Ich glaube nicht an Kommunikation!

Interview mit Douglas Davis, einem der Pioniere der Medienkunst

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Douglas Davis gilt heute als einer der ersten Videokünstler. Doch auch wenn der New Yorker zusammen mit Nam June Paik zu den ersten Pionieren des damals jungen Genres in den späten 60er und frühen 70er Jahren gehörte, umfasst seine Arbeit einen wesentlichen größeren Bereich. Er hat nicht nur eine Reihe von Videobändern gemacht, die heute zu den Klassikern des Genres gehören, sondern auch Bücher geschrieben, Installationen, Skulpturen und Performances gemacht, und in den letzten Jahren auch Arbeiten für das Internet geschaffen.

Von 1969 bis 1988 war Davis neben seiner Arbeit als Künstler auch Architektur- und Fotografiekritiker des amerikanischen Magazins "Newsweek"; seine Text zur Gegenwartskunst erschienen unter anderem in "Art Forum". Er hat mehrere Bücher geschrieben, und sein Standardwerk "Art and the Future" (1972), das wohl die erste Geschichte der Medienkunst war, erschien 1974 unter dem Titel "Vom Experiment zur Idee - Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Zeichen von Wissenschaft und Technologie" im DuMont-Verlag auch auf Deutsch.

Sein World's First Collaborative Sentence, der 1994 von der Lehman College/CUNY Art Gallery in Auftrag gegeben wurde und sich heute im Besitz des Whitney Museum befindet, war nicht nur eins der ersten Kunstwerke, das für das WorldWideWeb geschaffen wurde, sondern wahrscheinlich das erste Netzkunstwerk überhaupt, das von einem Sammler gekauft wurde. Auch seine Netzarbeiten MetaBody befindet sich mittlerweile im Privatbesitz. Obwohl er inzwischen 63 Jahre alt ist, ist er immer noch als Künstler im Netz aktiv: zur Zeit arbeitet er an einem kollaborativen Projekt mit dem Titel Terrible Beauty.

Dass Davis sich mit dem neuen Medium Internet so schnell anfreudete, liegt nicht zuletzt daran, dass sich auch seine eigenen Arbeit mit der Möglichkeit beschäftigen, die Massenmedien als Kommunikationsmedien zu benutzen. Seit der Fernsehperformance "Elektronic Hokkadim", die er 1971 beim Washingtoner Fernsehsender W.T.O.P-TV durchführte, hat er in seinen Arbeiten immer wieder versucht, das Massenmedium Fernsehen zu "entmassen", indem er sie zu einem Austausch mit dem Publikum nutzte.

Schon in den 70er Jahren schuf er eine Reihe von Live-Satelliten-Performances, die den interaktiven Gebrauch des Fernsehens als Kunstmedium erprobten, In ihnen versuchte er, über das Massenmedium mit seinem Publikum in einen intimen, privaten Dialog zu treten. Seine Fernsehperformance "The last nine Minutes", die der Hessische Rundfunk 1977 bei der Eröffnung der documenta ausstrahlte, wurde von einem Publikum auf der ganzen Welt gesehen. Wie er im folgenden Interview betont, hat das Internet die Hoffnungen, die er als Künstler in Fernsehen und Radio setzte, erfüllt.

Sie werden normalerweise als ein Videokünstler bezeichnet, aber bei vielenIhre Arbeiten geht es eher um Telekommunikation als um die Produktion von Videobändern. Können Sie diese Tendenz in ihrer Arbeit erklären?

Douglas Davies: Ich war nie ein reiner Videotape-Künstler oder Videokünstler. Ich hatte eher das Bedürfnis, Bilder, Ideen, Klänge durch diese Wände der sogenannten Medienkategorien zu bewegen. Ich habe eigentlich nie etwas in nur einem Medium gemacht. Ich habe vielmehr mit viel Vergnügen Video oder Webvideo oder Websites mit Zeichnungen, Fotografie, Drucken, Objekten und Theater kombiniert. Mir geht es darum, die Medien zu zerstören. Die Massage ist das Medium, das habe ich wenigstens zu der Tochter von McLuhan gesagt, die in den 70er Jahren mit mir befreundet war. Sie gab mir recht.

