Schock-Marketing aus dem Netz-Underground

Die Agentur ubermorgen.com setzt im Kampf um die Aufmerksamkeit auf drastische Mittel bis hin zur Verbreitung von gezielten Falschmeldungen

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"Drama-Marketing", "Schock-Marketing" und "Viral Marketing" mit "realitätsnahen" Hoaxes sind die Spezialitäten einer Werbeagentur von zwei Österreichern aus dem Umfeld der Netzkunst-Gruppe etoy.com. Nach Coups - wie einer die angebliche Unterwanderung des Kunstspektakels Ars Electronica durch Unternehmenssponsoren anprangernden Email-Aktion im vergangenen Jahr - sorgen die Netzaktivisten momentan mit der Idee zur Schaffung einer globalen Plattform für die Versteigerung von Wählerstimmen für Aufsehen.

Die Website der Werbeagentur ubermorgen.com fällt etwas aus dem Rahmen: Statt auf Hochglanz polierte Fotos begrüßt den Surfer ein auf der Stelle tretendes ASCII-Strichmännchen auf blauem Grund, das an frühe Netzkunstprojekte erinnert. Die Minimalistik im Design wird allerdings konterkariert durch die Selbstpositionierung des Unternehmens als "intelligente europäische Anlaufstelle für Uber:Companies, Projekte und Individuen".

Ein Blick auf die Klientenliste fördert Namen zu Tage wie Skim.com, eine Züricher Firma, die ihren Modeartikeln für die leichtere Kontaktaufnahme gleich den Email-Code der Käufer einprägt, die Internet Service Agentur Rosa.com oder die Musik-Site Mircomusic.net. Und immer wieder gibt es Hinweise auf die spätestens seit ihrem Kampf gegen den Spielzeugversender eToys.com weltweit bekannte Künstlergruppe etoy.com.

Einblicke in die Philosophie und Arbeitsweise der mysteriösen Agentur gab nun die Geschäftsführerin von ubermorgen.com, die nur unter dem Pseudonym LIZVLX (am ehesten noch als "Lizflix" auszusprechen) firmiert, am Freitag während des Medienfestivals BerlinBeta (Das digitale Delirium). Was die inzwischen nach Berlin übergesiedelte Wienerin da erzählte, schockierte den ein oder anderen Zuhörer sichtlich. Schließlich sind die Methoden, mit denen die noch nicht einmal ein Jahr alte Agentur arbeitet, zwar letztlich nur eine Zuspitzung aktueller Werbetendenzen rund ums Internet. In ihrer Subversivität sind sie aber gleichzeitig im Rahmen einer "ernsthaften" Kampagne, mit der ja letztlich der Absatz von Produkten gefördert werden soll, kaum noch zu übertreffen und eine Gratwanderung zwischen der erwünschten Steigerung von Aufmerksamkeit sowie der drohenden Reaktion der "Umworbenen".

Verpiss dich, Surfer

Zum Einsatz kommt bei ubermorgen.com ein Mix aus klassischen Werbemethoden fürs Internet wie Bannerwerbung, sich noch im Teststadium befindlichen Konzepte wie das Viral Marketing, der in der Regel Email-gestützten Fortentwicklung der Mund-zu-Mund-Propaganda, oder Eigenentwicklungen wie "Drama-Marketing" und "Schock-Marketing". Als roter Faden zieht sich durch den gesamten Marketing-Mix der unkonventionellen Agentur das Spiel mit den Erwartungen des Nutzers, der voll in die Kampagnen mit einbezogen werden soll. "Wir arbeiten aus der Perspektive des User-Brandings", erläutert LIZVLX den Ansatzpunkt der eigenen Aufmerksamkeitsarbeit. Dabei entstünden Verbrauchermarken direkt durch die Aktivierung des Konsumenten.

Am Aggressivsten ist dabei das explizite Schock-Marketing. Werden die User "Opfer" dieser Methode, so kann es ihnen schon einmal passieren, dass sie auf von ubermorgen.com gestalteten Websites landen, die ihnen nichts weiter als ein freundliches "Fuck off" entgegen schleudern. In dieselbe Kategorien gehören Pop-up-Windows, die schlicht nicht funktionieren, also beispielsweise ins Leere oder auf eine kontextlose Seite führen. "Das funktioniert natürlich nur bei eine speziellen Zielgruppe", schränkt die Werberin die Verwendbarkeit dieses Ansatzes ein. So gebe es Leute, die mit einem solchen "Problem" einfach nicht leben könnten und es durch wiederholtes Testen und schließlich durch Emails an die Betreuer einer "betroffenen" Site abzustellen versuchten. Die Involviertheit des Surfers ist somit gegeben und sie wird ins Positive gewendet, sobald der "Fehler" einfach beseitigt wird und der User sein Erfolgserlebnis hat.

