Hinweis auf die Rolle der Psychiatrie im Nationalsozialismus in ahistorischen Analogien zur heutigen Zeit. Es wird auf die "Schockwirkung" des Faschismus gesetzt, und die Reflektion seiner Entstehungsbedingungen und der Unterschiede zu heute ausgeblendet. Zu Recht lenkt "Geist gegen Gene" aber die Aufmerksamkeit darauf, dass die "Klassifizierung in erwünschtes und unerwünschtes Verhalten" sowohl die NS-Eugenik als auch die Biologische Psychiatrie auszeichnet. Die OrganisatorInnen schreiben, wissenschaftliche Wahrheitsproduktion sei heute zwar nicht mehr der rassistischen "Blut-und-Boden-Ideologie" verpflichtet.

Obwohl die Eugenik nach 1945 Kreide gefressen habe und als Humangenetik daher komme, sei das Ziel der "Menschenverbesserung", die "Ausmerzung von menschlich Unerwünschten" aber gleich geblieben. Im Vergleich zum Nationalsozialismus hätten sich nur die Methoden gewandelt: "Setzte der NS-Staat noch hemmungslos Repression und Zwang ein, um seine Rassenideologie durchzusetzen, funktioniert der moderne Rassismus ganz demokratisch im Sinne persönlicher Freiheit über das Versprechen Gesundheit." Hier ist die individualisierte Eugenik angesprochen, wie sie sich heute etwa im familienplanenden Paar manifestiert, das die pränatale Diagnostik in Anspruch nimmt. In Anbetracht fehlender therapeutischer Möglichkeiten kommt der Diagnostik eine Schlüsselrolle zu: Prädiktive (die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung vorhersagende) und präventive (einer Erkrankung vorbeugende) Medizin verwiesen dabei "auf eine negative und positive Eugenik, die aktuell weniger den Phänotypus als den Genotypus avisiert". Als Therapie sei in dieser Sicht nur die "Eliminierung der Krankheit" vorgesehen, die einer sozialen Eliminierung der erkrankten Person gleichkäme.

Geist gegen Gene möchte diesem Diskurs Fragen entgegenstellen, die in der "materiellen Bio-Logik des Geistes" nicht vorkommen. Es gehe darum, "der Biologisierung des Geistes mitsamt seiner Medikalisierung von sozialer Abweichung, Verhaltensabweichung und Irr-Sinn ein offenes Konzept entgegenzusetzen." Der Geist soll dem naturwissenschaftlichen Zugriff streitig gemacht werden: "Trotz Phrenologie, Elektroenzephalographie, Kernspinresonanz und Positronen-Emissions-Tomographie weiß bisher niemand, was den Geist des Menschen ausmacht."

Wer Normalität definiert, definiert auch Abweichung

Auch wenn der Rassismus-Begriff im "Geist gegen Gene"-Konzept unscharf bleibt und für jegliche Definition unerwünschten Andersseins herhalten muss, lassen sich für den behaupteten "Rassismus ohne Rassen auf der Basis von Genprofilen" einige Anhaltspunkte in der Genomforschung finden.

Nachdem sich das Humangenomprojekt mit dem Entwurf eines für alle Menschen gleichermaßen gültigen Modellgenoms damit gerühmt hat, dem Rassismus den Boden zu entziehen, startet die Genomforschung nun ein Projekt zur Erforschung der individuellen Unterschiede. "Nun wird das Genom eines anderen Menschen sequenziert", sagt Dr. Erich Wanker vom Max Planck Institut für molekulare Genetik in Berlin. Die 0,01 Prozent genetischer Unterschiede im Erbgut der Menschen - auch SNPs (Single Nucleotide polymorphisms) genannt - sollen im Hinblick auf ihre Korrelation mit Nebenwirkungen von Medikamenten erforscht werden.

