Die Resozialisierung des Giganten

Der seltsame Imagewandel von IBM

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Es gab eine Zeit (an die sich heute kaum jemand erinnern kann), da war IBM ungefähr so beliebt wie die Nazis. Und Apple konnte in seinem berühmten "1984"-Spot ohne Namensnennung von diesem Image profitieren. Das Bild von IBM hat mittlerweile eine radikalen Wandel hin zum Think Tank für "Geek-Tools" erfahren. Wie ging dieser Wandel vor sich, und was hat Microsoft damit zu tun?

Ein Mitarbeiter des amerikanische Statistikamtes, Herman Hollerith, entwickelte Ende des vorletzten Jahrhunderts - inspiriert von Musikautomaten - ein elektromechanisches Lochkartensystem, das "statistical piano". Es wurde unter anderem zur Volkszählung eingesetzt. Zur Vermarktung seiner Erfindung gründete Hollerith eine Firma: die Tabulating Machine Company. Im Jahre 1911 wurden unter der Ägide des Finanzmagnaten Charles Rantlett Flint die drei Firmen Tabulating Machine, Computing Scale und International Time Recording zur Computing Tabulating Recording, kurz "CTR", zusammengeschlossen. So beginnt eine Erzählweise der Geschichte von IBM, die Entwicklung anhand von Produkten erzählt. Eine andere Erzählweise behandelt die Geschichte einer Firmenkultur, die Schaffung und Erhaltung eines Monopols. Und sie beginnt mit der Firma National Cash Register.

statistical piano

Auch John Patterson, Chef von NCR, machte eine Erfindung, die sich durchsetzen sollte: Er benutzte das Patentrecht, um Konkurrenten auszuschalten. Ein Richter stellte während einer Patentklage fest, dass es Patterson in seinen Patentklagen mehr darum ging, seine Konkurrenten um Zeit und Geld zu bringen, als um Fragen des Patentrechts.1

Pattersons schöpferische Kraft brachte der Welt außerdem Geschäftspraktiken wie Dumpingpreise bei gebrauchten Registrierkassen und die Herstellung von Imitaten der Konkurrenzprodukte mit "Sollbruchstellen".2

Einer der eifrigsten Mitarbeiter Pattersons war der junge Thomas J. Watson. Doch sein Übereifer brachte den jungen Mann fast ins Gefängnis: Er wurde erstinstanzlich wegen Vergehens gegen das Kartellrecht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, blieb aber nach Zahlung einer Kaution in Freiheit.3

1914 bot Charles Rantlett Flint Watson die Präsidentschaft der CTR an. Watson vermietete das Hollerith-System an Eisenbahngesellschaften und Versicherungen, verkaufte es aber nicht. So behielt er die Kontrolle über die Geräte, wie später Microsoft (und mit ihnen viele andere Softwarehersteller), die ebenfalls nur Lizenzen für die Benutzung ihrer Produkte vergeben. Durch den Absatz der Lochkarten über die Mietverträge konnte Watson effektiv die Konkurrenz in der Lochkartenherstellung ebenso wie einen Second-Hand-Markt für die Geräte ausschalten. 1924 wurden andere Geschäftsbereiche abgestoßen und die Firma in IBM, International Business Machines, umbenannt.

Watson pflegte eine extrem paternalistische Unternehmensführung mit Sozialversicherung und Fortbildung der Angestellten auf der einen, dunklem Einheitsanzug, Alkoholverbot und Firmenhymnen auf der anderen Seite. Zu Watsons strengem Dresscode für Mitarbeiter gehörten sogar Hüte und Strumpfhalter. Was dazu führte, dass IBM-Maschinen über Jahrzehnte hinweg von Leuten gewartet wurden, die wie die Bösewichte in "The Matrix" aussahen.

