Die Insel der Träume

Der "mobile Lifestyle" der UMTS-Zukunft wird auf der Isle of Man erprobt

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Auf dem kleinen Eiland Isle of Man in der Irischen See probt Siemens im Auftrag der British Telecom unsere UMTS-Zukunft. Jetzt scheint das Pilotprojekt reif für die Vermarktung, bevor die ersten UMTS-Handys geliefert wurden.

Rudolf Siegert telefoniert. Er geht vor dem idyllischen weißen Leuchtturm auf und ab, zu dem man uns Journalisten gebracht hat, um ein wenig Lokalkolorit zu schnuppern oder die hübsche Kulisse für ein paar schöne Fotos zu nutzen. So drücken die Fotografen zuerst ahnungslosen Inselbewohnern, die an diesem Mittwochnachmittag ein bisschen am Ufer herumspazieren, die Designstudien der späteren UMTS-Handys in die Hand und dann auf ihre Auslöser. Sie können nicht anders. Sie sind so gebrieft: UMTS-Handy vor Insel-Idylle. High-Tech trifft Ureinwohner.

Rudolf Siegert mit Design-Studie

Rudolf Siegert telefoniert noch oder schon wieder, als wir später am Gate des winzigen Flughafens der Insel Isle of Man aufs Einchecken warten, um zurück nach London zu fliegen. Er ist Kommunikator, oder besser Moderator. Er moderiert Kunden, Partner, Mitarbeiter, Presse. Und jeder hat unterschiedliche Interessen.

Rudolf Siegert ist Projektleiter des zur Zeit ehrgeizigsten UMTS-Pilotprojekts in Europa, das beweisen soll, dass der neue Standard nicht nur technisch funktioniert, sondern auch sinnvolle Anwendungen bieten kann. Er trägt die Gesamtverantwortung für ein Projekt, das wie kein anderes Glanz und Elend der vielbeschworenen "mobilen Zukunft" symbolisiert. Es geht um gigantische Investitionen, einen Riesenberg Schulden, Börsenhoffnungen und ­ mal wieder ­ um Anteile an einem Markt, der Zukunft heißt. Und da gibt es viel zu sagen: Der Presse, den Kunden, den Partnern.

Seit Februar 2000 baut Siemens im Auftrag der British Telecom an diesem Projekt. Der Konzern teilt sich die Verantwortung mit dem japanischen Hard- und Softwarehersteller NEC. Und das ist nicht ganz unproblematisch. Siemens ist verantwortlich für die Infrastruktur: UMTS braucht neue Sende- und Empfangsantennen, die kleiner sind als die jetzigen Antennen und an vorhandene Sendemasten angebaut werden müssen. Wo die Masten fehlen, werden neue errichtet. Rund 22 Masten von insgesamt 32 sind bereits ausgerüstet.

UMTS-Netze sind "breitbandig": Der Nutzer bekommt anstatt der im jetzt üblichen 9,6 bis 14,4 kilobit pro Sekunde eine Übertragungsrate von 144 kilobit bis 2 Mbit/Sek. ­ das ist das 10 bis 100fache. Es erlaubt die Übermittlung von großen Datenmengen wie bei bewegten Bildern, Musikstücken, Zeichnungen, Karten und etlichem mehr. Auf jeden Fall viele, viele Daten.

Möglich wird das, weil die Daten nicht am Stück, wie beim jetzigen GSM-Netz, sondern stückchenweise, als "Pakete", übertragen werden. Das funktioniert wie im Internet: Die Datei wird in unzählige Pakete zerlegt, die einzeln losgeschickt werden. Beim Empfänger werden sie wieder zusammengesetzt. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Reihenfolge die Pakete beim Nutzer eintreffen, denn das geschieht so schnell, dass das Empfangsgerät genügend Zeit hat, die Pakete wieder richtig zusammensetzen. Mehrere Benutzer können so gleichzeitig bedient werden.

