Konfliktfelder der New Economy

Die Tulipomania Dotcom-Konferenz in Amsterdam und Frankfurt vom 2. bis 4. Juni

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2000

Jede Zeit bringt, einem geflügelten Wort zufolge, eine Form hervor, worin sie ihre Gedanken erfaßt. Die philosophischsten Textformen der neunziger waren das mehrere Abschnitte umfassende "executive summary" am Beginn und der oft einzeilige "disclaimer" am Ende des Jahrzehnts. Daß es noch knapper geht, darüber belehrt der neue Trendsetter des "conference titles". Es brauchte gerade mal drei Wochen und vier Städte, um mit "Monomedia" (Berlin), "oeconomenta" (Witten) und "Tulipomania Dotcom" (Amsterdam und Frankfurt) die Poetik der Gegenwart in ein Doppelwort zu verdichten.

Alle drei Konferenzen versuchten, den Ende der achtziger Jahre infolge des Globalisierungs- und Informatisierungsdrucks zusammengebrochenen Dialog zwischen Kultur und Wirtschaft auf eine neue weltkulturkapitalbildende Umlaufbahn zu hieven. Oeconomenta (zwei Tage für 2.900 dm) knüpfte den Faden mit Zentralbegriffen wie Wahrnehmung, Erlebnis und Inszenierung genau an der Stelle neu, wo er seinerzeit gerissen war. Monomedia (drei Tage für 890, dann verbilligt auf 590 dm) folgte dem bekannten Baudrillardschen Vorschlag, die neunziger gefälligst auszulassen, und schnitt die Dimensionen des Crossovers, des Blurrings und des Hypermedialen auf die Selbstverständlichkeit von Werten und den Monologismus von Selbstgewißheiten zurück - in klassischen Begriffen eine veritable Konterrevolution gegen das Netz und nichts weniger als eine Parallelaktion zu Haiders Willen zum Einfachen.

Tulipomania Dotcom (zwei Tage Amsterdam für 60 dfl und ein Nachmittag Frankfurt umsonst) entwickelte die Netzkritik zu einer umfassenden Bestandsaufnahme der Konfliktfelder der New Economy und elektronifizierte gewissermaßen den traditionellen Diskurs zwischen Wirtschaft und Kultur, unterließ es aber, zu völlig neuen Fragestellungen aufzubrechen, die den alten Abgrenzungen den Garaus gemacht hätten. "Wirtschaft" ist heute ein enormer Kulturproduzent, während "Kultur", insbesondere in Gestalt der Geisteswissenschaften, sich fragen lassen muß, ob sie nicht, unfähig ihre Ideen zu programmieren, in der Taubstummensprache eines Neuen Analphabetismus kommuniziert. So beließ es der schwächste Teil von Tulipomania Dotcom - die vom Amsterdamer Lokalfernsehen übertragene Schlußdebatte - beim altbackenen Antagonismus von kulturfeindlicher Wirtschaft und wirtschaftsfremder Kultur, obwohl man kurz zuvor der These Korinna Patelis (Goldsmiths College, London), dass Software Kultur sei, beifällig zugestimmt hatte. Wenn Technokultur nun einmal die letzte Karte des Westens ist, dann sollte sämtliche staatliche Förderung schleunigst in diesen Bereich verlagert werden!

Tulipomania Dotcom, das ja die Themen Internetökonomie und Neue Finanzmärkte ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hatte, fand an zwei Brennpunkten europäischer Wirtschaftsdynamik statt. Als neuem europäischen Hauptsitz von Cisco schließt Amsterdam zu den führenden europäischen Cyberstädten Helsinki, London und Stockholm auf, während Frankfurt mit der Europäischen Zentralbank Kontrolleur der europäischen Finanzmärkte und Hüter der europäischen Währung wird. Die Konferenzidee geht auf den Neu-Australier Geert Lovink zurück, und Eric Kluitenberg für Amsterdam und Andreas Kallfelz für Frankfurt besorgten die kongeniale konzeptionelle und organisatorische Umsetzung. Acht Panels in Amsterdam (The New Economy - Premises and Pitfalls; Silicon Valley as a Global Business Model; Alternative Strategies; Inclusion and Exclusion in the New Economy; Consumer Rights; Nettocracy: A Class Analysis of the Information Society; Convergence, Mergers and Monopolies; Closing Plenary Session) und eines in Frankfurt und dazwischen ein Minibusshuttle, um einige Sprecher zweimal auftreten zu lassen.

