Studie untersucht die Berichterstattung im Fall Joseph und Sebnitz

Ein einmaliger Fall in der Geschichte der bundesdeutschen Presse

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Mit einer Schlagzeile begann der wohl größte Presseskandal der letzten Jahre. Am 23. November 2000 erscheint die Bild-Zeitung mit dem Aufmacher "Neonazis ertränken Kind". Der Artikel zum Thema trägt dann die Schlagzeile "Kleiner Joseph - Gegen 50 Neonazis hatte er keine Chance". Ausführlich wird im Bericht dargestellt, wie der kleine Junge 1997 am helllichten Tag in einem gut besuchten Sebnitzer Schwimmbad umgebracht wurde: "50 Neonazis überfielen den kleinen Joseph. Schlugen ihn, folterten ihn mit einem Elektroschocker, dann warfen sie ihn ins Schwimmbecken, ertränkten ihn. (...) Fast 300 Besucher waren an jenem Tag im ,Spaßbad' im sächsischen Sebnitz. Viele hörten seine Hilferufe, keiner half."

Was hier als Tatsache behauptet wird, basierte bekanntlich ausschließlich auf einen Verdacht, den die Mutter des Kindes gegenüber Journalisten geäußert hat. Der Junge, das ergab später ein Gutachten, starb in Wirklichkeit an Herzversagen. Im Auftrag der Sächsischen Staatskanzlei hat jetzt die Kommunikationswissenschaftlerin Anja Willkommen die Rolle der Presse bei der Berichterstattung im Fall Joseph untersucht. Entstanden ist daraus die Studie "Sebnitz, Joseph und die Presse", die akribisch die Ereignisse nachzeichnet und analysiert. Heruntergeladen werden kann sie von www.sachsen.de, wenn man etwas umständlich zu "Publikationen und Downloads" geht und dort nach Sebnitz oder der Autorin sucht.

Dabei kommt die Autorin zum Ergebnis, dass der vorliegende Fall als einmalig in der Geschichte der bundesdeutschen Presse zu werten sei. "Ein Thema, zuerst publiziert von der Bild-Zeitung, wird von nahezu allen bundesdeutschen Medien aufgegriffen. Innerhalb eines Tages berichten sowohl sächsische als auch überregionale Blätter vom Fall Joseph."

Und fast alle übernehmen dabei unüberprüft die Bild-Version. Dass auf gründliche Recherche verzichtet wurde, hat nach Meinung von Anja Willkommen mehrere Ursachen: "Der Hauptgrund für die Entwicklung der Berichterstattung ist im Thema selbst zu sehen: Es besitzt einen hohen Nachrichtenwert, also zahlreiche Komponenten, die ein hohes Interesse seitens der Leser versprechen, zudem ist es sehr emotional besetzt - es geht um den Tod eines kleinen Jungen. Weiterhin ist das Thema sensationell - mutmaßlich liegt ein Verbrechen vor!" Zudem habe der Fall gut in das Klischee vom rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Osten gepasst.

Einen weiteren Grund sieht die Autorin in der relativ geringen redaktionellen Kontrolle im deutschen Journalismus. In angelsächsischen Redaktionen würden viel häufiger als in deutschen Medien Berichte von einem Vorgesetzten geändert oder zum Umarbeiten zurückgegeben, um dadurch die Faktengenauigkeit zu verbessern oder den Bericht ausgewogener zu gestalten. In Deutschland dagegen würden Medieninhalte viel stärker als individuelles Produkt eines einzelnen Journalisten angesehen. "Dies verleitet dazu, dem Urteil eines einzelnen Journalisten, zum Beispiel des Korrespondenten vor Ort, mehr Gewicht beizumessen und seiner Sicht der Dinge erst einmal zu folgen, selbst wenn sie in der Zentrale Zweifel hervorrufen." All dies führte dann zum Medien-Gau. Und später dann bisweilen zu einer selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Berichterstattung oder zu Entschuldigungen wie der Folgenden in der Hamburger Morgenpost vom 25. Januar:

Ein Sorry nach Sebnitz.
Der kleine Joseph aus dem sächsischen Sebnitz starb vor dreieinhalb Jahren an Herzversagen, war nicht Opfer rechtsradikaler Schläger. Das jetzt veröffentlichte Gutachten stellt dies zweifelsfrei fest. Uns Medien, natürlich auch der MOPO, bleibt im Zusammenhang mit der Sebnitz-Berichterstattung eine schwere Bringschuld: Liebe Sebnitzer, voreilig (und wahrscheinlich nicht ganz vorurteilsfrei) haben wir Berichte über den schrecklichen Mordverdacht leichtfertig übernommen, eine ganze Region dadurch in Misskredit gebracht. Das tut uns sehr leid!

Tragisch am Fall Joseph war: Alle, auch wir, hielten derartige Horrorszenarien im Deutschland der Gegenwart für möglich. Alle Fakten schienen plausibel. Doch Plausibilität entbindet eben nicht von der Pflicht, sorgfältig zu recherchieren. Jetzt sollten alle froh sein, dass niemals geschah, was als ungeheuerlicher Verdacht im November das Land entsetzte: Dass weggesehen wurde, als ein Mensch aus rassistischen Motiven gemeuchelt wurde (...).

Im Vorwort zur Studie erinnert der sächsische Regierungssprecher Michael Sagurna übrigens auch an die zuweilen widerwärtigen Auseinandersetzungen im Gästebuch von Sebnitz.de (Siehe: Das Gästebuch von Sebnitz.de): "In der noch jungen weltweiten Tradition kommunaler online-Gästebücher hat der Fall Sebnitz eine traurige Marke gesetzt und unfreiwillig einen weiteren Beweis erbracht, dass die Kommunikation in der online-Welt zwar eine beachtliche Verkürzung der Reaktionszeiten bewirkt, aber ebenso auch eine Verkürzung der Zeit zum Nachdenken über die angemessene Art der Meinungsäußerung."

Die Betreiber der kommunalen Netzseite haben daraus längst die Konsequenz gezogen. Und ihr Gästebuch geschlossen. Nun ist zumindest online die Welt in Sebnitz wieder ein Stück weit in Ordnung.