Watson begann sich mit IBM ein Monopol in der kommerziellen Anwendung von Lochkartenmaschinen aufzubauen. Dies geschah u.a. durch "functional pricing": Die Preise wurden nicht von den Kosten einer Verbesserung, sondern von der Wirkung auf den Verbraucher bestimmt. So bot IBM zwei Druckermodelle an: eines doppelt so schnell und knapp doppelt so teuer wie das andere. Der Unterschied zwischen den Druckern war lediglich die andere Anordnung eines Gummibandes im Drucker.4

Da IBM die Maschinen nur vermietete, konnte die Firma ihre Kunden davon abhalten, die Maschinen zu öffnen und den Mechanismus herauszufinden. Auch Microsoft legt den Source Code (und damit die Funktionsweise) seiner Produkte nicht offen - selbst ein Verändern des Codes nach einer Dekompilierung wäre wegen der Lizenzpolitik illegal. Und auch Microsoft betreibt - ebenso wie viele andere Softwarefirmen - "functional pricing." Ein Beispiel hierfür ist die Preispolitik bei NT Server und NT Workstation. Die Server-Software kostete ein Vielfaches der Workstation, basierte aber auf demselben Code. Der einzige Unterschied bestand in einigen Einträgen in der Registry. Benutzer konnten durch das Verändern der Registry eine NT Workstation in einen NT Server verwandeln. Ebenso sind viele billigere Versionen von Software nur durch willkürliche Einschränkungen definiert: So werden etwa bestimmte Funktionen abgeschaltet oder nur eine begrenzte Anzahl von gleichzeitigen Verbindungen erlaubt.

In den frühen 30er Jahren hatte Watson sein Ziel schließlich erreicht: IBM hatte ein Monopol für Lochkartensysteme. Der Marktanteil anderer Hersteller betrug zusammengenommen weniger als 10%. Als Millionen Amerikaner hungerten, war Watson dank des Monopols seiner Firma und seiner Gewinnanteile Amerikas bestbezahlter Angestellter. Eine der ersten Maßnahmen der Roosevelt-Administration war deshalb eine Antitrust-Klage gegen IBM.

Im "tie-in"-System bot IBM seine Waren nur im Paket an - so wie Microsoft das mit Windows und dem Explorer handhabt. Durch dieses System mussten die Kunden im Rahmen der Mietverträge auch ihre Lochkarten von IBM beziehen. Das sperrte spezialisierte Hersteller von Lochkarten effektiv vom Markt aus. Der Vorwand der möglichen Beschädigung der vermieteten Ware durch unsauber gefertigte Lochkarten anderer Hersteller war schnell entkräftet und ein erstaunlich entscheidungsfreudiger Oberster Gerichtshof urteilte, ganz im Geiste der 30er Jahre, dass IBM seine Geschäftspraktiken zu ändern habe.

Doch die Regelungsoffensiven des New Deal hatten auch noch eine ganz andere Wirkung auf das Geschäft von IBM. Maßnahmen wie die Einführung einer Sozialversicherung führten zu einem erheblichen Anwachsen der Firmenbürokratien und zu einem entsprechenden Mehrbedarf an Lochkarten. So wurden Mitte der 30er Jahre bereits mehr als 4 Milliarden Lochkarten pro Jahr abgesetzt.

Mark 1

Erst 1941 wurde bei IBM mit der Arbeit an einem Rechengerät begonnen, das anstatt der bisher üblichen elektromagnetischen Zähler mit Elektronenröhren arbeiten sollte. Der 603 und der 604 waren solche Rechner, die mit Lochkartenlesern und -stanzern zur Ein- und Ausgabe der Daten gekoppelt waren. Das Programm wurde auf einer Schalttafel gesteckt. Dagegen wehte an den Universitäten in den 1930er und 1940er Jahren ein weitaus frischerer Wind als in Watsons Unternehmen mit Einheitsanzügen. So wurde an der Universität von Pennsylvania im Sommer 1946 der Röhrenrechner ENIAC mit 1800 Röhren und 1500 Relais geschaffen. Den ersten kommerziellen Computer, den UNIVAC, führte nicht IBM, sondern die Konkurrenzfirma Remington-Rand ein. Watsons Interesse an der Entwicklung der Computer war - vorsichtig formuliert - begrenzt. Er war ein Mann des Marketings, mehr an der Erschließung und Beherrschung von Märkten als an der Entwicklung neuer Produkte interessiert. Dieses Desinteresse wurde nur teilweise durch die Zusammenarbeit von IBM mit Universitäten wieder wettgemacht. Erst 1949 gab Watson sein Einverständnis zur Entwicklung eines wissenschaftlichen Computers, des 701. 1953 wurde das erste Gerät ausgeliefert und für 15.000 $ im Monat vermietet.