Das alles kann der jetzige GPRS-Standard auch, aber längst nicht so schnell. Außerdem kann das Empfangsgerät in einer Genauigkeit von 50 Metern lokalisiert werden. Mit dem jetzigen GSM-Netz kann nur bestimmt werden, an welcher Sende- und Empfangsstation ­ im Fachjargon "Zelle" ­ das Handy angemeldet ist. Damit ist je nach Infrastruktur die Lokalisierung mehr oder weniger genau: Von 500 Metern in der Großstadt bis zu 5 oder gar 10 Kilometern irgendwo auf dem Land.

Soweit die Theorie. Der erste "Voice Call", also die Übertragung eines ganz normalen Telefongesprächs per UMTS, wurde auf Isle of Man am 15. Mai erfolgreich absolviert. Der erste "Video-Call" am 28.06., der "IP-Call", also eine paketbasierte Übertragung, am 10.07., Internet surfen und Tests mit bewegten Empfängern am 20.07. Einigermaßen zufrieden präsentiert Rudolf Siegert den Projektplan mit lauter kleinen Häkchen hinter den Terminen. Das Netz läuft, der Kunde hat die Arbeit abgenommen.

Es gab natürlich Probleme. Denn auch hier verhält sich Technik wie immer: auf dem Weg zum Ziel kommt einem kein großes Problem entgegen, sondern etwa eine Million kleiner. Beispielsweise, dass ein sich bewegender Empfänger nicht von Zelle zu Zelle übergeben wurde, das "Handover" nicht funktionierte. Doch das, meint Siegert frostig, sei mittlerweile gelöst. Allen Unkenrufen zum Trotz, schwingt stolz in der Antwort mit. Nur ein Problem ist noch nicht ganz gelöst: NEC ist seit Wochen mit der Lieferung der 200 UMTS-Handys ­ im Fachjargon "Terminals" genannt ­ überfällig, die an die Inselbevölkerung, nur an die Opinionleader und Multiplikatoren, vulgo: Honoratioren, verteilt werden sollen.

Auf dem Pier der Inselhauptstadt Douglas freut sich Wilhelm Bartholomu, 63, über sein Fachwissen. Vorsichtig grinsend wiegt er den UMTS-Design-Prototypen mit dem großen Bildschirm und dem kleinen Tastenfeld in der Hand und meint: "Ja, ja, das ist ein neuer G3-Handy". Vielleicht würde er sich auch so ein Teil kaufen. Hängt aber von den Diensten ab, die angeboten werden. Und mehr als 300 Mark darf es auch nicht kosten, meint er. Immer wieder stellt er die Frage, ab wann es das zu kaufen gibt.

Bartholomu ist Rentner und immer für ein halbes Jahr hier. Aus finanziellen Gründen, denn Isle of Man ist mit einem Spitzensatz von 18 % ein Steuerparadies. Rund 77.000 Menschen leben auf der Insel, davon sind 146 arbeitslos. Das ergibt einer Quote von 0,2 %. Isle of Man ist ein unabhängiger Staat mit eigenem Parlament, die Bewohner nennen sich Manx. Faktisch untersteht die Insel "direkt der Krone", ist Teil des Commonwealth. Die Manx Telecom ist eine hundertprozentige Tochter der British Telecom.

Topografisch ist die Insel mit ihren Bergen ein idealer Standort für ein Pilotprojekt, denn von den Hügeln herunter lässt sich leicht die Gegend bestreichen und damit leichter versorgen. "Außerdem strahlt man nicht in angrenzende Netze ein", meint Siegert. Das Festland ist an dichtester Stelle immer noch rund 60 Kilometer entfernt.

Schon einmal mußten die Manx als Versuchskaninchen herhalten. Damals wurde der schnelle Internet-Zugang A-DSL getestet. Mit Erfolg. Die Inselbewohner sind das also gewohnt. So kennt William Bartholomu auch die Masten, die Siemens hier überall aufstellt und findet das in Ordnung. Nur das örtliche Magazin der Handelskammer macht sich Sorgen. Fragt, ob das alles so klappen wird. Oder ob die kleine Insel in der Irischen See das Wettrennen um das erste G3-Netz gegen die Japaner verliert: Man wähnt sich ­ sportlich britisch ­ im Wettstreit mit der ganzen Welt. Schlagzeile: "David gegen Goliath".

