Kurzschlussfolgerungen

Die Positionen der Gegner und Befürworter einer militärischen Antwort sind gar nicht so gegensätzlich

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Noch hat der Präsident keine konkreten Militärangriffe angedroht. Aber mehr als 100 US-Kampfflugzeuge wurden in die Golfregion verlegt. In Deutschland wird die Kritik an einer militärischen Antwort wachsen. Aber: Wer legitime Interessen hinter den Terroranschlägen in den USA vermutet, darf eine militärische Reaktion nicht ausschließen.

"Our response involves far more than instant retaliation and isolated strikes. Americans should not expect one battle, but a lengthy campaign, unlike any other we have ever seen. It may include dramatic strikes, visible on TV, and covert operations, secret even in success. We will starve terrorists of funding, turn them one against another, drive them from place to place, until there is no refuge or no rest. And we will pursue nations that provide aid or safe haven to terrorism. Every nation, in every region, now has a decision to make. Either you are with us, or you are with the terrorists. (Applause.) From this day forward, any nation that continues to harbor or support terrorism will be regarded by the United States as a hostile regime. "

Ist möglicherweise das Kyoto-Protokoll ein Grund für den Anschlang auf das World Trade Center? Der ägyptische Autor Ahdaf Soueif fragt sich, warum Amerika Feinde hat und zählt gleich einige Gründe auf: die Haltung zum Internationalen Strafgerichtshof und zum Kyoto-Protokoll, Mitschuld an Hunger und Leid der irakischen Bevölkerung. Susan Sonntag interpretiert den Massenmord als "Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten". Unabhängig davon, was von diesen "Gründen" zu halten ist, wird hier eine sehr wichtige Frage gestellt: Welche Interessenkonflikte bestimmen heute das System der internationalen Politik? Und vor allem: Welche Konflikte werden nicht friedlich bearbeitet?

Schade ist, dass auf der einen Seite diese Frage - oft mit dem üblichen Antiamerikanismus und Antisemitismus der deutschen Linken und Rechten vermischt - einfach mit der Ablehnung jeder militärischen Reaktionen beantwortet wird. Das Nein kommt hier vor dem Nachdenken. Ebenso schade ist, dass auf der anderen Seite das Ja zu einem Gegenschlag ebenso schnell gegeben wird. Zum Beispiel überrascht bei der in einigen Punkten so treffenden Analyse der Bahamas die Kurzschlussfolgerung: "US-Militärschläge gegen islamische Zentren hätte jeder bis auf weiteres zu begrüßen, der die Emanzipation von der Warenform, von Markt und Staatlichkeit nach wie vor als Bedingung menschlicher Selbsttätigkeit begreift."

Beide Lager irren. Die Gegner, weil hinter diesem Anschlag kein Interesse stand außer dem Tod möglichst vieler Menschen. Es gibt keine noch so wirren Forderungen, selbst Staaten wie der Irak, die den Anschlag als Mittel der Interessenverfolgung legitimiert sehen wollen, formulieren keine Interessen. Die Befürworter eines Militäreinsatzen hingegen ignorieren oder umgehen ein grundlegendes Problem der internationalen Politik seit 1990: Das Ende des Ost-West-Gegensatzes hat alte Konflikte aufbrechen lassen und völlig neue geschaffen, zu deren friedlicher Bearbeitung keine Institutionen existieren. Noch immer werden Interessen und Konflikte entlang von Staatsgrenzen begriffen, daher auch die derzeitige Konzentration auf Afghanistan. In den vergangenen zehn Jahren ist aber deutlich geworden, dass Konflikte kaum noch diesem Muster folgen. Selbst beim angeblichen Nord-Süd-Konflikt fällt auf, dass alle Süd-Staaten im Wettbewerb um Investitionen und Aufmerksamkeit untereinander und mit den Staaten Südostasiens und Osteuropas stehen.