Diese nun einsetzende vergleichende Genomforschung möchte die in der Bevölkerung vorhandenen genetischen Konstitutionen mittels klinischer Studien zu größeren Gruppen zusammenfassen, für die dann "genetisch angepasste Idealmedikamente" entwickelt werden sollen. Gentests könnten dann ergeben, welche Art von Medikament auf das eigene Genom zugeschnitten ist. So sagt der Genomforscher André Rosenthal von der Berliner Firma Metagen, in Zukunft würden neue Arzneimittel an bestimmte Personengruppen angepasst sein. "Wir werden auch Therapien erreichen, die auf bestimmte ethnische Gruppen zugeschnitten sind". Diese Bemerkung zeigt, wohin die individualisierte Medizin in einem vielleicht unbeabsichtigten Nebeneffekt auch führen kann: Zu der genetischen Definition von Andersartigkeit und Abweichung, von der es zu dem bereits erwähnten "Rassismus ohne Rassen auf der Basis von Genprofilen" nicht mehr weit wäre. Nur am Rande sei hier das Humangenom-Diversitäts-Projekt erwähnt, dass seit längerem die Variation in den Gensequenzen verschiedener ethnischer Gruppen erforscht - auch diese Ergebnisse könnten zur willkürlichen Diskriminierung bestimmter Gruppen benutzt werden.

Das Russell-Tribunal zur Lage der Menschenrechte in der Psychiatrie

Während "Geist gegen Gene" die Kritik an den Biowissenschaften in die Form eines Symposiums gießt, wird das fünfte "Russell-Tribunal zur Lage der Menschenrechte in der Psychiatrie" in Form eines Gerichtsprozesses abgehalten. Historischer Vorläufer dieser Art von öffentlicher Anklage ist das 1966 von dem britischen Philosophen Lord Bertrand Russell ins Leben gerufene Vietnam War Crimes Tribunal. Seitdem gab es drei weitere Tribunale, unter anderem 1998 in der Berliner Volksbühne das erste Anti-Psychiatrie-Tribunal. Ziel dieser Tribunale ist es, "staatlich legitimierte Gewalt, über der der Mantel des Schweigens hing, ins öffentliche Bewusstsein zu rufen."

Das diesjährige Russell-Tribunal soll einen wesentlichen Beitrag zur "unabhängigen und umfassenden Untersuchung und Bewertung" der Situation der Menschenrechte in der Psychiatrie leisten, schreiben die InitiatorInnen. Eröffnet wird es mit einer Grußadresse der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, die Axel Wüstenhagen, Direktor der Bonner UN-Vertretung verlesen wird.

Psychische Krankheit als psychiatrische Fiktion

Das von den US-amerikanischen Professoren Thomas Szasz (Psychatrie) und George Alexander (Recht) geführte Tribunal erhebt "Klage gegen die psychiatrische Profession und gegen Psychiater als Personen und Ärzte". Die Ankläger bezeichnen psychische Krankheit als "rechtlich-psychiatrische Fiktion" - psychiatrische Behandlung sehen sie als Effekt dieser Fiktion. Der Krankheitsbegriff diene vor allem der Selbstermächtigung der Psychiater. Indem die Psychiatrie für sich in Anspruch nehme, ein bestimmtes Verhalten als Krankheit zu definieren und zu behandeln, verkehre sie "sozial-normative Beurteilungen in pseudo-medizinische".

Vor allem greifen die Ankläger die alltägliche psychiatrische Praxis der Zwangseinweisung und das Konstrukt der strafrechtlichen Schuldunfähigkeit Psychiatrisierter an. Diese Mechanismen dienten allein "den Interessen der Gegner des Patienten", sie seien eine "Waffe in der Hand der Familie oder des Staates", um die "Kontrolle, Bestrafung und Zerstörung der Psychiatrisierten" zu erreichen. Die Stigmatisierung sogenannter psychisch Kranker stelle eine Verletzung der Menschenrechte dar. Weiter greifen die Betroffenen die "Zwangsbehandlung" in psychiatrischen Kliniken an. Sie kritisieren die alltägliche Praxis von "Fixierung, Elektroschock und Verabreichung von Psychopharmaka aufgrund der Diagnose psychischer Krankheit". Die Einweisung komme einer "Odyssee ohne absehbares Ende" gleich. Erst die Fiktion der Behandlung einer Krankheit mache es möglich, dass dieses Vorgehen nicht als Folter gesehen werde.

