Stare zwitschern Ursonate - und stellen damit das Urheberrecht in Frage

Dürfen Vögel singen wie ihnen der Schnabel gewachsen ist?

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Oder müssen sie um Erlaubnis fragen, bevor sie urheberrechtlich geschützte Werke nachzwitschern? Mit dieser kniffligen Frage beschäftigte man sich unlängst im Hause der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH zu Berlin. Vor allem aber lauschte man dort den Gesängen norwegischer Stare, die nach Ansicht des Berliner Konzept-Künstlers Wolfgang Müller die so genannte ‚Ursonate' des DaDa-Meisters Kurt Schwitters zum Besten geben.

Die Ursonate (eigentlich: ‚Sonate in Urlauten') ist ein Lautgedicht mit Tonfolgen wie zum Beispiel "Rinnzekete bee bee nnz rrk müüüü, ziiuu ennze ziiuu", an dem Schwitters vor allem in den Jahren 1922 und 1923 arbeitete und an dem er bis 1932 immer wieder herumfeilte. Im Mai 1932 schließlich entstand eine von Schwitters selbst aufgenommene Tonfassung, auf der man den Schöpfer knarren, pfeifen, zischen und trillern hören kann.

Müller, der sich schon seit Jahren intensiv mit Singvögeln beschäftigt, konnte es nach eigenen Angaben selbst kaum glauben, als er im Juni 1997 erstmals die Stare von Hjertøya singen hörte. "Zum Glück", so Müller, "hatte ich seinerzeit eine Aufnahmegerät dabei und konnte deshalb als Beleg den Gesang der Stare von der Insel Hjertøya im Moldefjord mitschneiden."

Eigentlich war Müller auf die kleine Insel im Molde-Fjord gereist, um nach den Überresten der Hütte zu suchen, in der Schwitters von 1932 an regelmäßig seine Sommer verbrachte. Die winzige Behausung, die mal als Stall, mal als 300-jährige Schmiede bezeichnet wird, kann aufgrund der typisch schwitterschen Ausgestaltung mit Collagen, Gipssäulen, Nischen und Schnitzereien als kleinster bekannter Merz-Bau gelten. Leider hatte sich jahrzehntelang niemand um den Ort gekümmert, so dass Müller mit seiner Kamera vor allem den desolaten Zustand dokumentierte.

Im vergangenen Jahr schließlich konzipierte Müller für die Berliner Galerie Katze 5 eine Ausstellung namens ‚Hausmusik, Stare auf Hjertøya singen Kurt Schwitters', wo nicht nur die Fotografien von Schwitters' Hütte zu sehen waren, sondern auch besagte Starengesänge auf CD präsentiert wurden (Katalog und CD sind zu beziehen über Galerie Katze 5, Katzbachstraße 5, 10965 Berlin).

Daraufhin erhielt Müller einen Brief von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH, die im Namen des DuMont Verlags das Werk von Kurt Schwitters vertritt, worin es hieß: "per Zufall haben wir durch einen Zeitungsartikel von Ihrer CD-Produktion erfahren, auf der Sie ‚...mit dem Geschrei von Vögeln, - so die Angabe - die Ursonate des dadaistisch inspirierten Künstlers Kurt Schwitters intonieren.'" Es folgt die Bitte, dem Rechteinhaber mitzuteilen, von wem er "die Genehmigung hierzu erhalten habe, damit wir der Sache nachgehen können."

Nun muss man wissen, dass bis heute nicht vollständig enträtselt ist, wie Vögel denn nun eigentlich das Singen lernen. Fest steht allerdings, dass Nachahmung und beständiges Üben eine zentrale Rolle spielen. So konnten Wissenschaftler in Chicago vor wenigen Monaten nachweisen, dass Singvögel ihr Repertoire sozusagen im Schlaf lernen, nämlich indem sie in ihren Träumen immer und immer wieder das üben, was sie tagsüber von sich geben. Auf dem in diesem Zusammenhang kritischen Gebiet der Nachahmung gehören insbesondere Stare zu den begabtesten Vögeln. Erst kürzlich soll ein Däne einen Star in seinem Garten auf den Namen ‚Nokia' getauft haben, weil der Vogel das Klingeln seines Telefons so täuschend echt zu imitieren vermochte. (Vgl.Sing nicht zu hoch, mein kleiner Freund)

Was nun Schwitters, seine ‚Ursonate' und die Stare von Hjertøya angeht, so gibt es mehrere Augenzeugenberichte, die Schwitters' Begeisterung fürs Rezitieren auch jenseits der Bühne dokumentieren. So kolportiert der mit Schwitters befreundete DaDa-Künstler Hans Arp: "In der Krone einer alten Kiefer am Strande von Wyck auf Föhr hörte ich Schwitters jeden Morgen seine Lautsonate üben. Er zischte, sauste, zirpte, flötete, gurrte, buchstabierte." Es wäre also durchaus möglich, dass Schwitters auch auf der spärlich besiedelten Insel Hjertøya lautstark rezitiert - und damit die Stare beeindruckt hat.

