Alles ist eins - außer der Null

Auf der BerlinBeta bezeichnete Rainer Langhans im digitalen Delirium das Internet als "Wiedergeburt" der Kommune 1 und löste eine Diskussion über den Binärbuddhismus aus

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Der Blick in die Geschichte lehrt: Das Netz ist nicht dafür geschaffen worden, als Betriebssystem des digitalen Kapitalismus zu laufen. Doch was ist seine wahre Bestimmung? Ein Alt-68er, ein Alt-Hacker, ein Internet-Urgestein, eine Wirtschaftsredakteurin sowie ein Lebensstil-Ressortleiter machten sich zum Abschluss des Medienfestivals BerlinBeta ihre Gedanken über den (Un-) Sinn des digitalen Daseins.

Das Internet als überdimensionaler Marktplatz und gigantischer Quassel-Chat-Kanal - das ist die Vorstellung, die zahlreichen (Neu-)Usern vor Augen schwebt, wenn sie endlich drin sind. Eine gänzlich andere Sicht auf das Netzmedium hat dagegen Rainer Langhans, bekanntestes Überbleibsel der freizügigen Berliner "Kommune 1" und damit die Fleisch gewordene Versinnbildlichung des Mythos der 68er-Bewegung. Seiner Ansicht nach steht das Internet für die Erfahrung, die schon damals von den frühen WG-Hippies ausgelebt wurde. Mit dem Unterschied, dass "nicht nur ein Mensch oder eine Region erleuchtet wird, sondern die ganze Welt eingehüllt ist in einen spirituellen Dampf".

Das Netz, das seine Nutzer laut Langhans ständig damit konfrontiert, dass es keine Grenzen mehr gibt, dass "um uns alles Liebe ist", und das die Menschheit dazu zwingt, sich mit dem Immateriellen zu beschäftigen, sei eine Nachbildung des alten Spirits von 68. Der Zweck des Internets ist für Langhans damit eindeutig, auch die heutige Generation die damaligen Erfahrungen nachfühlen zu lassen.

"Wir haben gewonnen", freut sich der in die Jahre gekommene Provokateur über die Vollendung der 68er-Revolte über den Umweg der Netzrevolution. "Wir wissen es bloß noch nicht."

Der inzwischen in München lebende Langhans durfte seine erleuchteten Thesen während der Abschlussdiskussion der Konferenz BerlinBeta über das digitale Delirium vortragen, die sich das Ziel gesetzt hatte, den Blick auf die "andere Seite" des Netzes jenseits des "digitalen Kapitalismus" zu werfen.

Gabriele Fischer, Chefredakteurin des Hamburger Wirtschaftsmagazins brand eins, Wau Holland, Alterspräsident des Chaos Computer Clubs (CCC), Derrick de Kerkhove, Leiter des Marshall-McLuhan-Instituts der University of Toronto sowie der ehemalige Philip-Morris-Minister-for-Tomorrow Ossi Urchs versuchten sich während der Talkrunde - angestachelt von Christian Ankowitsch, dem Co-Ressortleiter des "Lebens" der Zeit - gegenseitig beim Brain-Stormen über den Sinn des Internets zu übertrumpfen.

Vom Instant Cash über die Instant Information zur vernetzten Intelligenz

Heraus kamen dabei eine Aneinanderreihung von Statements, die entweder bereits Mediengeschichte geschrieben haben oder von nun an in die Netzgeschichte eingehen werden.

"Bargeld ist die Kreditkarte des kleinen Mannes", trumpfte de Kerkhove zur Einstimmung frei nach McLuhan auf und ließ weitere Extrakte aus dem Fundus des Mediengurus folgen, wie etwa "Im Zeitalter der ‚Instant-Information' sind Gerüchte das einzig Wahre" oder "Je mehr sie über dich wissen, desto weniger existierst du".

Die weiteren Einsichten des Medienwissenschaftlers lieferten dann aber gleichsam eine Art nachträglichen "Beweis" für die Darlegungen Langhans': Nach de Kerkhove hat mit dem Internet das Zeitalter der "vernetzten Intelligenz" begonnen, in dem die Menschen Zugang haben zu einem externen Intelligenzspeicher von enormer Größe, in den viele Leute ihr Wissen reingeben.

Auch wenn der McLuhan-Nachfolger die Metapher vom "globalen Gehirn" für das Internet nicht sonderlich mag, weil damit der Eindruck entstehe, dass alle Vernetzen gleichgeschaltet würden, so ist für ihn die Reise zur Zusammenschaltung von Mensch- und Maschinenspeicher auf globaler Ebene trotzdem digital vorgezeichnet. De Kerkhove glaubt zumindest an eine rasche Weiterentwicklung der Schnittstelle Kopf-Computer, etwa durch Kontaktlinsen, die als Screen und Zugangstechnologie fürs Internet fungieren. Damit würde der Bildschirm auf den "inter-bewussten" Level angehoben, was der Langhansschen rasenden Verzückung von der Liebe und dem Eins sein in den Netzen schon recht nahe kommt.