Der andere Mythos über mich ist, dass meine Arbeit der "Kommunikation" gewidmet ist. Ich glaube nicht an Kommunikation! Ich glaube an das große Abenteuer, Kommunikation zu 'versuchen', besonders über große Distanzen, sei es Zeit, Sprache, Raum, Geographie oder Geschlecht. Das ist eine besondere Herausforderung. Es funktioniert fast nie, außer in einem kurzen Augenblick oder zwei.

Sie haben vollkommen recht damit, dass der größte Teil meiner Videoarbeiten diesem Abenteuer gewidmet ist, und es mir nicht um Videobänder auf einem Bildschirm in einer Galerie geht. Das macht keinen Spaß. Es macht viel mehr Spaß, zur ganzen, entfernten Welt zu sprechen. Das hat meine Satelliten-Performance "Seven Thoughts" motiviert, die 1976 im Astrodome aufgeführt wurde.

Sie waren in den 60er Jahren Kunstkritiker, bevor sie als die ersten Performances gemacht haben. Können Sie etwas über die Entwicklung sagen, die Sie zur Kunst geführt hat?

Douglas Davies: Auch so ein Mythos. Das Schreiben und die Kunst sind beides eine Performance. Ich habe das getan seit ich ein kleiner Junge war. Niemand hat mir gesagt, dass das eine sich nicht mit dem anderen vereinbare lässt, bis ich angefangen habe, viel zu schreiben und auszustellen. Dann wurde ich darüber aufgeklärt, dass ich nicht beides tun und dabei rein bleiben kann. Naja, für mich ist Unreinheit interessanter.

Sie haben gesagt, dass die es bei ihren Performances darum ging, die Massen zu "entmassen". Können Sie sagen, was damit gemeint war?

Douglas Davies: Die "Austrian Tapes" und die "Florence Tapes" waren keine reinen Videobänder, sondern interaktive Performances. In den ersteren bitte ich die 'Zuschauer' darum, mich auf dem Monitor mit den Händen, der Brust, dem Rücken und so weiter zu berühren, und sich zu fragen, ob man sich wirklich berührt. Im zweiten bitte ich darum, sich vollkommen auszuziehen, die Füße gegen meine Füße zu pressen, und sich zu fragen: "Wer ist oben, wer ist unten?"

Wenn ich eine Performance in einer Galerie oder in einem Theater mache, versuche ich, das Publikum, das über Radio oder Video oder das Netz zuhört oder -sieht, ebenfalls in die Performance einzubeziehen, indem ich ihnen Fragen stelle oder auf andere Weise Reaktionen auszulösen versuche. In "Double Entendre", das 1981 das Whitney und das Centre Pompidou miteinander verband, habe ich das Publikum, das von draußen zugehört hat, aufgefordert, mich anzurufen und mir eine Rat zu geben, als ich mich entscheiden musste, ob ich über den Ozean fliegen sollte, um meine Liebesaffäre zu retten. In der letzten Aufführung von "Terrible Beauty", der globalen Erzählung, die sich nun im Netz entwickelt, wird das Publikum komplett die Kontrolle übernehmen: Ich werde gefesselt, geknebelt und hilflos sein. Sie werden alle Handlungsfäden selbst zuende bringen.

Manchmal setzte ich mich neben einen Zuschauer. Als ich im letzten Herbst meine Internetarbeit "Terrible Beauty" in San Francisco aufgeführt habe, habe ich das Publikum mit Computergerüchen eingesprüht und bat sie dann, mich auch zu besprühen. Dann haben wir aneinander geschnüffelt - nur, damit alle mitmachen und nicht bloß rumsitzen.

Die meisten meiner Drucke, Zeichnungen und Fotos regen einen dazu an, sie zu bewegen oder zu berühren. Wenn man so etwas tust und nicht bloß rumsitzt, dann ent-masst man den Kontakt zwischen uns. Sie verstehen, dass Sie der Hauptakteur sind, nicht ich. Es ist Ihre Wahrnehmung, die die Arbeit zu dem macht, was sie ist.

Anfang der 70er Jahre gab es in den USA eine Reihe von Videogruppen, die ihr eigenes Fernsehprogramm machen wollten, nicht bloß Videobänder, wie zum Beispiel die Videofreaks. Hatten Sie mit diesen Gruppen etwas zu tun?