Einen Hoax in Ehren, kann kaum jemand verwehren

In eine ähnliche Richtung gehen die bewussten Falschmeldungen, die ubermorgen.com für ihre Kunden in Umlauf bringt. Ein Coup gelang den Leitern der Agentur, zu der neben LIZVLX der Etoy-Agent Hans_extrem aus Wien gehört, bereits kurz vor der Gründung des inzwischen drei weitere Angestellte beschäftigenden Unternehmens während der Ars Electronica 1999.

Vor knapp einem Jahr hatten die Aktivisten per Email einen Hoax (Email-Fälscher spielt Ars Electronica bösen Streich) in Umlauf gebracht, in dem sich vier der fünf Juroren für den Prix des Kunst- und Medienfestivals angeblich von der Entscheidung distanzierten, den begehrten Preis in der Netzkategorie an die Open-Source-Software Linux zu verleihen. Die Begründung war, dass Sponsoren wie Microsoft oder Hewlett Packard selbst eine Linux-Distribution auf den Markt bringen wollten und daher die Entscheidung beeinflusst hätten, was einen schweren Korruptionsverdacht auf das fünfte Jurymitglied sowie das gesamte Kunstspektakel warf.

"Wir haben die Email an 200 Leute in der Kunst interessierten Szene geschickt - die Nachricht sorgte aber im ganzen Netz sowie in den Medien für Aufsehen", freut sich LIZVLX heute über die Demonstration der Macht des viralen Marketings. Als nicht weniger erfolgreich bezeichnet die junge Unternehmerin, die das Programm für ihre Diplomarbeit über Pricing-Strategien von großen Konzernen in Perl geschrieben hat, einen Streich, den ubermorgen.com den Teilnehmern eines Gewinnspiels ihres Kunden UpToArt.com jüngst gespielt hat. Die hatten nämlich plötzlich eine Email in ihrer Inbox, in dem vor einer gravierenden Sicherheitslücke in dem Game gewarnt wurde. Brav leiteten die Genarrten die "dringende Warnung" an eine Vielzahl ihrer Email-Bekannten weiter, von denen sie glaubten, dass sie ebenfalls an dem Spiel beteiligt seien. Selbst der Chef von UpToArt.com fiel auf die Aktion herein, da er seiner Werbeagentur freie Hand gelassen hatte und deswegen nicht vorgewarnt worden war.

Geradezu zahm nehmen sich dagegen die Methoden aus, die LIZVLX unter "Drama-Marketing" fasst. Was sich so dramatisch anhört, ist letztlich nichts weiter als die Entwicklung von Online-Charakteren und virtuellen Agenten, die dem Surfer als "Uber-User" entgegentreten und ihn etwa über eine Figur auf einem Werbebanner zum Kauf eines T-Shirts von Skim.com bewegen sollen. Eingesetzt werden sollen die virtuellen Akteure auch zum Herausfinden der persönlichen Vorlieben der Nutzer oder als Animateure für Fan-Sites.

Borderline-Marketing

Die subversiven Marketingmethoden von ubermorgen.com stießen während der BerlinBeta im Publikum auf geteilte Meinungen, die von "phantastisch" bis zu "Nerv tötend" reichten. Recht fasziniert zu sein von dem "anarchistischen Ansatz, Produkte unters Volk zu bringen", schien der Moderator des Panels, der MetaDesign-Chef Erik Spiekermann. Interessant sei zumindest, so sagte er, dass Unternehmen plötzlich direkt auf "negative Kommunikation" zurückgreifen, während ein Konfrontationskurs mit den eigenen Kunden bisher eher als Zufall und als Versagen der Öffentlichkeitsarbeit gewertet wurde.

Im Publikum machte sich der ein oder andere Zuhörer gleichzeitig Sorgen um die Überforderung des Nutzers durch immer mehr Hoaxes, die ja auch nach hinten losgehen oder einem Unternehmen sogar ernsthaften Schaden zufügen können. So sah die US-Firma Emulex beispielsweise vor wenigen Tagen ihren Marktwert an der Börse vorübergehend um zwei Milliarden Dollar sinken, nur weil anscheinend ein Rivale über den PR-Dienst Internet Wire eine falsche Pressemitteilung mit frei erfundenen Umsatzzahlen versendet hatte, die sofort ihren Weg in die Investorenforen gemacht und dort für Unruhe gesorgt hatte.

