Die Gleichung der Panik

Wissenschaftler haben das Verhalten einer Masse in Panik mit einem Multiagentensystem simuliert

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Massen, das waren für das bürgerliche Zeitalter, das Zeitalter des Individuums und der Mechanik, eine angstbesetzte Erscheinung. In ihr löst das einzelne Subjekt in einer Herde auf, verliert seine Kontrolle, wird vom Verhalten der anderen Menschen angesteckt und handelt dann wie ein kopfloser, nur noch von kollektiven Trieben geleiteter Superorganismus. Massen können in Ekstase geraten, gewalttätig werden oder plötzlich einen Aufstand begehen. Eine besonders gefährliche "Ansteckung", die in Massen für deren Mitglieder auftritt, ist die Panik, die oft genug dazu führt, dass die Menschen aus Angst oder manchmal auch ganz grundlos, wenn sich Hindernisse in den Weg stellen, einander tot trampeln oder zerquetschen.

Je mehr Menschen auf der Erde leben und je mehr sich in Städten oder zu bestimmten Massenereignissen wie dem Oktoberfest, Popkonzerten, Demonstrationen oder Fußballspielen verdichten, desto häufiger und auch gefährlicher können Panikanfälle werden. Massenereignisse können heute Millionen von Menschen auf engstem Raum zusammenführen. Undenkbar, was passieren könnte, wenn etwa die Masse einer Loveparade plötzlich in Panik geraten und losstürmen würde.

Bislang hat man, ganz in der Tradition des Gegensatzes von Masse und Individuum, die Bewegung einer Masse in Panik, die etwa vor einem Feuer aus einem Gebäude fliehen will, als eine Art Fluss von gleichartigen Teilchen verstanden, die keine eigenen Handlungs- und Entscheidungsoptionen mehr besitzen. Dass sich die Individuen einer Masse in Panik gegenseitig anstecken und in ihrem Verhalten verstärken, wusste man zwar schon seit Beginn der zeitweise modischen "Psychologie der Massen", aber man dachte, dass die Einzelnen dann von einer "Massenseele" mitgerissen werden, die ihnen neben der Vernunft und Kontrolle auch das Interesse an Selbsterhaltung raubt. Aber obgleich die Masse derart ansteckend wirken soll, dass eine Art Superorganismus daraus entsteht, kommt es bei Panik doch offensichtlich zu "unkoordinierten" Verhaltensweisen, die wegen der Drängelei und Eile zu gefährlichen Staus führen.

Interessant ist die Analyse und Vorhersage der Dynamik einer Masse etwa für die Konstruktion von Gebäuden und Wegen, um Panikreaktionen oder angstgetriebenes Herdenverhalten von vorneherein zu verhindern. Natürlich treten auch bei Flüssigkeiten, wenn ihr Durchfluss im Verhältnis zum Durchmesser der Leitung zu hoch ist, Staus auf, die dann etwa zu Überschwemmungen führen. Muss man also nur genügend, deutlich kenntliche Ausgänge und ausreichende breite Wege machen, um eine Panik zu verhindern?

Dirk Helbing vom Institut für Wirtschaft und Verkehr der TU Dresden , Illes Farkas vom Institut für Biologische Physik und Tamas Vicsek vom Kollegium Budapest haben, weil sich aus verständlichen Gründen kaum Daten von Massen in Panik erheben oder finden lassen, aus Modellen, wie sich Fußgänger auf einer Straße bei Hindernissen oder Engstellen verhalten und wie sich die Dynamik der Verkehrs nachvollziehen lässt, eine Gleichung entwickelt, mit der sich das Geschehen simulieren lässt (Simulating dynamical features of escape panic, Nature: 407, 487-490) oder hier.

Nur aus der Distanz wirkt das Verhalten einer Masse in Panik unkoordiniert, in Wirklichkeit aber muss man die Masse als ein System von lokal interagierenden Einzelnen betrachten, die keinen Gesamtüberblick besitzen, aber durchaus bewusst und mit bestimmten Entscheidungen auf das Verhalten in ihrer Umgebung reagieren. Es handelt sich also um ein Multiagentensystem oder um so etwas wie einen zellulären Automaten. Das Gesamtverhalten des "System" Masse in Panik ist eine Folge der lokalen Interaktionen der Individuen.

Zunächst haben die Wissenschaftler versucht, das Verhalten von Menschen bei einer Fluchtpanik aus der Literatur zu beschreiben. Die Menschen versuchen zumindest, sich schneller als gewöhnlich zu bewegen; sie rücken einander auf den Pelz, beginnen, einander zu berühren und zu stoßen; bewegen sich unkoordiniert auf Ausgänge oder Engstellen zu oder durch sie hindurch; dabei entstehen Staus, die körperlichen Interaktionen nehmen zu, ein gefährlicher Druck kann sich aufbauen, der Hindernisse oder Absperrungen wegzudrücken vermag; Menschen können umfallen und so ebenso zu einem Hindernis werden, das zu neuen Staus führt. Während man aber normalerweise von sozialpsychologischen Modellen ausgeht, mit denen man das Massenverhalten beschreibt und dadurch nur zu einem ansteckenden Massenverhalten einer Flüssigkeit kommt, ergänzten die Wissenschaftler diese beschriebenen Verhaltensweisen mit den Eigenschaften eines selbstorganisierten Teilchensystems, bei dem wechselseitig Kräfte ausgeübt werden.