Douglas Davies: Ganz am Anfang habe ich in Washington mit einer Gruppe gearbeitet, die The New Group hieß und Ende der 60er Jahre Performances, Events und interaktive Medienarbeiten gemacht hat. Als ich nach New York gezogen bin, habe ich oft in informellen Ad-Hoc-Allianzen mit Künstlern wie Paik, Campus, Viola und anderen gearbeitet. Ich kannte die Video Freex und Raindance, und habe auf informelle Weise mit ihnen kollaboriert. Mit diesem ganzen Gruppenphänomen ist es aber Anfang der 80er Jahre vorbei gewesen.

Bitte erzählen Sie über die Performance "Seven thoughts", die Sie 1976 im Huston Astrodome gemacht haben...

Douglas Davies: Ich wollte unbedingt etwas mit Satelliten machen. Das war das große Unbekannte, und darum exotisch. Ich wollte es benutzen, um damit sehr avantgardistisches, konzeptuelles Video zu verbreiten, etwas, das niemand erwartet oder sich gewünscht hatte. Damals hatte noch kein Künstler irgendetwas mit Satelliten gemacht. Wir haben gedacht, dass wir, wenn wir Glück hätten, vielleicht einen Fernsehsender überzeugen könnten, eine "Live" Performance zu machen oder ein paar Minuten Videokunst zu zeigen. Doch dann empfand ich das als zahm und dachte, dass das all die Zeit und das Stiefelküssen, die nötig sein würden, um das zu erreichen, es nicht wert wären. Ich wollte lieber den Satelliten für mich selbst haben, und sei es nur ein kleines Bisschen. Das erschien mir als der radikalere Schritt.

Unterstützt wurde ich dabei vom Contemporary Arts Museum in Huston und dessen Direktor James Hariths, der die erste Videoabteilung am Everson Museum in Syracuse einrichtete, und David Ross als Kurator einstellte. Wir entscheiden uns dafür, den ComSat Satellite anzumieten, um mit ihm eine kompromisslose Performance zu machen. Es war anscheinend das erste Mal, dass das ein privater Bürger getan hat. Das war für mich ein Wunder: dieses Satellitensystem war mit unserem Steuergeld eingerichtet worden, warum durften wir es da nicht auch benutzten?

Als ich wusste, dass die ganze Arbeit in Houston stattfinden würde, dachte ich an den Astrodome, der das zu dieser Zeit größte, überdachte Stadion der Welt hatte, aber vor allem, was noch viel wichtiger war, ganz rund war. Für mich war die Verbindung zwischen dem Satelliten und diesem "Dome"-Dach sehr wichtig. Wir haben schließlich die Genehmigung erhalten, den Astrodome am Abend des 29. Dezember 1976 zu benutzen, denn an dem Tag war er leer und darum billig zu mieten. Das wäre sonst gar nicht gegangen, weil weder ich noch das Museum sehr viel Geld hatten. Wenn Giuseppe Panza, ein Sammler aus Mailand, nicht Geld für eine Arbeit gegeben hätte, hätte ich die "Seven Thoughts" nie äußern können.

Gab es dabei ein Publikum?

Douglas Davies: Im Astrodom war niemand außer den Leuten, die an der Performance mitgearbeitet haben. Aber das Signal aus dem Astrodome hätten Leute auf der ganzen Welt mir ihren Empfangsgeräten hören können. Fernseh- und Radiosender auf der ganzen Welt haben unsere Sendung empfangen und ausgestrahlt. Die "Seven Thoughts" waren freie Gedanken. Wir haben an alle Comsat-Empfänger ein Telegram geschickt. Ich habe den Menschen auf der ganzen Welt sieben sehr persönliche Gedanken angeboten. Für mich war besonders die Privatheit dieser Sendung wichtig. Ich wollte keine imperialistische Massenbotschaft verbreiten, sondern in persönlichen Kontakt mit jemandem treten... mit Dir... wo immer Du auch warst.