Da alle Beiträge auf der Webseite veröffentlicht werden (sollen), oder auch schon in Telepolis nachzulesen sind, beschränke ich meinen Bericht auf die Themenfelder "Kognitariat" und "Konsumtariat". Straße frei für die Wasserträger des Tulpenwahns.

Kognitariat

Nach Ronald Coase's berühmter Theorie gibt es Firmen dann, wenn es billiger ist, jemanden zu beschäftigen, als die Arbeitsleistung am freien Markt einzukaufen. Jede Veränderung auf den Arbeits-, Waren- und Finanzmärkten und jede Innovation auf den Feldern von Wissen, Kommunikation, Technologie und Infrastruktur wirkt direkt auf das relative Verhältnis von Organisations- und Transaktionskosten ein und führt entweder zu Entlassungen oder Einstellungen. Informationstechnologien sind für diese Theorie lediglich ein Anwendungsfall (insofern bleibt alles beim alten), aber noch die kleinste Softwarevariante kann das ganze Muster in Richtung organisatorischer Firmenstrukturen oder in Richtung transaktioneller Netzwerke verschieben.

Richard Barbrook (HyperMedia Research Centre, London) verschärft diese immer schon beobachtbare, aber im Internet neue Formen annehmende Divergenz zum Dualismus zwischen Casino-Kapitalismus und Cyber-Kommunismus, zwischen virtueller Klasse und kooperativer Gemeinschaftlichkeit. Barbrook ist freilich weit davon entfernt, die "gegenseitige Hilfe" (Kropotkin) zu idealisieren, steht sie doch meist in langen Abhängigkeitsketten zum Casino-Kapitalismus und potenziert oft nur die ohnehin wachsende Tendenz zur Selbstausbeutung. Aber das ist eben nur die eine Seite. Wie der Pariser Ökonom und Redakteur der in der Negri/Hardt-Tradition stehenden ambitionierten Zeitschriftenneugründung "multitudes", Pascal Jollivet, ausführte, erzeugt der Ausschluß aus kapitalistischen Verwertungszusammenhängen im Gegenzug der Betroffenen eine an gegenseitigem Austausch, kooperativem Lernen und medialer Intervention orientierte Kulturbewegung, die das Rückgrat der französischen Streiks gegen das dortige Bildungssystem ausmacht: die Arbeitslosen organisieren die Proteste ihrer Kinder.

Untersucht man mit Andrew Ross, Leiter des American Studies Programms der New York University, die kognitarielle Mittelklasse zwischen IPO-Management und OpenSource-Elite, dann haben die Hälfte der in Silicon Alley Beschäftigten Projektverträge, die ihnen die Hälfte dessen einbringen, was die Alten Medien zahlen. Und darunter gibt es die schnell wachsende Dienstbotenklasse der Reinigungskräfte, Pizzalieferanten, Taxifahrer und Hosenbügler. In Frankfurt referierte Helge Peukert, Wirtschaftstheoretiker an der dortigen Universität, unter dem Stichwort der "flexiploitation" eindringlich über die sozialen Kosten des Networking und die personellen Zumutungen der Allzeitverfügbarkeit. Er tat dies anhand von "Luc Boltanski / Eve Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris: Gallimard 1999", einem 843 Seiten-Wälzer, der offenbar weit über Sennetts "flexiblen Menschen" hinausgeht.

