Reflexartig zuschnappen

Was man aus der MP3-Debatte lernen könnte

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Musik, die über das Internet im MP3-Format verteilt wird, ist in aller Munde. Die Musikindustrie will den aus ihrer Sicht ökonomisch äußerst schädlichen Wildwuchs von Tauschbörsen domestizieren und in geregelte, sprich bezahlte, Kanäle umlenken. Viele Benutzer wollen das gar nicht verstehen und tauschen weiter, was die Bandbreite hergibt. Wird einer der Kontrahenten nach der jeweils anderen Seite gefragt, so ist das verbale Verhalten sehr gut mit "reflexartig zuschnappen" zu beschreiben: "Musikindustrie" in den Ohren vieler MP3-Nutzer scheint für diese ein ähnlicher Reiz zu sein wie ein saftiges Gnu für ein hungriges Krokodil; umgekehrt gilt wohl dasselbe.

Fest ineinander verbissen stehen sich die beiden Lager gegenüber und pochen auf ihre Rechte; Maß und Ziel sind - betrachtet man die Auseinandersetzung etwas distanzierter - auf beiden Seiten weitgehend verloren gegangen. Beide Seiten pochen auf ihre vermeintlichen Rechte, beide weichen davon kein Jota ab. Tatsächlich ist der Streit um das Wie des Musikvertriebs ein Grundsatzstreit und gleich, wie er ausgehen wird, ist schon jetzt sicher, dass die Welt des Contentvertriebs - und wahrscheinlich nicht nur diese - danach völlig anders aussehen wird. Denn es geht nicht nur um Musik, es geht um Content, um den Rohstoff des Informations- und Wissenszeitalters, um die Handelsware des 21. Jahrhunderts. Es geht um viel Geld, aber es geht auch um mehr: Es steht zur Debatte, wie wir alle in Zukunft mit den immateriellen Gütern Wissen und Information umgehen.

Die Kontrahenten

Erweitert man die Perspektive in dieser Weise, wird man auch bemerken, dass sich nicht nur Vertriebsunternehmen und Nutzer gegenüberstehen. Diese Auseinandersetzung ist weitaus vielschichtiger und die Zahl der Kontrahenten größer. Mindestens beteiligt sind:

a) die eigentlichen Produzenten von Content, also Musiker, Schriftsteller, Softwareautoren, Maler, Zeichner, Journalisten, Wissenschaftler, aber auch Privatleute, etc.;
b) die Contentindustrie, d. h. Buch-, Zeitungs-, Zeitschriften-, Musikverlage, u. ä.;
c) der Vertrieb, z. B.. Buch- und Plattengroß- und -einzelhandel, zusammen vielleicht als Contentprovider zu bezeichnen;
d) die Infrastruktur, z. B. mit Bibliotheken oder Internet Service Providern, kurz als Access Provider zu bezeichnen;
e) die Endnutzer, wir alle also, aber eben auch alle, die gerade genannt wurden, denn Nutzung findet hier in allen Bereichen statt.

Die genannten Nutzungsbereiche sind mit je unterschiedlichen Interessen verbunden; dies allein macht die Situation schon recht unübersichtlich. Da aber die Protagonisten im Streit um Content mal die eine und mal die andere Position einnehmen, haben sie alle auch sich widerstreitende Interessen. Als Wissenschaftler gehört man beispielsweise sowohl zu den Produzenten als auch zu den Endnutzern von Information.