Nachbarschaftsstreitigkeiten im Global Village

Wasser in den Wein der Utopisten tröpfelte der Alt-Hacker Wau Holland, der sich nicht nur von 68-er Parolen wie "Leistung stinkt" vehement distanzierte, sondern auch einen wenig optimistischen Blick in das globale Dorf warf. Wau geht vom Stand des Rechtswesens in Deutschland aus, wo just Nachbarschaftsstreitigkeiten die Gerichte am häufigsten beschäftigen. In der Enge des Internets könne jeder nun gleich Millionen Menschen auf einen Schlag beleidigen und sich so mehr böse Nachbarn schaffen wie je zuvor.

Das goldene Zeitalter der Startup-Millionäre könnte so schnell zur Boom-Ära der Anwaltsbranche werden, folgerte Ankowitsch, was ein verstärktes Interesse an Börsengängen von Rechtsanwälten auslösen dürfte. Aber derartige Schreckensszenarien wollte Ossi Urchs dann doch nicht im Raume stehen lassen. Schließlich könne man das Netz ja auch als Disputationsmedium einsetzen und die Konflikte gleich durch einen gepflegten Diskurs virtuell lösen. "Da brauchen wir nicht mehr auf den Balkan zu fahren", hofft das Internet-Urgestein.

Das freie Assoziieren der Panelteilnehmer zog sich weiter über Waus Erklärung des "Binärbuddhismus" ("Alles ist eins - außer der Null") und die damit verbundene Frage, ob das Netz denn auch mal schweigt, zur Klärung der aus dem Publikum eingeworfenen Frage nach dem delirösesten Moment, denn die Diskussionsgäste bisher mit dem Internet hatten.

Für Ossi Urchs war es allein der Moment, als er sich vor etlichen Jahren (Jahrzehnten?) erstmals über Datex P in einen Server in London einloggte und gut eine Woche später es endlich schaffte, den Email-Verkehr mit dem Rest der damals vernetzten Welt aufzunehmen. De Kerkhove stürzte dagegen die Entdeckung von Yahoo schier ins Delirium tremens.

Social Hacking, getrackte Sessions und andere Meditationsmöglichkeiten

In Wau weckte die persönliche Frage dann doch noch den Cyber-Romantiker: Das verzückendste Erlebnis, ließ er die Zuhörer wissen, sei der "Austausch von Liebesbriefen per Email" gewesen, damals, als er erstmals in den Räumen des Hackerclubs vor einer echten Standleitung saß. Die Empfängerin sei von den im Delirium hervorgebrachten rhetorischen Künsten denn auch sehr angetan gewesen und hätte ihm zurückgeschrieben, dass "sie sich angesichts so vieler virtueller Perlen nun fast ein Geschmeide machen könnte."

Angesichts so viel Cyber-Poesie entfuhr so mancher jungen Dame im Auditorium ein sehnsuchtsvoller Seufzerer, während ein männlicher Zuhörer sich nur darüber wunderte, dass es sich bei dieser Geschichte doch um gar keinen Hack handeln würde. "Social Hacking", raunte Wau daraufhin nur ins Mikro, "die Frau hat anschließend ihren Freund verlassen."

Passen musste in dieser Fragerunde leider Rainer Langhans, der zögerlich zugab, trotz seiner analytischen Einsichten in das Wesen des Netzes noch gar nicht drin zu sein. "Ich glaube, ich benutze das gar nicht", sagte er leise. SMS übers Handy sei ja noch OK, aber der technischen "Männerkiste" PC verschließe er sich nach wie vor. "Ich habe bessere Meditationsmöglichkeiten als dieses Ding", erklärte der Spiritualist seine Computer- und Netz-Abstinenz. Aber bald hofft auch Langhans, sich in den Flow des Internets einloggen zu können, wenn nämlich der "Strom der Wahrnehmung, den wir heute noch weiblich nennen", in den Datenkanälen immer stärker und der Zugang zum Netz gleichzeitig immer einfacher würde.

Wenig anfangen mit den verklärten Vorstellungen ihrer männlichen Kollegen konnte dagegen just die einzige Frau auf dem Panel, Gabriele Fischer. Sie sieht im Internet und im Diskurs über das neue Medium zwar "viele Anteile schöner Utopien", die aber noch längst nicht verwirklicht seien. Die "brand eins"-Chefin plädiert daher dafür, "einfach erst mal zuzuschauen, wie sich das alles entwickelt."

Und natürlich gibt es da noch eine ganz andere Seite des Netzes, die von "getrackten Sessions, bei denen der User ausgezogen wird, um ihm eine neue Unterhose zu verkaufen", wie Ankowitsch die verkrampften Marketingbemühungen so manches Online-Shops karikierte. Aber davon sprechen wir lieber wieder ein anderes Mal.