Die Performance begann um halb zehn. Wir konnte das ganze riesige Stadion mit seinen Lichtern und seinen Anzeigetafeln nur für 30 Minuten mieten. Um 9 Uhr 28, als ich gerade anfangen wollte, kam einer der Hausmeister mit einem Telefon angelaufen, und rief: "Da ist jemand aus Bombay in Indien dran. Sie müssen denen die sieben Gedanken sagen, bevor sie das im Radio ausstrahlen." Aber ich hatte keine Zeit mehr. "Sag denen, dass es ein Gruß zum neuen Jahr ist", antwortete ich, bevor ich hinaus aufs Feld lief, damit ich um genau halb zehn anfangen konnte.

Dann begann der stille Teil der Performance, die von den Kameras aufgezeichnet wurden, die von der Decke des Stadions hingen. Ich lief mit der kleinen schwarzen Kiste, in der die sieben Gedanken waren, im Kreis herum. Nach 20 Minuten ging ich in die Mitte des Stadions, wo von oben ein Mikrophon heruntergelassen wurde. Zwischen 9 Uhr 40 and 9 Uhr 50 sprach durch das Dach des Stadions über den Satelliten zu den Ohren der Welt. Wir hatten nur zehn Minuten für die direkte Sendung. Mir gefiel diese Komprimierung und diese Dichte. Nachdem ich die sieben Gedanken in das Mikrophon gesprochen hatte, verschloss ich die kleine schwarze Kiste, in der die Gedanken immer noch stecken und die heute in Milan ist.

Was waren die sieben Gedanken?

Douglas Davies: Sie waren mal frei. Jetzt sind sie geheim. Nicht mal Panza kennt sie - er hat versprochen, sie für immer verschlossen zu halten.

Auch bei ihrer Performance, die sie für die Eröffnung der Documenta 1977 gemacht habe, ging es um Satelliten...

Douglas Davies: Sie hieß "The last nine minutes", wurde vom Hessischen Rundfunk produziert, und rund um die Welt ausgestrahlt, sogar in die Sowjetunion. Es muss das größte Publikum gewesen, das irgendein Kunst-Event bis dahin gehabt hatte.

Es gab drei Performances. Die erste war von Nam June Paik und Charlotte Moorman. Als nächster war Joseph Beuys dran, der eine unglaublich schöne, vollkommen anarchistische Botschaft an die Welt verbreitete - trotz einer Reihe von Drohungen, ihn zu zensieren. Worte scheinen immer noch eine größere Bedrohung zu sein als Paiks Bilder oder meine stille Performance.

Meine Arbeit hieß "The Last 9 Minutes", weil ich die letzten 9 Minuten der Sendung für meine Performance hatte. Ich ging wieder im Kreis, man sieht mich, wie ich um das Zentrum des Fernsehmonitors gehe, und versuche, Dich zu finden, zu Dir zu sprechen, Dich zu berühren. Meine aufgezeichnete Stimme sagt, einmal auf Englisch, einmal auf Deutsch, während der Text in Spanisch über den Bildschirm läuft: "Wo immer Du auch bist, ich werde Dich in neun Minuten finden. Ich werde alle Ecken, alle Winkel in diesem Raum und in Deinem Raum durchsuchen. Lege Deine Hände auf den Bildschirm. Lass mich Deine Uhr ticken hören. Wir werden diese Begrenzung in neun Minuten zerstören."

Am Schluss gab es einen "Count-down", ein Performer aus Caracas zählte auf der anderen Seite des Atlantiks in Spanisch von "10" runter zur "1". Ich forderte alle Zuschauer dazu auf, zusammen mit mir bei "eins" durch die Mattscheibe zu brechen. Wie durch ein Wunder krachten wir beide genau bei "1" gegen den Monitor, dann wurde der Bildschirm schwarz. Am nächsten Tag kam in einem Kasselaner Supermarkt eine Frau zu mir und sagte: "Ich Sie letzte Nacht im Fernsehen gesehen. Jetzt müssen Sie mit zu mir kommen und meinen kaputten Bildschirm reparieren." Sie hat die ganze Sache verstanden, oder?

Eine andere Satellitenarbeiten von Ihnen war "Double Entendre", das 1981 in New York und Paris aufgeführt wurde. Worum ging es dabei?

