Augenzeugen und Fotos: Schüsse auf Carlo Giuliani keine Notwehr

Neue Bilder und Aussagen zum Tod des 20jährigen in Genua

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Neue Bilder und Aussagen zur Erschießung des 23jährigen Carlo Giuliani in Genua werfen ein neues Licht auf das Vorgehen der paramilitärischen Polizeieinheit der Carabinieri während der Proteste gegen den G-8-Gipfel in Genua.

Nach Einschätzung eines direkten Augenzeugen handelte der Todesschütze nicht in Notwehr. In einem Interview mit der konservativen italienischen Tageszeitung "Corriere della Sera", das am Dienstag, den 31.7., veröffentlicht wurde, berichtet ein namentlich nicht genannter 23jähriger Genueser, er habe die gezogene Waffe des Carabiniere gesehen und ihn schreien gehört: "Bastarde, ich werde euch töten, ich werde euch töten." Daraufhin habe er umstehende Demonstranten, die wie er den Carabinieri-Jeep bewarfen, gewarnt und gerufen: "Lasst uns abhauen, der wird schießen." Nur kurze Zeit später habe er direkt hintereinander zwei Schüsse vernommen und anschließend noch einen dritten.

Bereits am 27. Juli hatte Luca Casarini, Sprecher der italienischen "Tute Bianche" (der Bewegung der "weißen Overalls"), neue Fotos über die Erschießung Giulianis vorgelegt, die "die Dynamik der Tötung verändern". Auf den Bildern eines britischen Fotografen - die zuerst auf der Webseite des linken Senders Radio Sherwood und der koservativen Tageszeitung La Repubblica veröffentlicht wurden und mittlerweile auch auf weiteren Seiten einsehbar sind - ist deutlich zu sehen, dass der Jeep der Carabinieri keineswegs isoliert war: Etwa 20 m entfernt befand sich eine größere Gruppe Carabinieri, die die Szenen beobachtete ohne einzugreifen.

Casarini kommentierte die neue Bildfolge auf einer Pressekonferenz und kündigte an, eine Reihe von Zeugen - nicht nur Demonstranten - hätten sich gemeldet und seien bereit, auch vor Gericht auszusagen. Auf den Bildern, so Casarini, werde deutlich, dass der Feuerlöscher, der Carlo Giuliani in anderen Bildern auf den Wagen zu werfen scheint, aus dem Innern des Fahrzeugs stammte. Er wurde kurz vorher von dem Todesschützen Marco Placanica nach außen auf die Demonstranten geschleudert. Bevor Carlo noch den Feuerlöscher vom Boden hebt, hält der Todesschütze bereits die Waffe im Anschlag und zielt auf einen grau gekleideten Demonstranten, der aber vermutlich die Waffe sieht und die Flucht ergreift. Daraufhin richtet er die Waffen auf Carlo Giuliani, der sich wahrscheinlich erst nach Aufheben des Feuerlöschers bewusst wird, dass eine Pistole auf ihn gerichtet ist. Die Pistole zielt direkt auf seinen Kopf. Laut Zeugenaussagen feuerte der Schütze zwei oder drei Schüsse auf Carlo Giulianis Kopf ab. Carlo Giuliani fällt getroffen zur Erde. Blut schießt aus seinem linken Auge, wo das Geschoss eingedrungen ist.

Die von der italienischen Polizei und Regierung bisher verbreitete These, der Beamte hätte angesichts einer konkreten Bedrohung durch den Feuerlöscher in Notwehr gehandelt, verliert mit den Bildern zunehmend an Glaubwürdigkeit, denn schließlich hatte der Carabinieri seine Waffe zeitlich vor der Bedrohung durch den Feuerlöscher gezogen und sie auf mehrere Angreifer gerichtet. Auf dem ersten Foto der Bildfolge ist neben dem fliegenden Feuerlöscher auch deutlich die Sohle eines schwarzen Stiefels zu erkennen. Es handelt sich dabei vermutlich um den Todesschützen, der die Rückscheibe des Wagens von Innen eintrat. Luca Casarini kündigte an, auch dafür Zeugen zu haben, darüber hinaus bestätigen diese auch, dass der Carabinieri, nachdem Carlo Giuliani unter seinen Schüssen tot zusammenbrach, sein Gesicht mit den Händen verdeckte und anschließend eine Sturmhaube überzog, um nicht identifiziert zu werden.

Die italienische Regierung wird indes nicht müde, der Polizei und den Carabinieri für ihren lobenswerten Einsatz zu danken. Den spontanen Worten des Premiers Silvio Berlusconi, der für den Tod von Carlo Giulianis Verantwortliche solle sich einen Urlaub gönnen, folgten nun konkrete Taten: Der Ortsverband Avellino der Berlusconi-Partei "Forza Italia" lud den Todesschützen zu einem Gratisurlaub ein. "Eine sehr gravierende Provokation", so die sozialdemokratische DS, die vom Innenminister fordert, die Einladung zu verurteilen.

Währenddessen beharrte Filippo Ascierto, Feldwebel der Carabinieri und Verantwortlicher des Bereichs "Sicherheit" für die, aus der faschistischen MSI hervor gegangene Regierungspartei Alleanza Nazionale in einem Radiointerview auf der Notwehrversion und fügte hinzu:

Wäre jemand mit mehr Erfahrung an der Stelle jenes Carabinieri gewesen, hätte er mehr als einen umgelegt, denn juristisch war die Notwehrsituation ja gegeben.

Dass Schusswaffen bei den in Genua eingesetzten Ordnungskräften locker saßen, wird im nachhinein immer deutlicher. Am Mittwoch präsentierte Willer Bordon, Fraktionsvorsitzender des moderaten bürgerlichen Bündnisses, im italienischen Senat eine neue Videoaufzeichnung, gedreht am 20. Juli zwischen 17.00 und 18.00 in der Via Tolemaide, nahe dem Ort, an dem Carlo Giuliani kurze Zeit später mit einem Kopfschuss getötet wurde. In dem Video; (Fotos) ist zu sehen, wie Demonstranten Steine auf Einsatzfahrzeuge werfen und ein Carabinieri aus der hinteren Tür eines Polizeitransporters mit einer Pistole auf Demonstranten zielt. Aufgrund des Lärmpegels lässt sich jedoch bisher nicht sagen, ob Schüsse abgegeben wurden.

Sollten die Bilder jedoch Schüsse in die Demonstration nachweisen, wäre dies der Beweis dafür, dass im Gegensatz zu dem, was der Herr Minister Scajola behauptet hat, Schusswaffen sehr wohl präsent waren und nicht lediglich benutzt wurden, um einer immanenten Gefährdung zu begegnen,

so Bordon.

Die rechte Regierungsmehrheit lehnte am Mittwoch mit ihren Stimmen dennoch sowohl das von der Opposition gestellte Misstrauensvotum gegen Innenminister Claudio Scajola als auch die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission ab. Gebildet wurde eine 36köpfige Kommission aus Parlamentariern und Senatoren (Abgeordnete der zwei Kammern Italiens), deren Untersuchungsergebnisse und Schlussfolgerungen keinen bindenden Charakter haben.