Was der ältere Herr mit den tätowierten Unterarmen auf der Strandpromenade nicht weiß, ist, dass es demnächst Handys ­ sorry "Terminals" ­ für die Inselbewohner geben soll. Wenn es dann soweit ist, meint er, dann ist er sicher nicht unter denen, die eines bekommen. Aber kaufen würde er schon, wenn der Service taugt. Und er verschwindet kurz in seiner Wohnung, um den kleinen Design-Prototypen ganz stolz seiner Frau vorzuführen.

Im nicht weniger idyllischen Hamshire, das einem großen Garten gleicht und 60 Kilometer südwestlich von London liegt, soll Senior Consultant Engineer Mike Hook, 43, solche sinnvollen Anwendungen entwickeln. "Applications" nennen die Fachleute diese Dienste, die der reinen technischen Infrastruktur Geschäftsmodelle und Vermarktungsmöglichkeiten einhauchen soll. Dazu braust Mike Hook ab und zu mit einem weißen VW-Bully, der mit Rechnern, Empfängern und Messgeräten vollgestopft ist, die über einen wirren Kabelsalat miteinander verbunden sind, über die kleinen Landstraßen der Gegend.

Mike Hook im "Bully"

Als Sendestation dient eine Art Baucontainer, der ebenfalls eine Menge Gerätschaften beherbergt und auf dem Parkplatz des Siemens Forschungszentrums Roke Manor abgestellt ist. Eine Antenne im Dach des Bully empfängt die Signale. Begeistert führt der Siemens-Mitarbeiter auf einem Flachbildschirm etliche kleine Filmchen vor. Er startet per Mausclick einen nach dem anderen und die Streichholzschachtel großen Bildausschnitte setzen sich gleichmäßig in Bewegung. Das wird jetzt life vom Baucontainer in den Bully übertragen. Dann hantiert Mike mit einem Organizer, der gerade recht zügig den Ausschnitt eines Stadtplans empfängt.

Benutzer sollen sich in Zukunft von ihrem Standort aus zum Ziel lotsen lassen. Das Netz weiß, wo er sich befindet und verfügt über genügend Übertragungskapazitäten, um das Kartenmaterial auf den kleinen Organizer zu schicken. Auch dynamisch, das heißt die Datenbank des Senders ermittelt immer wieder neu den Standort des Empfängers, passt die Karte auf dem Display an und lotst von dort aus weiter. Doch der kleine Bildschirm zeigt nicht Hamshire, sondern die Münchner Hoffmanstraße. Vielleicht, weil dort eine Partnerfirma sitzt.

Nein, meint Mike, der "Bathroom-Finder", eine kleine Spielerei, die den kürzesten Weg zur nächsten Toilette (samt Beurteilung von Hygiene und Sitzkomfort) weist, ist keine Idee von ihm. Er grinst verschmitzt: Hätte aber sein können. Ob die Kunden dafür zahlen werden? Hook weiß es nicht. Er weiß nur, dass man jede Menge solcher "Locations Based Services" entwickeln muss ­ kleine kreative Multimediafirmen werden immer neue Anwendungen auf den Markt bringen. Das hat schon das Computerbetriebssystem MS-DOS groß gemacht. Und dabei wird man die Erfahrung sammeln, welche Dienste der Kunde haben möchte und welche nicht. "Viele werden wieder sterben und nur die besten überleben", meint der Brite und zuckt die Schultern. So ist das eben im Geschäftsleben.

Trotzdem wollen möglichst viele an diesem künftigen Geschäft - wenn es denn eines wird - teilhaben. Und zwar nicht nur die Telekos, die Netzbetreiber und der eine oder andere Service-Provider. Auch die Automobilindustrie hat seit kurzem erkannt, dass ihre Produkte nicht nur mit Beschleunigung und Kurvenverhalten zu tun haben, sondern auch mit einem mobilen Lifestyle. So startet DaimlerChrysler dieser Tage mit City Companion einen solchen "Location Based Service", der Geschäftsleute durch die deutschen Metropolen lotsen und mit Informationen über freie Hotelbetten, gute Restaurants, ihren Terminen versorgen soll. Erste Großstadt ist Berlin.