Konsumtariat

Solche Kritiken beschreiben den Schlagschatten, den eingefahrene auf emergente Anthropologien werfen. Für deren weltkulturelle Potentiale fehlt ihnen das Sensorium. Alexander Bard, der bald sein Buch "The Netocrats" zum Drucker bringt und bestverpflegt auf dem Podium erschien, entwickelte am Flipchart eine der geläufigen Geschichtstabellen, in deren letzter Spalte die Gegenwart erreicht wird. Um ein paar von Bards Triaden plastisch werden zu lassen: God - Man - Net; aristocracy - bourgeoisie - netocracy; dictatorship - democracy - plenarchy; religion - academia - electronic tribalism; serfs - workers - consumtariat. Dieses Konsumtariat wird sich Bard zufolge auf C2B-Plattformen artikulieren. Ein einfaches Beispiel wäre Priceline, wo Konsumenten Zahlungsangebote für bestimmte Waren hinterlegen. Aber letztlich kann jedes Konsumenteninteresse, das auf Produktgestaltung oder Firmenverhalten Einfluß nehmen will, oder das Handhabungsprobleme oder Benutzererfahrungen austauschen will, solche Consumer-to-Business-Plattformen entwickeln.

James Love, Leiter des Consumer Projects on Technology, steuerte zur ICANN-Debatte das Argument bei, dass nicht nur aus Freespeech-, sondern auch aus Konsumentenschutzgründen spezielle Domains für Konsumentenanliegen geschaffen und freigehalten werden müssen. David Mandl vom Autonomedia Verlag beschrieb die in Deutschland durch die Teles-ISDN-Karten berüchtigte Hotline-Strategie dubioser Firmen, ein Produkt kostenlos, billig, fehlerhaft usw. abzugeben, und das eigentliche Geld über die Hotline zu verdienen, mittels derer der Kunde das Produkt doch noch funktionsfähig machen will. Maurice Wessling von Bits of Freedom beschäftigte sich mit dem Niedergang von Konsumentenrechten. Urheberrechte unterminieren die Evaluierung der Produkte, wie die Auseinandersetzung um die Entschlüsselung der Filtersoftware CyberPatrol zeige. Das Privatrecht unterliege schleichenden Aushöhlungen, wenn Käufe nicht mehr anonym, sondern nur nach Identifizierung getätigt werden können. Und Wibo Koole vom holländischen Verbraucherverband will künftig Hacker einsetzen, um Sicherheitslücken und Datenschutzverletzungen aufzuspüren.

windhandel

Wie raffiniert der Konferenztitel "Tulipomania Dotcom" gewählt war, lässt erst die Lektüre der entsprechenden Abschnitte in "Simon Schama, Überfluß und schöner Schein: Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München: Kindler 1988" erkennen. Die Tulpe war ein aus der Türkei importierter Luxusgegenstand, der jedoch durch Abtrennen der Brutzwiebel von der Mutterzwiebel unbegrenzt reproduziert werden konnte. Neue, noch schönere Sorten entstanden so schnell, dass der Versuch, einzelne Sorten vor Imitation zu schützen, ständig überholt wurde. "Die Einführung neuer "Packungsformate" beschleunigte die Ausweitung des Marktes." (S. 380) Es entstand eine ununterbrochene Angebotskette zwischen Luxus- und Massenhandel. Mit bescheidenem Einsatz konnte sich jeder am Glücksspiel des Kaufens und Spekulierens beteiligen. Die Zeit zwischen dem Einpflanzen im Oktober und dem Ausgraben im Juni belegte ein wachsender Warenterminhandel. Der Handel wurde immer virtueller und bezog sich schließlich nur noch auf ein übertragbares Stück Papier mit einem imaginären Lieferdatum drauf. Es waren, nach Schama, die Regulatoren, deren Moralismus einen solchen "windhandel" nicht mehr aushielt, die der Spekulation ein Ende setzten. Nächsten Monat erscheint zudem "Peter M. Garber, Famous First Bubbles: The Fundamentals of Early Manias, Cambridge: MIT 2000", das nachweist, dass starke Preisschwankungen schon immer zum Tulpenhandel gehörten und dass die Auswirkungen des Spekulationszusammenbruchs auf die Realwirtschaft denkbar gering war. Wussten wir es nicht: Nach dem Crash ist vor dem Crash.

Dank an Andreas Kallfelz, Franz Liebl, Geert Lovink und Florian Schneider.

Reinhold Grethers eigener Vortrag bei Tulipomania: Von der Netzkritik zur Politik des Code