Schon 1952 war ein neuer Kartellrechtsprozeß gegen IBM notwendig. IBM unterzeichnete ein Abkommen mit der amerikanischen Regierung über die Senkung des Anteils am Lochkartenmarkt auf unter 50%. Überdies zwang das Justizministerium IBM, nun auch Systeme zu verkaufen, statt sie nur zu vermieten. Watsons ältester Sohn Thomas jr. genehmigte die Entwicklung des IBM 650, des ersten im heutigen Sinne "programmierbaren" Computers. Mittels selektiver Preise für ihre Produkte transportierte die Firma ihr Monopol in den 1950ern aus dem Bereich der Lochkartensysteme (von denen Computer anfangs nur ein Bestandteil waren) zu Computern: Die hohen Preise für die Lochkarten subventionierten niedrige Preise für die Rechnerserie 701 und 702.

Bei den Benutzern begann sich Kritik am Giganten zu formieren: Im Jahre 1955 gründete sich SHARE, ein Club von Benutzern von IBM-Rechnern. SHARE entstand aus einer Zusammenarbeit zwischen kalifornischen Flugzeugbauern, die einen Compiler für den 701 entwickeln sollten. Das Ziel von SHARE war es, zu vermeiden, dass verschiedene Leute an Programmen schrieben, die von anderen bereits entwickelt worden waren. So wurden Erkenntnisse ausgetauscht und Arbeiten koordiniert. John Backus, maßgeblich an der Entwicklung der Programmiersprache FORTRAN beteiligt, nannte als die beiden maßgeblichen Aktivitäten von SHARE: auf IBM einschlagen und SCIDS, das "SHARE Committee for Imbibers, Drinkers and Sots". Frank Wagner, ein anderer ehemaliger SHARE-Aktivist meinte, dass es ein "Club" (im Englischen sowohl "Verein" als auch "Knüppel") in dem Sinne war, dass man IBM damit auf den Kopf schlagen konnte.(vgl. salon.com. 1959 konnte IBM seinen Marktanteil allen Kartellverfahren zum Trotz auf 95% ausbauen. IBM hielt weiterhin seine Patente zur mechanischen Lochkartenverarbeitung und verkaufte nur komplette Lochkartenverarbeitungseinheiten an andere Computerhersteller. 5

Solche Patente waren eine Basis von IBMs Monopol. Ohne Patentschutz wären damals Lochkartenverarbeitungs-Clones wie heute Napster-Clones aus dem Boden geschossen und hätten den Preis bald durch Angebot und Nachfrage geregelt.

Ein weiterer wichtiger Faktor für den Erhalt des Monopols war das System des "eingesperrten" Kunden. "Eingesperrt" waren IBM-Kunden, weil sie bereits erheblich in IBM-Produkte investiert hatten. Wer Tausende von Stunden für die Beherrschung und Anpassung der IBM-Software aufgewendet hatte, der wechselte nicht leichtfertig zu einer anderen Firma - auch wenn deren Rechner leistungsfähiger und billiger waren. "Eingesperrten" Kunden konnten höhere Preise berechnet werden, neue Kunden wurden dafür mit Dumpingpreisen angelockt. Konsequent angewendet wurde diese Form der Preispolitik nicht nur von IBM: Einstiegsprodukte werden von Softwarefirmen häufig wie Einstiegsdrogen verschenkt. Kopien werden großzügig geduldet. Wenn schließlich eine dominante Marktposition abgesichert ist, werden die Preise bzw. wird die Strafverfolgungs- und Kopierschutzkandare angezogen. Wegen der Kartellverfahren musste dieses System von IBM in möglichst verwirrende Preisschemata und Paketpreise versteckt werden. Eine Praxis, die in den 1990er Jahren durch Firmen wie Mobilcom zu bauernfängerischer Meisterschaft entwickelt wurde.