Viel bedeutender aber ist die Tatsache, dass Staaten keinesfalls alle - und oft nicht einmal die meisten - Interessen ihrer Bürger vertreten. Sind nicht die NGOs, welche sich für die Menschenrechte in Nigeria einsetzen, ebenso legitime Interessenvertreter wie die nigerianische Regierung, die vor allem wirtschaftliche Partikularinteressen vertritt? Sind nicht einige Globalisierungskritiker - zum Beispiel durch ihre Position in Gewerkschaften - legitimierte Vertreter von internationalen Interessen, die nicht genügend von den nationalen Regierungen vertreten werden? Und könnte ähnliches nicht gar für religiöse Organisationen wie die Taliban gelten?

Keine der internationalen Organisationen hat bis jetzt eine Antwort auf diese Fragen gefunden. Grundlage der UNO, die ja unterschiedliche internationale Konflikte friedlich bearbeiten soll, ist die Staatssouveränität. Kein Staat ist einem fremden Willen außer dem Völkerrecht unterworfen. Die Folge ist, dass aufgrund von Menschenrechtsverletzungen im Prinzip keine Interventionen möglich sind. Mit anderen Worten: Auch wenn ein Staat nur einen Bruchteil der Interessen seiner Bevölkerung vertritt und die große Mehrheit missachtet, ist er souverän. Es gibt nur einen Grund, der eine Verletzung dieser Souveränität rechtfertigt: die Gefährdung des Weltfriedens. Mit einer solche hat die UNO die Militäreinsätze gegen die Kurdenverfolgung im Irak, das Eingreifen in den somalischen Bürgerkrieg oder die Intervention Frankreichs und Senegals in Ruanda gegen den Völkermord an den Tutsi legitimiert. Nicht die Menschenrechtsverletzungen an sich, sondern eine Gefährdung des Weltfriedens durch diese, rechtfertigt das militärische Eingreifen.

Das wesentliche Problem, das zur Zeit leider in der Diskussion um Für und Wider einer militärischen Reaktion auf den Massenmord in New York und Washington vergessen wird, ist dieses: Es fehlen allgemeinverbindliche Normen zur Bearbeitung von internationalen Konflikten. Schlimmer noch: Es fehlen Strukturen zur Einbindung nicht-staatlicher Konfliktparteien.

Und die Schlussfolgerungen daraus? Wenn Usama Ibn Ladins Beteiligung an dem Anschlag bewiesen wird und die Taliban weiterhin die Auslieferung verweigern, ist eine vom UN-Sicherheitsrat legitimierte Intervention sehr wahrscheinlich. Aber eine Antwort auf das grundsätzliche Problem der Interessenvertretung und Konfliktbearbeitung ist das nicht. Wie könnte eine solche aussehen? Die Positionen der Gegner und Befürworter einer militärischen Antwort sind da gar nicht so gegensätzlich, wie sie zu Zeit scheinen. Sie ergänzen sich vielmehr. Die Gegner argumentieren mit bestehenden und weitgehend ignorierten Interessen in der arabischen Welt, die ein Grund für den Anschlag beziehungsweise für ein Umfeld, in dem ein solcher möglich ist, sein könnten. Wer aber mit Interessen und ungelösten Konflikten argumentiert, muss auch an einer Struktur zu deren Bearbeitung interessiert sein.

Und wer diesen Bedarf nach neuen Institutionen und Normen sieht, kann eine militärische Reaktion auf den Anschlag nicht per se ausschließen, sondern muss sie unter Umständen als notwendig erachten. Denn ein nicht verhandelbarer Bestandteil aller Normen zur Konfliktregulierung muss die Gewaltfreiheit - mit Ausnahme jener zur Selbstverteidigung - sein. Ganz gleich, ob legitime Interessen von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren verfolgt werden oder nicht: Wer diese Norm missachtet, muss mit Gewaltanwendung rechnen. Ansonsten würden die Grundlagen jeder Konfliktregulierung in Frage gestellt werden.