Douglas Davies: Das war die nächste Satellitenarbeit nach der Documenta. Es ging dabei um eine Verbindung zwischen dem Whitney Museum of American Art und dem Centre Pompidou. In Paris war eine Frau, und ich war in New York. Wir unterhalten uns, dann beginnen wir zu flirten, und dann, uns zu verführen. Ich spreche nur englisch, sie spricht nur französisch, aber wir sagen dieselben Sachen zueinande, und verdoppeln die Sprache. Viele der Sachen, die wir sagten, kamen aus einem damals neuen Buch von Roland Barthes, den "Fragmenten einer Sprache der Liebe". Das war der Beginn seines Abschieds von der Kurzsichtigkeit des Strukturalismus, und ich bewunderte ihn dafür. Er starb leider nicht lange, nachdem wir uns 1977 kennengerlernt hatten, in einem Jahr, das in meinem Leben ganz entscheidend war.

Am Schluss der Performance sage ich: "Ich halte diese Trennung nicht mehr aus, ich komme jetzt sofort über den Atlantik." Das bezog sich auf Barthes' Text, weil er da sagt, dass sowohl die Liebe wie auch die Sprache eine Art Sprung ist. Ich bitte sie darum, da zu bleiben, wo sie ist und renne aus dem Whitney Museum hinaus. Man sieht mich, nun endlich auf Video, wie ich die Park Avenue entlang laufe. Sie spricht unterdessen mit dem Publikum und fragt, ob sie gehen oder bleiben soll. Schließlich entschließt sie sich, davon zu laufen. Sie rennt also runter zu dem Platz vor dem Centre Pompidou und ich lande direkt vor ihr! Wir jagen einander ein bisschen, und schließlich umarme ich sie. "Double Entendre" endet mit unserer Umarrmung, weit weg, im Zwielicht - es ist abend in Paris, nachmittag in New York. Wir stehen da und verschmelzen mit der Dunkelheit, während zwei Stimmen gleichzeitig auf Französisch und Englisch darüber spekulieren, was der Doppelsinn dessen, was da gerade passiert ist, sein könnte.

In Ihrer Biografie erwähnen sie auch eine Reihe von Performances, die Sie mit Komar & Melamid in den 70er Jahren gemacht hatten, als die noch in Moskau lebten. War es nicht schwierig, zu dieser Zeit mit Dissidentenkünstlern hinter dem "Eiserner Vorhang" in Kontakt zu treten?

Douglas Davies: Das hatte damit zu tun, dass ich noch während des Kalten Krieges in den 70er Jahren nach Russland reisen konnte. Ich kam dort in der Woche an, bevor Breschnew den SALT I Vertrag unterzeichnete, der es möglich machte, dass man als Amerikaner zum ersten Mal seit 50 Jahren herumreisen konnte. Mir wurde erlaubt, das Atelier von Rodtschenko zu besuchen. Der letzte Amerikaner, der vor mir dort gewesen war, war 1955 Alfred Barr gewesen.

Ich traf auch einige der jungen russischen Dissidentenkünstler, und war besonders von den Arbeiten von Ilya Kabakov und den Konzeptkünstlern Vitali Komar & Alexander Melamid beeindruckt, die ich jetzt oft sehen, weil sie inzwischen in New York leben. Aber damals konnten wir uns nicht vorstellen, dass wir uns jemals wieder treffen würden. Es war schon wie ein Wunder, dass ich überhaupt da war. Also überlegten wir uns, dass wir ein transatlantisches Kunstwerk schaffen würden, und zwar mit den einzigen Medien, die uns zu dieser Zeit erlaubt waren: das Telefon und der Fotoapparat.

Ich konnte kein Russisch und sie kein Englisch, aber wir hatten Freunde, die uns halfen. Ich hatte die Idee, dass wir eine Linie auf meine Wand und sie eine auf ihre Wand malen könnten, diese fotografieren und dann Fragen über die Bedeutung dieser Linie per Post austauschen sollten, wodurch die Arbeit in beiden Städten existieren und in der Mitte zusammenkommen würde. Ich machte das erste Foto um Mitternacht am 31. Dezember 1975, und sie machten ihr Bild um 8 morgens am 1. Januar 1976 - also im selben Augenblick.