Die Preispolitik von IBM widerlegt den Mythos, dass Unternehmen im Kapitalismus nur gewinnorientiert und damit berechenbar operieren: IBM verzichtete bewusst auf Gewinne zugunsten von Marktanteilen, wie Startups ihren Unternehmensgewinn zugunsten von Kurssteigerungen der Aktionäre vernachlässigten.

Ein weiterer Trick, mit dem IBM seine Marktdominanz sicherte, war die absichtliche Inkompatibilität zu den Produkten anderer Firmen. Als der Marktanteil von IBM in den 1960er Jahren auf 70% sank, lag der Grund dafür u.a. in einem Programm namens "Liberator", das Daten vom IBM 1401 auf den Honeywell-Computer konvertieren konnte. IBM entwickelte nun eine neue Strategie für den Umgang mit technischer Unterlegenheit: Das Unternehmen kündigte Neuerungen lange vor der Marktreife an und konnte zwei neue Begriffe auf die Liste seiner Innovationen schreiben: "Vaporware" sind Produkte, die bereits angekündigt werden, die es aber noch nicht gibt und vielleicht nie geben wird. "FUD" steht für "Fear, Uncertainty and Doubt" - "Angst, Unsicherheit und Zweifel". Der Ausdruck wurde von Gene Amdahl geprägt, einem ehemaligen Angestellten von IBM, der seine eigene Firma gründete, die gegen IBM zu konkurrieren versuchte. Wettbewerber wurden durch die Ankündigung von Produkten erschreckt, die noch längst nicht existierten.

IBM verbreitete Gerüchte über Produkte, deren Erscheinen zweifelhaft, um potentielle Konkurrenten von der Entwicklung solcher Produkte abzuschrecken.6 Auf ein IBM-Produkt zu warten, war, wie auf die Münchner S-Bahn zu warten: Je länger man wartet, desto größer ist das Zeitinvestment, desto geringer damit auch der Nutzen, noch auf ein Taxi umzusteigen oder zu Fuß zu gehen. Die tatsächliche Verspätungszeit wird grob verharmlost ("wenige Minuten") oder ganz verschwiegen.

Microsoft (aber auch andere Firmen) haben die FUD-Taktik von IBM übernommen. Auch Windows 95 kam in drei völlig unterschiedlichen Versionen heraus - effektiv waren die Versionen a und b dieser Betriebssysteme jedoch lediglich Betaversionen, die nicht als solche gekennzeichnet waren. Erst mit Windows 95 OSR2 lieferte Microsoft eine leidlich lauffähige Version des Betriebssystems. Diese Taktik scheint Microsoft auch mit der ersten Version von Windows ME anzuwenden.

Bösewichte in Matrix

1964 kündigte Watson jr., mittlerweile dynastischer Nachfolger in der Firmenleitung, ein System auf Mikrochipbasis an, das System /360. Der Name kommt von der Gradeinteilung des Kreises. Der Rechner sollte universell einsetzbar sein, alle Bereiche abdecken. Das Betriebssystem für den 360 war voller Bugs. Trotzdem rettete der 360 IBMs Monopolposition. Er wurde nach außen hin als eine der großen Erfindungen des 20 Jahrhunderts angepriesen, in internen Dokumenten aber nur als "medioker" eingestuft.7

Ähnlich wie Microsoft hatte IBM oftmals die gegenüber der potentiellen Konkurrenz schlechtere technologische Lösung. Und ähnlich wie Microsoft wurde diese technische Unterlegenheit in internen Dokumenten, die beim Kartellverfahren teilweise an die Öffentlichkeit gelangten, zugegeben. IBM verstieß mit all diesen Praktiken gegen die von der Firma selbst aufgestellten Dienstvorschriften, die angesichts der dominierenden Firmenkultur bei IBM ungefähr soviel Wert waren wie die Verfassung Rumäniens in den 1980er Jahren. Mit dem System /3 entwickelte IBM ab 1969 auch Computer für mittlere und kleinere Unternehmen, als schon das nächste Kartellverfahren über den Monopolisten hereinbrach.

