Der Neoliberalismus ist eine Werteentscheidung

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Zuvor: Pierre Bourdieu: Gegen die Brüsseler Technokraten
Ulrich Beck: Demokratische Re-Regulierung
Joschka Fischer: Der Euro als Chance für eine europäische Diskussion
Ulrich Beck:: Die Bedeutung von transnationalen Institutionen
Pierre Bourdieu: Der Beitrag der Intellektuellen

Foto von Susanne Gölitzer

Für mich bedeutet Neoliberalismus keine ökonomische, sondern eine Werteentscheidung, daß letztlich der Besitzindividualismus höher rangiert als soziale Solidarität. Warum diese Werteorientierung einen solchen Siegeszug angetreten hat, ist für mich eine zentrale Frage, wenn man über die Rekonstruktion einer nachsozialistischen Linken nachdenkt. Ich habe tragfähige Antworten nicht bekommen, aber ich bin gnadenlos optimistisch, da sie vielleicht noch kommen.

Diese Werteentscheidung wird gegenwärtig auf Europa projiziert. Mein Problem, um auf Tietmayer versus Bourdieu einzugehen, als Politiker ist, daß es offenbar einen Unterschied in der Betrachtung der Bundesbank und der seines Präsidenten gibt. Er hat als Präsident einen gesetzlichen Auftrag, daß er nur der Stabilität der DM verpflichtet ist. Wenn er das nicht verwirklicht, müßte er zurücktreten. Was ich bewundernswert finde, ist, daß viele Linken mittlerweile meinen, daß das auch so richtig ist. In Deutschland würde kein Intellektueller darauf kommen, Tietmayer anzugreifen. Das ist ein Unterschied zwischen der Sicht von außen und der Binnensicht. Wir diskutieren hier heftig über Europa und wie schlimm das alles ist, aber kaum jemand nimmt die kleine Nachricht zur Kenntnis, daß die tschechische Republik jetzt die Doppelbindung an Dollar und DM unter dem Druck der Märkte aufgeben mußte und jetzt nur noch an der DM hängt. Ja, wir gehen pfleglich damit um und kümmern uns gar nicht darum.

Ich bin nachdrücklich dafür, daß wir nicht unseren ganzen Kanon an Grundrechtsgarantien zugunsten einer abstrakten Idee Europa wegwerfen. Aber darum geht es heute gar nicht. Wir plädieren gegenwärtig dafür, die Verfügung über eine europäische Zentralwährung namens DM zugunsten einer europäischen Verfügbarkeit aufzugeben. Das führt zu großen Problemen, aber niemand plädiert für das Wegwerfen. Wenn man an Bosnien 1992 und 1993 und die Konsequenzen, an die Nicht-Existenz von Europa und des Westens und an die Existenz der historischen Kontroversen zwischen Deutschland, Österreich, Frankreich und England denkt, dann hat hier eine fatale Geschichte gesiegt.

Man diskutiert gegenwärtig etwas blauäugig über den nationalen Sozialstaat diskutiert. Europa dient als Anti-These für die schönen sozialen Zustände auf nationaler Ebene, als wenn die Linke ihre Kritik von gestern überhaupt nicht mehr Kenntnis nehmen würde. Der Keynsianismus in Westeuropa und der USA im Kalten Krieg war im wesentlichen ein Militär-Keynsianismus, d.h. getragen von der Rüstungsspirale und den entsprechenden Investitionen, die alle Volkswirtschaften über Jahrzehnte hinweg unter dem Druck des Kalten Krieges getätigt haben. Das sollte man bei all dem nicht vergessen, z.B. den Ressourcentransfer, der aus der Dritten Welt in die Erste Welt stattgefunden hat. Wenn wir heute über diese Phänomene sprechen, dann werden wir nicht rückwärts gewandt diskutieren können, weil das im Reaktionären landet, sondern wir werden die richtige Kritik vornehmen müssen, nämlich soziale und demokratische Verhältnisse zu institutionalisieren. Wenn man dann sagt, man müsse mit dem Nationalstaat pfleglich umgehen, weil die Linke so schwach sei, dann ist für mich das Kind endgültig mit dem Bad ausgeschüttet. Jetzt beginnt auf der nationalen Ebene mit der Frage des Euros und der anstehenden Wahlentscheidungen und gleichzeitig auf der europäischen Ebene die wirkliche Europäisierung. Dazu gehören Demokratie und soziale Ausgestaltung, dazu gehört aber auch, daß Europa als Wirtschaftsraum in der Lage ist, eigene Standards zu setzen.

Stellt euch vor, das europäische Kartellamt hätte Einwände gegen die Fusion von Lockheed und Boing. Das würde in Washington nicht einmal ein Lächeln hervorrufen. Wenn die EU das macht, gibt es schon größere Probleme. Unter den Bedingungen der Globalisierung kann die Alternative nicht sein, ob wir Europäer werden oder gute demokratische Deutsche, Franzosen, Briten oder Dänen bleiben. Wenn wir dem Prinzip Tietmayer folgen und die DM kräftig gegen den Übergang auf die europäische Ebene verteidigen, dann werden wir vom Dollarraum nachdrücklich und nachhaltig bestimmt. Das trifft auch für die intellektuelle Ebene zu. Man sollte auch darüber nachdenken, welche Bedeutung die intellektuelle Hegemonie im Internet und in den anderen Medien hat und welche strategische Bedeutung dies auf der anderen Seite des Atlantiks hat. Mein Problem ist nicht ein Anti-Amerikanismus, aber wenn wir unsere eigenständige soziale Tradition in Zukunft auch behalten wollen, dann wird das soziale Europa nur Wirklichkeit werden, wenn wir groß genug sind, die politischen Entscheidungen für uns zu treffen. Die Nationalstaaten werden nicht mehr als Entscheidungsgrundlagen dafür dienen können. Insgesamt sehe ich im Euro eine Chance, die die Linke nutzen sollte. Sie sollte sich nicht auf eine anti-europäische Position zurückziehen.

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