Möglich ist der neue Ansatz nur, weil für solche Multiagentensystemen mit vielen Parametern jetzt erst die Rechenkapazität zur Verfügung steht, woraus man umgekehrt auch den Schluss ziehen kann, dass die Modelle, mit denen wir die Welt beschreiben, auch immer vom Stand des (technisch) Möglichen abhängen. Zu Staus vor Engstellen führt vornehmlich die Bildung von "Propfen", wenn Menschen von allen Seiten auf einen Ausgnag zustreben und dann vor ihm einen "Bogen" bilden, der das weitere Fortkommen behindert, weil die Menschen in diesem Bogen vor dem Ausgang sich gegenseitig drücken und so verkeilen. Solche Propfen zerfallen schnell und bilden sich erneut.

Die Gleichung geht davon aus, dass eine Menge von Menschen mit einem bestimmten Gewicht mit einer bestimmten Geschwindigkeit in eine bestimmte Richtung gehen will und dabei dazu neigt, die Geschwindigkeit an eine bestimmte Zeit anzupassen, während gleichzeitig versucht wird, zu den anderen und zur Mauer oder zu Hindernissen eine gewisse geschwindigkeitsabhängige Distanz einzuhalten. Um die Zahl der Parameter möglichst klein zu halten, nehmen die Wissenschaftler an, obgleich die Maße variieren, dass die Werte bei allen Menschen gleich sind. Um jedoch ein wenig zufällige Irregularität einzubringen, wurde die Schulterbreite zwischen 0,5 bis 0,7 Meter gestreut. Ausgehend von dem Maß, wieviele Menschen, ohne einen Stau zu verursachen, mit welcher Geschwindigkeit durch eine Tür gehen können (0,73 Personen pro Sekunde für eine 1 Meter breite Tür bei einer Geschwindigkeit von 0,08 Meter pro Sekunde).

Aufgrund der Simulationen kamen die Wissenschaftler zu durchaus interessanten Ergebnissen. Sie konnten zeigen, dass eine Menschen in Panik allein aufgrund der höheren Bewegungsgeschwindigkeit an Flaschenhälsen Staus verursachen, an denen sie mit normaler Geschwindigkeit problemlos und fließend durchgekommen wären. Erstaunlich ist auch, dass dann, wenn ein Durchgang blockiert ist und ein Stau entsteht, der Versuch, schneller zu gehen, die Geschwindigkeit beim Hinausgehen noch weiter herabsetzt. Allerdings muss es auch nicht immer ratsam sein, nach einem Flaschenhals den Durchgang zu verbreitern, wenn noch einmal ein Flaschenhals kommt. Die Menschen, die im breiteren Bereich am Rand gehen und die anderen überholen, was die Masse entdichtet und die Geschwindigkeit erhöht, müssen sich dann wieder in sie hineinquetschen, was wieder zu einem Stau führt. Bei einer Simulation in einem mit Rauch gefüllten Raum mit mehreren Ausgängen zeigte sich, dass weder ein rein individualistischer Ansatz, bei dem jeder Mensch eigenständig einen Ausgang sucht, noch ein Herdenverhalten, bei dem jeder entweder einem anderen oder der durchschnittlichen Richtung aller folgt, erfolgreich ist. Beim individualistischen Ansatz findet jeder Einzelne nur zufällig eine Tür, während beim Herdenverhalten manchmal alle in eine Richtung gehen, die dann aber blockiert ist. Optimal wäre hingegen eine Mischung beider Verhaltensweisen.

Die Wissenschaftler wollen aus den Simulationen ableiten, wie man etwa Ausgänge in Gebäuden so anlegen könnte, damit sich die Gefahr von Staus und Panik reduzieren lässt. Dem würden etwa Säulen, die man zufällig vor Ausgängen verteilt, die Geschwindigkeit und Verdichtung herabsetzen. Allerdings sind die Simulationen aufgrund des einfachen Modells nicht unbedingt realistisch. Die Wissenschaftler sagen zwar, dass sie damit viele beobachtete Phänomene reproduzieren konnten, aber man bittet um die Zusendung von Daten oder Videos von Paniksituationen beim Verlassen von Räumen oder Gebäuden, um mit diesen das Modell quantitativ überprüfen zu können. Zudem wollen sie weitere Parameter einbeziehen wie die Auswirkungen von Fluktuationen, die Einbeziehung akustischer Informationen, fallende Menschen, die den Weg für andere blockieren, und komplexere Strategien und Interaktionen, wozu auch gehört, dass Strategien gewechselt werden können.