Die Methoden, das System /360 durchzusetzen, hatten dazu geführt, dass neben verschiedenen kleineren Computerherstellern auch die Johnson-Administration gegen den Monopolisten klagte. IBM reagierte mit einem "Entbündeln" seiner Preise, was mit zur Entstehung einer Softwareindustrie beitrug. Die Dominanz von IBM auf dem Computermarkt war der Grund, warum Software lange Zeit nicht kommodifiziert wurde. IBM wollte seine Rechner nicht verkaufen, sondern vermieten bzw. verleasen. Was heute als getrennte Ware bzw. Dienstleistung wahrgenommen wird, Hardware, Software und Support, wurde als einheitliche Leistung vertrieben. So band IBM Kunden an sich: Wer einen IBM-Rechner hatte, der benutzte IBM-Software. Erst als IBM Hardware und Software trennte, konnte ein lukrativer Markt für Software entstehen. Erst dann entstand in großem Ausmaß die Praxis, den Source Code der Software geheim zuhalten.

Um das Image des Giganten stand es Ende der 1960er Jahre nicht zum besten: In der Geschäftswelt als Vorbild angesehen, wurde IBM von einer breiten Öffentlichkeit zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Arthur C. Clarke benutzte für die Literaturvorlage zu Stanley Kubricks "2001 - A Space Odyssey" die Buchstaben H, A und L als Name für den allmächtigen und böse werdenden Computer. Man muss kein ausgesprochener Kabbalist oder Verschwörungstheoretiker sein, um Clarkes Anspielung zu erkennen, sondern nur den jeweils nächsten Buchstaben des Alphabets nehmen: aus HAL wird IBM.

Stewart Brand schrieb 1972 im Rolling Stone, dass IBM den Schurken in jeder Computeranekdote spielt, die er zu hören bekommt. Die Firma die auch in Zeiten aufkommender Time-Sharing-Systeme vorwiegend auf Batch-Processing setzte, galt damit in der am MIT und in Kalifornien entstandenen Hacker-Kultur als Verkörperung von Zentralismus und Bürokratie.8 John Lilly behauptete Stewart Brand gegenüber sogar, dass IBM den Versuch unternahm, seinen Mitarbeitern das Spielen von Spacewar zu verbieten. Nach ein paar überraschend unkreativen Monaten freudloser Forschung musste IBM das Verbot jedoch wieder rückgängig machen.9 Trotz des laufenden Kartellverfahrens konnte IBM mit den Systemen /32, /34, /38, 4300, 5100, 303X, und der Serie /1 in den 1970er und frühen 1980er Jahren seine marktbestimmende Position weiter ausbauen und neue Märkte erschließen. IBM profitierte dabei unter anderem vom Image als amerikanische Waffe gegen das aufstrebende Japan.

Am 12. August 1981, kurz vor Ende dieses zermürbenden Kartellverfahrens, begann IBM mit einer völlig anderen Strategie an der Entwicklung des PC: Die Architektur wurde offengelegt, andere Firmen wie Intel, Seagate, Texas Instruments und ein damals noch kleines Unternehmen namens Microsoft wurden an der Herstellung beteiligt.10

Als Microsoft Anfang der 1980er zu wachsen begann, hätte IBM sowohl das Geld als auch die Position gehabt, um den Konkurrenten auszuschalten. Möglicherweise wollte IBM aber die Strapazen eines erneuten Kartellverfahrens vermeiden, und verzichtete bei Microsoft auf die Anwendung seiner vorher praktizierten Methoden das Umgangs mit der Konkurrenz. Wie oben bereits angesprochen, hatte sich auch die Kommodifizierung von Software, durch die Microsoft erst in seine Position aufsteigen konnte, zum Teil als Reaktion auf das Kartellverfahren gegen IBM durchgesetzt.

Ehrlich, harmlos und voll von guten Absichten

Eine Ironie der Geschichte: Hätte Microsoft überhaupt zu seiner heutigen Position aufsteigen können, wäre da nicht der Kartellrechtsprozeß gegen das Monopol von IBM gewesen?