In seinem Antwortschreiben an den Kiepenheuer Bühnenverlag beteuert Müller, er habe niemals den Plan gehegt, die Ursonate mit dem ‚Geschrei von Vögeln' zu intonieren, da er "so etwas auch für ausgesprochen peinlich hielte." Außerdem habe er von der GEMA eine Sondergenehmigung erhalten, die CD-Produktion als "Naturgeräusche" anzumelden, da es sich um Vogelstimmenaufnahmen und nicht um eine Komposition von ihm handele.

Auseinandersetzungen der absonderlichen Art sind nichts Neues für den Berliner Konzept-Künstler Wolfgang Müller. 1994 zum Beispiel wurde ihm von der tageszeitung unterstellt, italienische Feinkosthändler mit Blaumeisen zu beliefern. Die Presse stürzte sich auf Müller, der in einer Schlagzeile gar als ‚Der Meisen-Schlächter von Kreuzberg' diffamiert wurde. Zu Unrecht - denn Wolfgang Müller würde nicht mal im Traum einfallen, das putzige Federvieh, das vor seinem Küchenfenster nistet, ans Messer zu liefern. Schließlich ist er ein erklärter Freund der Blaumeise und hat sogar ein Buch geschrieben über den possierlichen Singvogel, das 1998 erschienen ist (BLUE TIT - das deutsch-isländische Blaumeisenbuch).

Jedenfalls war Wolfgang Müller sehr gespannt auf die Antwort aus dem Hause Kiepenheuer. In seinem Brief vermerkte er:

Wenn Sie Pläne fassen, das Urheber- und Aufführungsrecht für Kunstwerke musikalischer und darstellender Art auch auf Tiere selbst, in diesem Fall imitationsbegabte Vögel auszuweiten, würde mich das persönlich sehr interessieren.

Er gab allerdings zu bedenken, dass es schwer fallen dürfte, auch die Stare von Hjertøya zur Kooperation zu überreden. Außerdem könnte es

durchaus sein, dass in der Zukunft noch mehr imitationsbegabte Vogelarten urheberrechtlich geschützte Werke von Kurt Schwitters und anderen imitieren und interpretieren, ohne zuvor eine Genehmigung bei der Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH einzuholen.

Tatsächlich können Tiere - im Gegensatz zum Menschen - keine Urheberrechte verletzen, weil für einen solchen Akt bewusstes Handeln vorausgesetzt werden muss. Dennoch ist man sich beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht in München nicht so ganz sicher, ob Müllers Starenaufnahme nicht doch eine Verletzung des Urheberrechts darstellt. Allerdings müsse man dazu, so Urheberrechtsexperte Paul Katzenberger, die folgende Kausalität akzeptieren: Die Stare haben Schwitters die ‚Ursonate' abgelauscht und sie dann über Generationen hinweg von Star zu Star weitergegeben. Die Müllersche Aufnahme wäre dann eine Einspielung der ‚Ursonate' über den Umweg der Stare und könnte damit durchaus eine Verletzung des Urheberrechts darstellen. Anders würde es dagegen aussehen, wenn Schwitters bei der Komposition der ‚Ursonate' seinerseits Elemente von Staren- und anderem Vogelgesang verwendet hätte, worauf es übrigens starke Hinweise gibt - man denke nur an Schwitters' Lautgedicht ‚Obervogelgesang'.

Inzwischen hat man sich im Hause Kiepenheuer aus der Affäre gezogen, indem man sich die Müllersche Sicht der Dinge zu eigen gemacht hat und davon ausgeht, dass es sich bei den Starengesängen um in der Natur vorgefundenes Material handelt. Im Klartext heißt das: Stare und andere stimmbegabte Tiere dürfen Schwitters nach Herzenslust intonieren, und wer will, darf davon Aufnahmen anfertigen und unters Volk bringen. Was aber, wenn jemand seinem Papagei die ‚Ursonate' beibringt? So lange keine Grundsatzentscheidung zum Thema ‚Tiere und Urheberrecht' vorliegt, würde Paul Katzenberger aus urheberrechtlicher Sicht davor abraten. Sie könnten sich unbeabsichtigt schuldig machen.