Ein Gefühl für 240 Millionen
Börse und Decoder - wie Viva und MTV Jugend produzieren
Wer versteht mehr vom Lebensgefühl der Jugend: Ein ehemaliger Musikpädagoge oder eine Betriebwirtin mit angeheiratetem Gräfinnen-Titel? 1993 trat Dieter Gornys Musiksender Viva gegen MTV an. Nachdem Viva dem Kanal des US-Medienkonzerns Viacom deutsche Marktführerschaft und Image abnahm, wurde Christiane zu Salm-Salm im April 1998 Geschäftsführerin bei MTV-Central Europe. Am 19. Juli bringt der Musikpädagoge seinen Sender an die Börse.
Am Mittwoch davor präsentierte die Gräfin MTV genüsslich als Marktführer. Das hat Tradition. Stellt Viva eine selbst in Auftrag gegebene Studie vor, die die eigene Marktführerschaft belegt, hält MTV wenig später mit einer ebensolchen dagegen - und umgekehrt. Die Allensbacher Werbeträger Analyse (AWA) aber wird unabhängig erstellt und von beiden Sendern anerkannt. Die gerade erschienene AWA 2000 besagt: 4,54 Millionen Menschen ab 14 sehen täglich MTV, bei Viva sind es nur 4,37 Millionen.
Coolheit ist eine Frage, die nach ökonomischen Kriterien entschieden wird. Augenfällig wird das im Viva-Plakat zum Börsengang: Ein Mädchen mit leicht gespreizten Beinen wirbt auf Plakaten mit einem schlichten : "Kauf mich". Was gekauft wird, ist sexy. Wer das Geld hat zu kaufen, ist es auch.
Den Gewinn dieses Jahres will MTV Central Europe komplett in einen Ausbau des Programms investieren. Hinzu kommt ein zweistelliger Millionenbetrag in Dollar, den die US-Zentrale von MTV hierfür bereitstellt. Ziel: "Etablierung einer relevanten Popkultur", wie zu Salm-Salm das Ziel der kommenden zwei Jahre auf ihren Präsentationsfolien nennt. Konkret bedeutet das: MTV wird künftig drei bis vier deutsche Kinofilme mitproduzieren, die dann auch im eigenen Programm gesendet werden.
Den Anfang macht Roman Kohn mit einem Film über die Love Parade. Ein Vereinbarung mit Tom Tykwer soll bereits getroffen sein. Des weiteren wird es im Herbst die Show "Talkterror 2000" mit Christoph Schlingensief, Christian van Ulmen und Nils Ruuf starten, ebenso eine deutsche Version von "Celebrity Deathmatch", bei der dann Boris Becker und Harald Schmidt sich als Knetfigur die Fresse polieren.
Die MTV-Offensive ist eine konsequente Weiterentwicklung der Marktaufteilung, die sich von Anfang an abzeichnete. Ab Juli 1996 strahlte MTV nur noch verschlüsselt aus. Offenbar hielt man die Zuschauer für konsumorientiert genug, sich einen Decoder für 250 Mark zu kaufen und dann 50 Mark Jahresgebühr an MTV zu löhnen. Taten sie aber nicht, und so stellte der Sender Anfang 1999 die Verschlüsselung wieder ein. Trotzdem glaubt man bei MTV auch weiter, dass Zuschauer fürs richtige Programm zahlen.
Nun soll zunächst das analoge Angebot attraktiv gemacht werden. Die Zielgruppe dabei sei "deutlich älter" als die von Viva, sagt zu Salm-Salm. Digitales Abo-TV bleibt erst einmal ein Zusatzangebot. Aus Köln sollen für Deutschland drei digitale Spartenkanäle produziert werden. Bei Premiere World will MTV "interaktives Musikfernsehen" bieten. Das wird so aussehen: Ein Sender macht 24 Stunden Wunschmusik, beim anderen stellen Nutzer übers Internet aus einer Datenbank mit Interviews, Reportagen und Clips ihr Programm zusammen. Im analogen Programm wird Personalisierung des Angebots übers Internet betrieben. Da sollen Zuschauer ihre Wunschclips wählen, mit Stars chatten und ähnliches. Daneben gibt es Zusatzangebote, wie Downloadmöglichkeiten von Singles vor der Veröffentlichung und Foren für Bands ohne Plattenvertrag. Geld verdienen will zu Salm-Salm damit erst in einigen Jahren. Denkbar sei der Verkauf von exklusiv-Material wie Backstage-Fotos oder Konzertaufnahmen.
Die Viva-Welt sieht anders aus. Der Sender ist eher im unteren Bereich der konsumfreudigen Gruppe der 14- bis 29jährigen angesiedelt. MTV will das Gefühl verkaufen, eine Bewegung mitzugestalten, Viva das, Teil einer Bewegung zu sein. Konkret wird das bei Gornys Vorstellungen der Viva- Internetstrategie, in die immerhin 50 Millionen Mark investiert werden sollen: "Wie wollen keine erklärende, informierende Webpage machen", berichtet er. Sondern ein "Medienmodul, in das Viva Fernsehen und Viva Radio reinkommen". Das Netz als Lieferant der guten alten Massenkommunikation von einem Sender an viele Empfänger.
MTV simuliert da ein wenig mehr Zuschauersouveränität. Der Prototyp des unter-30jährigen Werbetexters zahlt seine Abogebühr für die Inszenierung diverser Subkulturen, zwischen denen er wählen kann. Individuell, aber übersichtlich. Dafür wird keine inszenatorische Mühe gescheut. Aus Hamburg zog der Sender Ende des Vorjahres nach München, drei Shows werden in Berlin Mitte produziert, "um näher an der Szene zu sein". Mühsam erkämpft man sich Glaubwürdigkeit bei denen, die nicht mehr an eine wie auch immer geartete Jugendkultur glauben, aber nah an "der Szene" sein wollen.
Verstärkt sich die Positionierung der Sender - Viva als Kindergarten, MTV als Universität - sind die Scharmützel zwischen beiden keine mehr. Noch ist es lustig zu beobachten, wie die beiden sich um die Schweiz und Polen balgen, Dieter Gorny gar von einer Expansion in die USA träumt. Doch letztlich wird Viva die Menschen zwischen Kinderzimmer und WG mit dem Gefühl einer Gemeinschaft beliefern, auch wenn diese Bewegung sich auf den gemeinsamen Börsengang beschränkt. "Mit uns geht die Jugend an die Börse", grinst Gorny verschmitzt in Journalistenblöcke. Das Mädchen auf dem "Kauf mich" Plakat soll sich ohne Zweifel drüber freuen, dass das einer tut. Denn würden Anleger 240 Millionen für ein Produkt zahlen, das nicht existiert? Haben die Gekauften erst einmal Geld, werden sie genau das tun. Der Glaube an die Jugend fließt dann aus den Viva-Aktien im Depot und dem MTV-Decoder unterm Fernsehtisch.