Als Werbefigur für den IBM-PC diente Charlie Chaplin. Er sollte der Öffentlichkeit das suggerieren, was IBM im öffentlichen Bewusstsein gerade nicht war: Ehrlich, harmlos und voll von guten Absichten. Es nützte vorerst nichts: Als Apple im Orwell-Jahr 1984 seinen Macintosh mit einem Werbespot mit Big-Brother-Szenario und einer grauen Masse bewarb, wusste auch ohne Namensnennung jeder, wer mit dem großen Bruder gemeint war: IBM. Graue Gestalten marschieren mit ausdruckslosen Gesichtern in einen Saal. Darin gibt über einen großen Bildschirm "Big Brother" die Parteilinie bekannt: "Heute feiern wir das erste glorreiche Jubiläum der Informationsbereinigungsdirektive. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir einen Garten reiner Ideologie geschaffen".

Während die Menge auf den Videoschirm starrt, läuft eine junge Frau in bunter Sportkleidung durch die grauen Gestalten hindurch auf den Bildschirm zu. Big Brother fährt fort: "... wo jeder Arbeiter blühen möge, sicher vor den Übeln der widersprüchlichen und verwirrenden Wahrheiten. Unsere Vereinigung des Denkens ist eine mächtigere Waffe als jede Flotte oder Armee auf Erden. Wir sind ein Volk. Mit einem Willen. Einem Beschluss. Einer Sache. Unsere Feinde sollen sich zu Tode reden. Und wir werden sie mit ihrer eigenen Verwirrung begraben. Lasst uns siegen!". Dann zerschmettert die junge Frau den Bildschirm mit einem Hammerwurf. Der Sprecher verkündet: "Am 24. Januar wird Apple Computer den Macintosh vorstellen. Und Sie werden sehen, warum 1984 nicht wie "1984" wird." Der Werbespot zum Download [3,278 kb]

In den 1980er Jahren brachte IBM den Prozessor 3090 sowie das System /2 und das Application System /400 auf den Markt. Anfang der 1990er Jahre wurde der Großrechnerbereich durch die ESA/390-Architektur und die "Enterprise System" (IBMs neuer Name für Mainframe-Computer) /9000-Familie geprägt. Der Umsatz von IBM stagnierte jedoch, die Gewinne waren rückläufig. Als der PC den Mainframe-Computer in weiten Bereichen ablöste, sank der Kurs der IBM-Aktie innerhalb von 6 Jahren von 175 auf 49 $.11

Nachdem Microsoft durch einen Trick IBMs Betriebssystem OS/2 vom Markt gedrängt und sich selbst ein neues Monopol geschaffen hatte, löste sich IBM zusehends von der Gates-Firma und ging statt dessen Kooperationen mit Novell, Borland, Wang, Lotus, Apple und Siemens ein.

Wege in ein neues Image

Der Umbau des Unternehmens unter der Führung Lou Gerstners führte IBM nicht nur aus den roten Zahlen, sondern auch in ein neues Image. Der Sanierungsexperte entließ nicht nur massenhaft Angestellte, sondern krempelte auch die Firmenkultur um. Technische Rekorde sind ein wichtiges Standbein von IBMs neuem Image. 1997 schlug IBMs Computer Deep Blue den Schachweltmeister Kasparov. Dieses Ereignis leitete eine Wende im Image des Computerherstellers ein, der sich seitdem müht, regelmäßig mit Rekorden aufzuwarten

Spitzenmeldungen der letzten Monate waren z.B. am 15. August 2000, dass IBM einen Quantencomputer entwickelt, der auf fünf Fluoratomen, die als Prozessor und Speicher arbeiten, basiert. Eine schon im Juli im Physical Review A dokumentierte Entwicklung eines Forschungskonsortiums, das ebenfalls einen Quantencomputer mit fünf Atomen hergestellt hatte, erregte weit weniger Aufsehen. Der Quantencomputer könnte in der Entwicklung der Kryptographie (die Privatheit und damit Schutz vor Belästigung durch Staat, Medienindustrie etc. bietet) eine entscheidende Rolle spielen.