Die Anklage beruft sich auf Artikel 18 der UN-Menschenrechtserklärung, die jedem das "Recht auf Gedankenfreiheit" garantiert. Diese Garantie sei "nicht beschränkt auf Gedanken, die staatlicherseits für gesund gehalten werden, und beinhaltet nicht, dass eine Person beweisen müsste, dass sie nicht an einer "psychischen Krankheit" leidet. Die Grundprinzipien der Psychiatrie und ihre Ausübung stellen eine schwere, fortdauernde Verletzung dieses Artikels der UN-Menschenrechtserklärung dar", so die Anklage. Die Anklage des Russel-Tribunals gipfelt in der Aufforderung an alle Psychiater, "kollektive und individuelle Verantwortung" für ihre in der Vergangenheit und heute begangenen "Greueltaten" zu übernehmen "und sofortige Schritte (zu) unternehmen, die Unterstützung und Teilhabe der Profession daran zu beenden."

In der Jury des Tribunals sitzen u.a. die Nazi-Anklägerin Beate Klarsfeld, die US-amerikanische Schriftstellerin und Feministin Kate Millett und der Berliner Politik-Professor Wolf-Dieter Narr. Zur Verteidigung aufgefordert wurde die "World Psychiatric Association", die allerdings keinen Vertreter entsenden wird. Der Präsident des Weltkongresses der biologischen Psychiatrie, Hans-Jürgen Möller, sagte gegenüber Telepolis, "wir müssen uns nicht verteidigen, weil wir nicht angeklagt sind". Der Kongress sei "eine Art Gegenwelt, mit der keine Kommunikation möglich" sei.

Die Biologisierung des Krankheitsbegriffes

Die Kritik der Betroffenenverbände an der biologischen Psychiatrie wird jedoch auch von einzelnen Vertretern der Psychiatrie geteilt. So bezeichnet Dr. David Kaiser vom Northwest University-Hospital in Chicago den neuen Glauben an die Biologie als "Katastrophe mit weitreichenden Wirkungen auf den einzelnen Patienten". Biologische Psychiatrie folge "einem Dogma, das dringend demaskiert werden muss."

Kaiser kritisiert den biologischen Determinismus und dass geistige Krankheiten allein anhand bestimmter Symptome klassifiziert würden. Die Biologische Psychiatrie glaube, mit der medikamentösen Behandlung der Symptome sei auch die Krankheit verschwunden. Patienten, bei denen medikamentöse Behandlung nichts bewirkt hat, würden zunehmend als Patienten "mit einem schlechten Gehirn" gesehen. Diese Sicht auf den Patienten als "biologisch-beeinträchtigt" sei eine der "zerstörerischsten Wirkungen biologischer Psychiatrie". Man bekomme "den starken Eindruck, dass Patienten Abstraktionen geworden sind, schwarze Kisten biologischer Symptome", die von ihrer Vorgeschichte; den Erfahrungen der Patienten getrennt wurden. Das Gespräch mit den Patienten falle völlig unter den Tisch. Dabei litten die meisten Patienten an früheren Gewalterfahrungen, an einem Macht- oder Kontrollverlust über ihr Leben. Erfahrungen, die einer bestimmten kulturellen Umgebung entspringen. Die Biologische Psychiatrie könne nur existieren, indem sie von einer Kritik der kulturellen Bedingungen von Krankheit absehe. Krankheit generell als Unglück zu definieren, sei eine "kulturelle Katastrophe". Man müsse den utopischen Behauptungen über Glück durch medizinischen Fortschritt misstrauen, meint Kaiser.

Heute sei auch die "kulturelle Psyche" soweit infiltriert, dass es schon eine gewöhnliche Annahme sei, dass "Depression eine Krankheit ist, die durch eine chemische Unausgeglichenheit verursacht wurde." Wer aus dem Raster falle, werde von der medizinischen Wissenschaft zudem unter ein kontrollgesellschaftliches Management gestellt. Die moderne Psychiatrie übertreffe alle vergangenen Versuche, unter dem Schirm medizinischer und wissenschaftlicher Autorität Abweichungen und Unterschiede zu definieren und zu kontrollieren.