Es gab keine anderen derartigen Kollaborationen, und deswegen interessierten sich natürlich die Geheimdienste wie der KGB und der CIA sehr für die ganze Sache. Vitali und Alexander wollten sehr offen sein, denn wenn wir versucht hätten, irgend etwas geheim zu halten, hätte es wahrscheinlich richtig politischen Ärger gegeben. Darum sprachen wir am Telefon vollkommen offen über die ganze Sache, und es war mir möglich, Material von ihnen zu bekommen, das ich in der Zeitschrift "Domus" veröffentlichte, die es auch in jeder russischen Bücherei gab, was die Arbeit - die wir "Questions Moscow New York" nannten - sehr bekannt machte. Der KGB stellte Fragen, aber sie haben nie etwas getan, um es zu beenden. Der CIA hat nie irgend etwas gefragt, aber auch sie haben es nicht unterbunden.

Ursprünglich wollten wir vier Bilder machen: Eins zu Silvester, eins am 1. Mai, eins am 4. Juli, und eins am 25. November, dem Jahrestag der Oktoberrevolution. Auf dem letzten Bild trugen sie Mäntel, so, als würden sie gleich ausgehen, und das nächste, was ich von ihnen hörte, war, dass sie erfolgreich nach Israel ausgewandert waren! Das fünfte Bild wurde darum in Tel Aviv und New York gemacht, und für das letzte Bild, oder für das, was wir für das letzte Bild hielten, kamen sie schließlich nach New York, und wir machten eine Aufnahme in meiner Galerie, auf dem man sieht, wie wir die Linie von der Wand reißen.

Fünfzehn Jahre vergehen, es ist Perestroika, und 1991 fahre ich nach Moskau. Wir machen aus, dass wir noch ein Bild machen, bei dem alles anders herum ist: ich stehe auf dem Roten Platz, und sie vor dem Rockefeller Center. Es ist ein wunderschönes, farbiges Wandgemälde.

Ihr "World's Longest Sentences" war eines der ersten Kunstwerken im Internet, wenn nicht sogar das erste überhaupt. Wie sind Sie darauf gekommen, etwas im Internet zu machen? Und was für Erfahrungen haben Sie mit dieser Arbeit gemacht?

Douglas Davies: Das war alles ein Wunder. Ein winziges Kunstmuseum in der Bronx, dem ärmsten Bezirk in den ganzen Vereinigten Staaten, bekam 1994 einen eigenen Webserver, was damals noch eine recht seltene Sache war. Susan Hoeltzel, die Leiterin, bat mich darum, eine neue Arbeit zu schaffen, die mit dem Titel der Ausstellung zu tun hatte, die "InterActions (1967-1981)" hieß, und in der es um meine frühe Arbeit ging. Sie hatte auch die Idee, die ganze Show im Netz zu dokumentieren.

Ich dachte sofort an die Tastatur, das Mittel zur Interaktion, die es beim Computer gibt, aber nicht bei Video oder anderer "flacher Kunst". Der riesige Unterschied zwischen dem Fernsehen und dem Web ist die Tastatur: damit kann man alles sagen, und alle Möglichkeiten, sich auszudrücken, stehen einem damit zur Verfügung.. Das bedeutet, dass es eine intensivere und persönliche Verbindung zwischen mir und dem Publikum entstehen kann - und warum sollte man nicht die ganze Welt dazu bekommen, zusammen einen Satz zu schreiben.

Wissen Sie von irgendwelchen anderen Künstlern, die zu dieser Zeit das Internet als Kunstmedium benutzt haben?

Douglas Davies: Das war 1994. In dieser Zeit gingen immer mehr Leute mit ihren Heimcomputern online. Al Gore hatte das sogar im Präsidentschaftswahlkampf von 1992 zum Thema gemacht. Aber niemand verwendete das Internet, um damit Kunst zu machen. Alle Museen waren schon online. Man konnte sich Web die Sammlung des Nationalmuseums in Canberra oder so etwas ansehen, aber es gab keine neue Kunst für das Internet.

Als wir mit der Arbeit anfingen, versicherten mir meine Kollegen Robert Schneider und Gary Welz, dass man ein Programm schreiben könnte, das verhinderte, dass man einen Punkt schreibt. Das bedeutet, dass einem, sobald man sich an dem "Satz" beteiligte, klar wurde, dass man zu einem fortgehenden Statement beiträgt, das nie aufhört. Meine Arbeit mit Dir und der Welt ist ein Abenteuer, das niemals aufhört. Jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr ändert es sich. Inzwischen sind die Beiträge grafisch viel avancierter als früher. Der Satz strahlt jetzt in einem heißen Pink und hat pulsierendes Java, Video, Audio, Farbe, einfach alles. Am Anfang war er schwarz-weiß, aber voller Seele und Persönlichkeit.