Im März meldete IBM unter anderem die Entwicklung einer Technologie, die es erlaubt, Milliarden von Transistoren auf einem einzelnen Chip unterzubringen - auf einem Intel-Chip haben grade mal 27 Millionen Transistoren Platz. Im selben Monat informierte IBM über das Projekt, mittels Nanotechnologie die Speicherentwicklung von Festplatten auf die zehnfache Dichte heutiger Platten auszudehnen. Im Juni wurde die Entwicklung von streichholzschachtelgroßen 1-Gigabyte-Platten, der Einsatz von On-The-Fly-Kompression und der Bau des weltschnellsten Computers zur Simulation von Kernwaffentests gemeldet und im August eine Technologie namens V-Groove vorgestellt, welche die Kanallänge von Chips auf 10 Nanometer verkürzt. Derzeit liegt die Kanallänge meist bei etwa 180 Nanometer.

Sogar die technische Seite von IBMs Firmengeschichte trägt zum gewandelten Image bei. Heute gelten IBMs Mainframes, selbst wenn sie damals Konkurrenzprodukten technisch unterlegen waren, als bewundernswerte Maschinen, verlässlich wie Uhrwerke, verglichen mit dem Schrott, den man auf dem Desktop hat. Mainframes sind auf einen langen Gebrauchszeitraum ausgerichtete Systeme, sie sind nicht einer ähnlich revolutionären Entwicklung unterworfen wie Desktop-Rechner. Mainframe-Kunden verlassen sich darauf, dass ihr System auch noch in 10 Jahren funktioniert. Das erfordert natürlich - im Vergleich zum PC - Planung und beeindruckende Systemarchitektur.

Ein entscheidender Grund im Wandel des Images von IBM ist freilich auch die Verschiebung des Monopols hin zu Microsoft. Wie anhand der Geschichte des Monopolerhalts von IBM bereits dargelegt, hat der Softwaregigant (und nicht nur er) einen großen Teil der schlechten Geschäftspraktiken übernommen, die IBM sich mühsam in drei Kartellverfahren abgewöhnen musste.

Obwohl weiterhin eine der größten Firmen der Welt, wird "Big Blue" nicht mehr, wie in den 1970er Jahren, als potentielle Bedrohung der persönlichen Freiheit wahrgenommen. Wie aber konnte sich ein derart offensiv positives Image bilden, von dem andere Monopolisten im Ruhestand, wie etwa die Telekom oder Standard Oil, nur träumen können? Die Wired-Generation steht den Giganten der industriellen Ökonomie grundsätzlich skeptisch, neuen technischen Errungenschaften aber extrem positiv gegenüber.

Zusammengefasst: Große Unternehmen sind böse - solange sie nicht coole Hardware, Software oder Netzwerke herstellen. Schlecht für Microsoft, gut für IBM. Das Netz, Open Source oder Kryptographie werden als neue Wege präsentiert, dem "Großen Bruder" entgegenzutreten. Die Legislative in Washington wird dabei bestenfalls als unfähig, sonst als schädlich angesehen. Wer eine Kontrolle der Macht von Mono- und Oligopolen vorschlägt, wird als "Cyberkrat" abgestempelt. Die reale Entwicklung von Regierungsaktivitäten in den USA kann durchaus zu dieser Haltung verleiten. Tatsächlich waren fast alle amerikanischen Gesetzesinitiativen der letzten 8 Jahre, vom Clipper Chip über den Communications Decency Act (CDA) bis zum Digital Millenium Copyright Act (DMCA) weniger auf den Schutz der Internet-Benutzer als vielmehr auf deren Zensur und Kontrolle ausgerichtet. Da nimmt es nicht Wunder, dass selbst Monopolisten wie Microsoft noch auf Sympathien einer mit Regierungsbelästigung geplagten Bevölkerung gegen Regierungseingriffe zählen können. Was bleiben also für mächtige Verbündete im Kampf gegen Monopole wie Microsoft, wenn die Regierung wegfällt? Andere große Firmen - vor allem wenn sie offene Standards fördern. Auch wenn diese anderen Firmen früher selbst ein Monopol hatten. Das ist das divide-et-impera des kleinen Mannes: Einer solch großen Anhäufung von Kapital wie bei Microsoft kann mit ähnlich großen wirtschaftlichen Machtkonzentrationen effektiv entgegengetreten werden. Diesen Entgegentreten wiederum geschieht am besten mittels möglichst offener Standards, da der Marktführer bei der Durchsetzung proprietärer Standards einen natürlichen Vorteil hat.

