Anastasia screamed in vain

Geschichtsrevisionen und Verbrechensbekämpfung mit der DNA-Analyse

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Charles Fain dankte vor wenigen Tagen inbrünstig seinem Schöpfer: "Thank God for DNA." Fain hatte 17 Jahre wegen Mordes im Hochsicherheitsgefängnis von Idaho verbracht, obwohl er selbst immer wieder beteuert hatte, das Mädchen Daralyn Johnson nicht getötet zu haben.

Er war davon überzeugt, dass sich seine Unschuld früher oder später herausstellen würde, aber ein Drittel seines Lebens hat es gedauert, bis er von seinem Schöpfer - bzw. weltlicher gesprochen - der DNA (Desoxyribonukleinsäure)-Analyse endlich erlöst wurde. Die Schamhaare, die man in den Socken und der Unterwäsche des Kindes fand, stammten nach der DNA-Revision des Falles nicht von Fain. Aber damit ist der Fall längst nicht ad actas gelegt, denn jetzt stellt sich die Frage, wer denn für die Schreckenstat verantwortlich sein könnte. Und diesmal könnte die Aufklärung effektiver verlaufen.

In den USA entfaltet die Polizei nämlich zunehmenden Ehrgeiz, alte Fälle der Kategorie "XY-unbekannt" wieder aus den Aktengräbern zu holen. Vor allem ungelöste Mord- und Vergewaltigungsfälle, die oft schon seit Jahrzehnten ungelöst sind, werden dank immer besserer DNA-Analysen wieder spannend. Kernstück der neuen US-Technologie ist die DNA Datenbank "CODIS" (Combined DNA Index System), die sog. "Cold Case"-Spezialgruppen auf den Plan gerufen hat und die nun viele Fälle revolvieren, die sich ehedem im Dunkel der Geschichte verloren hatten. Mit dem "DNA Identification Act" von 1994 wurde das FBI autorisiert, ein nationales DNA Register aufzubauen. CODIS startete 1990 als Pilotprojekt von 14 Untersuchungslaboren und hat sich inzwischen zu einer gigantischen Datenbank mit über einer halben Million DNA-Profilen von verurteilten Straftätern sowie über 20.000 unaufgeklärten Verbrechensszenarien entwickelt.

In Deutschland wurden 1998 die gesetzlichen Voraussetzungen für die beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden eingerichtete zentrale Gendatenbank geschaffen. Danach dürfen zur Identitätsfeststellung nach richterlicher Anordnung in künftigen Strafverfahren dem Beschuldigten Körperzellen entnommen und zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters molekulargenetisch untersucht werden. Voraussetzung ist, dass wegen der Schwere der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten und sonstiger Erkenntnisse nicht auszuschließen ist, dass künftig erneut Strafverfahren gegen ihn zu erwarten sind. Etwa 90 000 DNA-Proben sind inzwischen in der Datenbank gesammelt worden und das BKA verweist auf eine Erfolgsbilanz von "900 Treffern". 1990 entschied der Bundesgerichtshof zudem, dass der DNA-Fingerabdruck zur Aufklärung schwerer Verbrechen als Beweismittel zulässig sei.

Die vor 20 Jahren vom Mörder zurückgelassene Bierflasche oder Zigarettenkippen werden jetzt zum Fluch der bösen Tat. Vor allem bei der Aufklärung von Tötungs- und Sexualdelikten wird die forensische Molekulargenetik eingesetzt, um die genetischen Fingerabdrücke zu sichern. Wurden zuvor vergeblich Fingerabdrücke festgestellt, kann jetzt die Bierflaschenöffnung ein aussagekräftiges DNA-Profil eröffnen. Blut, Speichel, Sperma, Haar, winzige Hautschüppchen, aber selbst eine Kugel, die einen Körper durchschossen hat, können für eine Analyse des menschlichen Erbgutes ausreichen. Bei etwa der Hälfte aller Tötungs- und Sexualdelikte werden laut der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin Spuren mit Erbinformationen des Täters sichergestellt. Anlässlich des spektakulären Sexualmords an Ulrike aus Eberswalde wurde sogar eine bundesweite DNA-Datei für alle Männer gefordert. Das dürfte zwar verfassungsrechtlich genau so wenig zulässig sein wie die vor kurzem erhobene Forderung, selbst "Spanner" molekulargenetisch zu erfassen. Doch diese Art der Erfassung für Ermittlungszwecke ist weniger persönlichkeitsrechtsgefährdend als etwa mehr oder minder willkürliche Lauschangriffe. Aber auch bei der prinzipiell als sicher geltenden DNA-Analyse stellt sich das Problem der Verbindlichkeit der Ermittlungsergebnisse. Hier sind Methoden gefragt, die die Unverwechselbarkeit der Täterfeststellung bis hin zur an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit garantieren. Da ohnehin fast regelmäßig die DNA-Analyse auch mit anderen Beweismitteln einhergeht, befinden sich die Gerichte in solchen Fällen in einer besseren Erkenntnissituation als bei Zeugeneinvernahmen, die der Natur der Sache nach oft mit erheblichen Restzweifeln behaftet bleiben.