Die ursprüngliche Leidenschaft ist noch da, aber sie ist inzwischen so gut designt, dass man überhört, was die Welt da sagt. Das Wichtigste am "Sentence" ist der Inhalt. Im Jahr 2000 wird das Whitney, dem der "Sentence" jetzt gehört, zusammen mit der Kunstbuchhandlung Printed Matter und mir die Arbeit zum erstenmal ausdrucken, um "The World's First Collaborative Book" zu publizieren.

Glauben Sie, dass das Internet erreicht hat, was sie mit ihren Performances erreichen wollten? Die Massenmedien zu ent-massen?

Douglas Davies: Ja. Es ist das definitive Mittel, wenn man wirklich intensive Reaktionen von den Leuten haben will. Bei Arbeiten wie "The world's longest Sentence" können sie sich aktiv an der Entwicklung von etwas beteiligen. Ich bin immer noch absolut überwältigt davon, wie viele Leute sich mit dem Satz beschäftigen, und was sie mit ihm machen. Andererseits. Nieder mit allen Medien! Nieder mit dem Web! Hoch mit...Dir!

Aber wie "interaktiv" ist es, an einem Satz weiterzuschreiben, der so lang ist, dass ihn nie jemand zuende lesen wird?

Douglas Davies: Aber die Leute lesen den Satz doch. Wenn wir ein Buch machen, werden sogar noch mehr Leute den Satz lesen. Wenn man selbst viel Zeit auf diesen Satz verwendet, wird man sicher auch seinen Freunden davon erzählen. Wenn man den Satz liest, kriegt man auch die Interaktion mit, die es zwischen den Leuten gibt. Es gibt verschiedene Themen, die immer wieder vorkommen, zum Beispiel die linguistische Natur dieser Sache - ist das überhaupt ein Satz? -, aber auch Einsamkeit, Zeit, Raum, Liebe, Verlangen, Kunst, Poesie, Politik.

Es gibt in dem Satz auch eine Menge persönlicher Enthüllungen. Es ist auf jeden Fall wesentlich tiefer als der Quatsch, der normalerweise auf Chatlines vorgeht. Die Leute enthüllen dort Dinge über sich, zum Beispiel darüber, wie ihre Eltern gestorben sind oder wie ihre Beziehung auf entsetzliche Weise zuende gegangen ist, oder Probleme mit der Polizei. Es geht da um ziemlich schlimme Sachen. Andererseits gibt es auch viel Humor, Wortspiele und dergleichen.

Aber trotzdem: technisch betrachtet füllen die Leute lediglich ein Formular aus, das ein anderer für sie geschaffen hat...

Douglas Davies: Das sehen Sie vielleicht so, aber nicht jeder andere, Gott sei dank. Ich könnte auch das genaue Gegenteil sagen. Der Grund, warum der "Sentence" so eine interaktive Gemme ist, ist der, dass es keine Regeln gibt, außer der einen: Man darf keinen Punkt machen. Die Leute veröffentlichen dort Bilder, es gibt Links zu ihren eigenen Sites, sie schreiben, singen, freuen sich ihres Lebens. Das ist von täuschender Einfachheit, es gibt keine Gimmicks. Darum kommen die Leute zu dieser Site, zum Teil immer wieder, weil sie dort frei sprechen und sich Gehör verschaffen können.

Stimmt es, dass Sie diese Arbeit verkauft haben?

Douglas Davies: Ja, der Name des Sammlers war Eugene M. Shwartz. Er war ein grosser Sammler von Gegenwartskunst in New York, und interessierte sich besonders für Avantgardekunst. Er rief mich an, und sagte: "Worum geht es bei dieser Arbeit?" Als ich es ihm erklärte, sagte er: "Das will ich kaufen."

War Ihnen vorher schon mal die Idee gekommen, dass man diese Arbeit verkaufen könnte?