Damit erklärt sich auch IBMs Hinwendung zu Linux und Apache,12 die das Image des ehemaligen Bösewichts entscheidend verbesserte: IBMs Journaled File System (JFS) wurde unter der GNU General Public License veröffentlicht. Obwohl das Entwicklerteam der Software aus vier Angestellten von IBM besteht, brachte die Veröffentlichung IBM eine gehörige Imageverbesserung. Der Linux-Distributor Red Hat arbeitet mit IBM an der Integration von IBM-Produkten wie DB2 und WebSphere in Red Hat Linux und an der gemeinsamen Vermarktung der daraus entstehenden Produkte. Dank IBMs Entscheidung, Logical Volume Management (LVM), das eine logische Abstraktion von Festplatten und Partitionen implementiert, für Linux herauszubringen, kann man mit dem Linux-Kernel 2.4 (teilweise im laufenden Betrieb) Filesysteme vergrößern bzw. ändern.

In Deutschland, Frankreich, Polen, Ungarn und England sollen Linux-Zentren eingerichtet werden, in denen kleinere Firmen Software für Linux entwickeln können. IBM will mindestens 200 Millionen Dollar in die Zentren investieren. Seine ThinkPad-Laptops A20m und T20 liefert IBM seit diesem Sommer auf Wunsch mit vorinstalliertem Caldera Open Linux eDesktop 2.4. IBM will Linux zukünftig auf allen Serverfamilien anbieten: als Basisbetriebssystem für Netfinity, als Schnittstelle auf AIX 5L oder als Image auf dem System /390. Im August gab Irving Wladawsky-Berger, Vizepräsident für Technologie und Strategie bei IBM, einen Überblick über IBMs Aktivitäten betreffend Linux, in dem er die Möglichkeit ansprach, dass Linux einmal das Basisbetriebssystem für alle IBM-Systeme sein könne.

Im Juni meldete Slashdot stolz, dass der Power4-Prozessor Linux booten kann. Im August kündigte IBM ein neues Preisschema für Linux auf S/390 Mainframes an: Bald sollen sie 125.000 $ kosten. Für weitere 20.000 $ kann eine "virtual machine"-Software erworben werden, die es erlaubt, mehrere Kopien von Linux auf der selben Box laufen zu lassen. David Boyes, einem Consultant, der mit dem S/390 arbeitet, gelang es, 41.000 Linux-Server auf einem einzigen Mainframe zu booten. Das ergibt 45 $ pro gebootetem Linux und eine entsprechende Schlagzeile bei Slashdot. Die Reaktionen auf die Meldung waren überwiegend begeistert, es faszinierte vor allem die schiere technische Leistung.

Weil viele Mainframe-Systemverwalter keine Erfahrung mit Unix, Linux-Benutzer aber meist wenig Erfahrung mit Mainframes haben, ließ sich IBM Deutschland diesen Sommer das Linux-auf-dem-S/390-Installationsfest einfallen, das an eine Tradition von User Groups und akademischen Einrichtungen anknüpft. Da ein Mainframe nicht auf die Rückbank eines Pkws passt, musste das Installationsfest natürlich im virtuellen Raum stattfinden - mittels einer Kombination aus Internet und Telefon.

Im Juli und August installierten überall auf der Welt, von Österreich bis in die Vereinigten Arabischen Emirate, Systembetreuer mit virtueller Hilfe von IBM Linux auf ihrem 390. Leiter des Installationsfest-Projektes wurde Alex Stark, Manager des Projekts "Linux for S/390 Design and Development". Der 35-jährige Stark leitet ein Team, das Code für Linux auf 390-Hardware entwickelt. Das Installationsfest brachte sie direkt mit den Problemen neuer Benutzer in Berührung. Außerdem standen etwa 20 IBM-Ingenieure den Kunden Frage und Antwort.

Die Kunden bekamen von IBM ein Paket, das neben SuSE Linux auch Partyhüte und Scherzartikel enthielt, um dem Charakter des Installationsfests gerecht zu werden. Ein weiter Weg von den einheitlichen dunklen Anzügen zu diesen Hüten, oder nur eine andere Form dieser Einheitlichkeit?