Aber auch die "Gegenseite" schläft nicht. So wurden kurz nach der Verurteilung und Inhaftierung Anthony Turners wegen dreifacher Vergewaltigung Samenspuren bei einem neuen Opfer gefunden, die nach der DNA-Analyse auf Turner verwiesen. Da nun Turner kein Freigänger war, bestand nur noch ein völlig irreale Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen, die nicht eineiige Zwillinge sind, ein identisches Genprofil besitzen. Bevor sich aber die Ermittlungsorgane auf diese, den Staatsanwalt quälende Konstellation einließen, fand sich eine erheblich plausiblere Erklärung. Turner hatte seinen Samen aus dem Justizvollzugsanstalt herausschmuggeln lassen und zum Billigtarif von 50 Dollar eine Frau beauftragt, eine Vergewaltigung mit seinem Samen vorzutäuschen, um die Unzuverlässigkeit der Methode unter Beweis zu stellen, die ihn überführt hatte. Immerhin treffen Täter inzwischen oft Vorsichtsmaßnahmen, wenn sie zu Werke schreiten. Abgesehen von der Tat selbst verhalten sich solche Verbrechensprofis vorbildlich: Sie spucken, trinken und rauchen am Tatort nicht. "Vorsichtige" Vergewaltiger nehmen Kondome und manche Täter reinigen den Tatort hinterher so gründlich wie eine Putzkolonne. Vielleicht nehmen "perfekte Mörder" demnächst auch die spöttische Anregung der Polizei auf, Astronautenanzüge zu tragen, um jede Spurensicherung zu vereiteln. Verbrechen lohnt sich immer weniger.

Auch das Jüngste Gericht ist auf saubere Tatsachenfeststellungen angewiesen, um die ewige Verdammnis auszusprechen. Aber die göttlichen Einblicke in das Böse reichten bislang erheblich weiter als Kriminalistik und Gerichtsmedizin. Für die irdischen Ermittlungsorgane und die DNA-Geschichtswissenschaft gibt es ab jetzt noch viel zu tun. Die Welt des Verbrechens ist eine riesige Truhe ungesühnter Missetaten. Da wäre etwa "Jack the Ripper", der zwischen August bis November 1888 fünf Frauen in Whitechapel und Spitalfields/London tötete. Trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit wurde er nicht entlarvt und noch heute kursieren unzählige Theorien, die selbst das britische Königshaus verdächtigen, in die Schreckensserie verwickelt gewesen zu sein. Doch das muss nicht das Ende der Ermittlungen sein. Vor mehr als einem Jahrzehnt wurde es Molekularbiologen möglich, selbst "alte DNA" in ägyptischen Mumien (Pääbo 1985) aufzuspüren. Zuvor glaubte man, dass DNA kurz nach dem Tod eines Organismus so weit abgebaut sei, dass keine brauchbare Geninformation mehr verfügbar wäre. Zwar verschlechtert sich Alt-DNA im Lauf der Äonen rapide, aber gleichwohl finden sich in zahlreichen Fällen noch ausreichend Geninformationen, um mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion (PCR, Polymerase-Chain-Reaction) eine Analyse zu ermöglichen. Selbst kleinste Mengen von Erbsubstanz können mit dieser Methode so weit angereichert werden, dass lediglich eine intakte Einheit eines DNA-Segments für die Analyse ausreicht.

Die DNA-Analyse könnte der Geschichte noch viele Schleier wegreißen, die wilde Mythen und kühne Kolpartagestoffe schufen. Tatort 16. Juli 1918 in Jekaterinenburg: Die russischen Zaren-Familie wird ohne politische Not von den Bolschewiken ermordet. Viele Tatversionen rankten sich in der Folge auch hier um dieses Ereignis. Überlebte vielleicht jemand das Massaker?

I killed the Czar and his ministers, Anastasia screamed in vain

- auch die teuflische Behauptung der Rolling Stones beseitigte nicht jeden Restzweifel. 1991 untersuchte die britische Behörde "Forensic Science Service" in Birmingham die Knochenreste erneut, um die Identitäten zu verifizieren. Anna Anderson, die sich über Jahrzehnte zur Freude der Regenbogenpresse als Zarentochter Anastasia ausgegeben hatte, wurde als schnöde Lügnerin entlarvt.

Der vielleicht spektakulärste Fall ist der Kaspar Hausers, des Findelkinds Europas, der zur Metapher der menschlichen Existenz und ihrer Geworfenheit schlechthin wurde. Zugleich wurde Kaspar Hausers rätselhafte Herkunft zur Anklage gegen das badische Fürstenhaus, Hausers Identität als Prinz kurz nach dessen Geburt aus dynastischen Gründen in die dunkle Gruft der Geschichte versenkt zu haben. Im Fall Kaspar Hauser wurden gut erhaltene Blutspuren an der Unterhose vom "Forensic Science Service" sowie dem Institut für Rechtsmedizin/München zum Licht im Dunkel. Der "badische Prinz" jedenfalls löste sich mit der DNA-Analyse gleichsam in Luft auf. Es stellte sich heraus, dass die beiden Vergleichspersonen, Verwandte des Großherzogs Carl von Baden und seiner Frau Stephanie de Beauharnais, über die weibliche Linie nicht mit Kaspar Hauser verwandt sind. Kaspar Hausers Schicksal bleibt weiterhin ungeklärt, aber auch das muss längst nicht das letzte Wort in dieser Geschichte sein. Die "Zukunft der Vergangenheit" bleibt spannend.