Douglas Davies: Nein. Wissen Sie, es ist immer noch schwierig, Videos zu verkaufen. Video ist zwar auch ein Sammlerstück geworden, aber zu sehr niedrigen Preisen. Wenn man das zum Beispiel mit dem Impressionismus vergleicht: die haben viel früher viel mehr Geld verdient als wir. Manet bekam 20 Jahre nach seiner ersten Ausstellung eine wichtige Medaille vom König von Frankreich. Darum sind wir immer noch avantgardistischer als die Impressionisten es je waren (lacht).

Mir kam es zu früh vor, um bereits Netzkunst zu verkaufen, aber ich hatte nicht mit Gene gerechnet. Die Arbeit ging im September 1994 online; er kaufte sie im Januar 1995. Wenn man auf Seite 4 des Satzes nachsieht, kann man lesen, dass er die Arbeite kauft, weil er da seine Absicht eingetippt hat. Der "Sentence" blieb auf dem Server des Lehman Colleges, aber seine Witwe vermachte seine Sammlung meiner Arbeiten dem Whitney. Das war für ein traditionales Museum eine recht gewagte Sache, die bestimmt auch von dem damaligen Direktor David Ross getragen wurde, der ja in den 70er Jahren am Everson Museum der erste Videokurator überhaupt war. Die müssen die Arbeit wie ein Gemälde erhalten, und das, obwohl es sich bis in alle Ewigkeit weiterentwickelt und verändern kann.

Dasselbe könnte man wohl auch über Ihre Projekt "MetaBody" sagen, bei dem die Teilnehmer statt Satzteilen Bilder des menschlichen Körpers beitragen können...

Douglas Davies: "MetaBody" ist ebenfalls in der Sammlung eines privaten Sammlers. Er macht sich deswegen keine Sorgen, aber diese Arbeit wird sich ebenfalls für immer weiterentwickeln. Es macht viel Spaß, sich "MetaBody" anzusehen und ist sehr sexy. Als wir mit "MetaBody" angefangen haben, konnten wir keine Dateien, die größer als 100 K hochladen. Es gibt immer noch technische Beschränkungen, aber ich habe jetzt einen guten Computer, und kann mir deswegen endlich zum ersten Mal das ganze Ding selbst herunterladen.

Geht es bei "MetaBody" darum, den eigenen Körper ins dieses neue Medium hochzuladen? Und ist das nicht letztlich die logische Konsequenz aus ihrer gesamten künstlerischen Arbeit?

Douglas Davies: Ja, sicher, und mein Körper ist ja auch bei "Metabody" dabei, nackt und ohne sich dafür zu schämen, zusammen mit euren Körpern. Ich verlange ganz offensichtlich danach, mich mit dem Anderen über große Entfernungen zu verbinden. Je weiter weg, umso besser gefällt es mir - solange wir nur die Kluft zwischen uns schließen und einander berühren können. In der letzten Zeit interessiere ich mich darum sehr für Quanten-Teleportation. Die theoretische Möglichkeit von Teleportation ist bewiesen worden, das steht auf der Website von IBM. Es ist möglich, Masse von einem Ende des Universums zum andere zu transportieren - sozusagen den Körper zu faxen. Das einzige Problem ist noch, dass die Vorlage sich selbst zerstört. Wenn man gehen würde, würde sich der Körper beim Versand auflösen. Das würde ich unglaublich gerne tun... (lacht)

Das könnte Ihre letzte Arbeit sein...

Douglas Davies: Ja. Andererseits könnte man vielleicht auch eine Serie daraus machen. Vielleicht komme ich ja zurück. Ich denke, was mir am besten daran gefällt, ist, dass man nicht weiß, wie es ausgehen wird. Alle diese Sachen, die ich bis heute getan habe und noch tun will, haben immer einen offenen Ausgang. Das ist meine erste Obsession. Die zweite Obsession ist der Andere, die anderen Leute. All diese Medien sind letztlich nur verschiedene Methoden, um diese Bedürfnisse zu bedienen. Es sind nur verschiedene Methoden, um sich aufzumachen - in einen anderen Raum, eine andere Zeit, eine andere Kultur, und dort eine Beziehung mit jemand anders herzustellen.

Wohin würden Sie sich denn gerne teleportieren lassen?

Douglas Davies: Oh, das wäre mir egal. Ich will einfach bloß LOS! (lacht)