"Wir erfinden nur Sachen, von denen wir gerne hätten, dass sie real wären", distanzierte sich LIZVLX allerdings von derartigen Falschmeldungen. Ein von ubermorgen.com lancierter Hoax müsste so glaubhaft sein, dass sich der Leser sagt, es könnte durchaus wahr sein. Letztlich käme es darauf an, über diese Wahrheitsbeugung, die in den Medien spätestens seit Tom Kummer und seinen montierten Star-Interviews als "Borderline-Journalismus" bekannt ist, eine sinnvolle Diskussion anzustoßen.

Unterstützung erhielt LIZVLX vom Enfant terrible der Designszene, Ian Anderson. Der Ansatz unterscheide sich kaum von akzeptierten Marketingpraktiken, befand der Chef der Stil bildenden Designer's Republic, denn "Unternehmen verbreiten täglich durch ihre Werbung nichts als Hoaxes." Schocktaktiken seien gerechtfertigt, solange sie eine wünschenswerte Reaktion hervor riefen. ""ede Woche kann man so was nicht machen", begrenzte LIZVLX zusätzlich die Anwendbarkeit des viralen Hoax-Marketings. So halten die Marketer von ubermorgen.com, die unter ubermorgen.net übrigens zum WWWiderstand ((Update) WWWiderstand und Gegenaktionen) gegen die Regierungsbeteiligung der von Jörg Haider geführten FPÖ aufrufen, drei bis vier Monate Abstand zwischen den einzelnen Aktionen ein. Schon allein aus dem Grund, weil die "Konkurrenz" aus den USA in Form der ähnlich wie ubermorgen.com aus einem Kunstprojekt hervorgehenden Unternehmung RTMark nicht schläft und mit Website-Parodien oder nicht ganz ernst gemeinten Email-Anfragen Politiker und Konzerne zur Belustigung der alten Netzhasen auf den Arm nimmt.

Die Olympiade der Netzaktivisten

"Das ist inzwischen zu einem Game zwischen uns und RTMark geworden", amüsiert sich LIZVLX. "Die entscheidende Frage dabei ist: 'Was müssen wir anstellen, um auf CNN.com zu kommen'." Ein Wettbewerb im Borderline-Marketing um die Aufmerksamkeit der Mediengesellschaft, in dem momentan ubermorgen.com mal wieder die Nase vorn hat. Denn mit dem Aufkauf der Plattform Voteauction.com haben sich LIZVLX und Hans_extrem gerade ganz nach vorn geschoben in der "Gunst" der amerikanischen Medien: Über die von dem im Staate New York lebenden Studenten James Baumgartner als Ergebnis seiner Abschlussarbeit konzipierte Site sollten (Nicht-) Wähler im Präsidentschaftswahlkampf (Alles für die New Economy) ihre Stimmen einfach meistbietend versteigern können. Über 200 Amerikaner hatten sich für diese Option bereits registrieren lassen, als das New Yorker Wahlkomitee dem Treiben Mitte August ein Ende bereitete.

Den Machern von ubermorgen.com gefiel die Idee allerdings so gut, dass sie Baumgartner seine Erfindung einfach abgekauft haben. "Sie verkürzt den sowieso stattfindenden Kreislauf zwischen dem Kauf und Verkauf von Wählerstimmen über die Sponsoren des Wahlkampfs und die Medien", lobt LIZVLX die Vorteile der Plattform. Mit dieser Haltung hat es ubermorgen.com nun wieder geschafft, CNN.com zu knacken, da nicht alle Beobachter der Übernahme von Voteauction.com das gleiche Demokratieverständnis haben.

Die Aktivisten wollen sich von der Kritik sowie den Droh-Emails aus den USA, die die beiden Österreicher täglich erreichen und "zum Verlassen des Landes auffordern", allerdings nicht einschüchtern lassen und demnächst eine globale Plattform für den Verkauf von Wählerstimmen im Web eröffnen. Einen genauen Zeitpunkt für den Launch gibt es aber noch nicht, denn "erst müssen wir die Sache mit unseren Anwälten besprechen", sagt LIZVLX. Guter Dinge ist sie trotzdem, denn die Rechtshelfer der Firma haben bereits im Kampf gegen Etoys.com ihre Reifeprüfung bestanden.