Wie das geht? Bereits mit den jetzigen GPRS-Netzen lassen sich Datenmengen (53 kbit/Sek.) übertragen, die solche Anwendungen ­ zwar noch ruckelig und zucklig ­ möglich machen. Vielleicht bräuchte man UMTS gar nicht - unken manche Experten. Denn in Japan arbeite der populäre mobile Dienst "iMode", der von NEC technisch ausgerüstet wurde, problemlos auf diesem Standard. Und überträgt zur Freude der japanischen Kids Bilder, kleine Animationen und allerlei Rätselspiele. Mit einigem Erfolg. Etabliert hat sich dieser Dienst durch die Hintertür, ohne große Versprechungen. Auf einmal war er da und wurde genutzt. Und die Kunden sind zufrieden.

Grund zur Unzufriedenheit gibt es dagegen auf der Insel: Die japanische Abordnung von NEC arbeitet in einem roten fensterlosen zweistöckigen Backsteinkasten, gleich neben der Kapelle im Küstenstädtchen Erin. Kein Schild macht kenntlich, dass drinnen an Zukunftstechnologie gewerkelt wird. Man könnte es für die Lagerhalle des kleinen Lebensmittelhändlers von gegenüber halten. Die Techniker arbeiten mittlerweile rund um die Uhr, haben einen Zweischichtbetrieb eingeführt. Es muss der "Switch", eine Verbindung unterschiedlicher Netze programmiert werden. Doch der ist nur eine Zwischenlösung, weil er später durch eine Siemens-Programmierung ersetzt wird. NEC ist unter Druck. Die Presse fragt immer bohrender, wann die 200 Handys ­ sorry, "Terminals" ­ auf der Insel ankommen. Jetzt ist der 24. September angepeilt. Mal sehen.

Der Kunde British Telecom ist nervös. Er will keine Journalisten auf der Insel haben. Wegen dem anstehenden Börsengang in schwierigen Zeiten möchten die Briten nicht noch mehr schlechte Presse. Denn davon haben Sie bereits genug. So kann uns Siemens nur am Bau vorbeifahren. Einen Blick ins Innere dürfen wir nicht werfen. Wir begutachten stattdessen den Lieferwagen der Manx-Telecom auf dem Parkplatz. Dann steigen wir wieder in unsere Autos.

Doch Siemens ist fein raus. Sie haben ihr Netz aufgestellt, bewiesen, dass es funktioniert und was man damit machen kann und zeigen es zufrieden herum. Siemens möchte für Netzbetreiber noch mehr UMTS-Infrastruktur aufbauen. Das Pilotprojekt auf der Insel ist ihr Referenzprodukt, mit dem sie neue Kunden gewinnen wollen. Zu hoffen bleibt bloß, dass den Netzbetreibern nicht das Geld ausgeht, nachdem sie etliche Milliarden für die UMTS-Lizenzen hinblättern mußten. Sie haben ohnehin keine Wahl. Denn ihre Ausgaben holen sie nur über ein funktionierendes Geschäft wieder rein.

Doch auch das ist nicht mehr sicher. Neue Studien und Prognosen zum UMTS-Geschäft sind längst nicht mehr euphorisch wie noch vor einigen Monaten. Grund: Wer braucht die Dienste wirklich? Außerdem: Zu viele Übertragungsarten machen die Sache zu kompliziert und zu schlecht vermarktbar. Die Pressemappe von Siemens enthält ein kleines Büchlein, das rund zwei Dutzend Abkürzungen von Übertragungsstandards ins Normalsprachliche übersetzt.

Und weil UMTS am Anfang nicht flächendeckend zu haben sein wird, kann das Geschäft nur klappen, wenn die Hardware-Hersteller preiswerte Geräte auf den Markt bringen, die alle Standards unterstützen. Denn drei Übertragungsarten (GSM, GPRS und UMTS) werden uns Daten liefern: Telefongespräche auf dem flachen Land per GSM, mobile Dienste, Routenplaner, Aktienkurse per GPRS in Klein- und Mittelstädten sowie kleine Filme, Unterhaltungsprogramme per UMTS in den Metropolen.

Dafür braucht man Moderatoren. Denn die größten Probleme mit moderner Technik warten an den Schnittstellen ­ vor allem an den menschlichen.