Eine Studie zur MP3-Nutzung

Betrachtet man die Diskussion, so haben Vermutungen Konjunktur und einigermaßen gesicherte Fakten sind Mangelware. Auch deshalb führten die Autoren vom 15.06. bis zum 31.07.2001 eine Online-Umfrage zum Thema MP3-Nutzung im Internet durch. Dabei wurden der Bekanntheitsgrad von Tauschbörsen und anderen Musikangeboten im Netz erfragt, außerdem die Nutzungshäufigkeiten und Einstellungen zu solchen Angeboten. Es sollte untersucht werden, inwiefern die Teilnahme an Tauschbörsen und WWW-Seiten mit dem Verhalten von Personen des Freundschaftsnetzwerks zusammenhängt. Auch sollte das Rechtsempfinden bezüglich derartiger Tauschvorgänge sowie das Vorhandensein bestimmter sozialer Normen - hier vor allem die Reziprozitätsnorm - sowie moralischer Vorstellungen und ihre Verhaltenswirksamkeit erfasst werden. Weiter sollten die Voraussetzungen für den Tausch und die Beteiligung an Tauschbörsen erhoben werden, also die technische Ausstattung und technischen Kenntnisse, d. h. die Fähigkeiten im Umgang mit MP3-Songs. Ein weiterer Faktor ist die Verfügbarkeit eines kostenfreien Internetzugangs, der eventuell die Teilnahmebereitschaft an Tauschbörsen erhöhen kann, da die Kosten nicht individuell anfallen, sondern zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Zum Vergleich mit herkömmlichen Nutzungsgewohnheiten wurde der Kauf oder Tausch von Musik-CDs herangezogen.1

Wir fragten auch, welche Einstellungen die Nutzer und Konsumenten von Musik-CDs und MP3-codierter Musik haben. 4340 Fragebögen wurden erhoben; allerdings kamen davon etwa 300 durch Fehleingaben zustande und konnten deshalb nicht ausgewertet werden. Außerdem sind bei den folgenden Zahlen jene Fragebögen, in denen zur spezifischen Frage keine Antworten gegeben wurden, nicht berücksichtigt. Zuletzt ist zu bemerken, dass im Folgenden immer von "typischen Nutzern" die Rede ist. Dies sind jene Nutzer, die bis zu 200 MP3-Musikstücke in drei Monaten aus dem Internet laden; dies entspricht dem Verhalten etwa 90% der Befragten.

Betrachtet man, wie die Nutzer von MP3-Tauschbörsen zu diesen selbst stehen, sind die Antworten hierbei mehr als eindeutig; die überwältigende Mehrheit der Befragten kann sich nicht der Ansicht der Musikindustrie anschließen, dass Tauschbörsen illegal seien, Urheberrechte verletzten oder den Musikmarkt zerstörten.

Wichtig ist, dass hier nach Einstellungen gefragt wurde, nicht nach Fakten. Denn aus juristischer Sicht ist das Herunterladen von Musik aus Tauschbörsen legal; rechtlich bedenklich ist vor allem die Bereitstellung von Musikstücken.2

Die Ergebnisse der Frage nach dem Entgegenstellen gegen das Profitstreben der Musikindustrie kann möglicherweise so gedeutet werden, dass sich auch hier ein Unbehagen gegen die Globalisierungstendenzen des Musikmarkts äußert. Auf jeden Fall ist es bemerkenswert, dass doch immerhin über 50% der Befragten eine Art "Robin-Hood"-Mentalität zeigen.

Vorsichtige Verallgemeinerung

Ohne Zweifel ist es nicht ganz ohne Risiko, die Ergebnisse der Umfrage, die ja mit einem ganz bestimmten Untersuchungsgegenstand verbunden ist, auf beliebigen Content zu verallgemeinern. In diesem Sinne ist das Folgende auch spekulativ. Doch hinsichtlich der Konsequenzen scheint die Reise tatsächlich in die gleich angedeutete Richtung zu gehen.

Wer weiß, wo er suchen muss, findet im Netz wohl beinahe alles: aktuelle Kinofilme, Musik sowieso; Inhalte, die bereits digital vorliegen, sind vergleichsweise leicht so zu bearbeiten, dass Kopierschutzmechanismen nicht greifen und sie so allgemein nutzbar sind. Es ist zu erwarten, dass dies bei elektronischen Büchern nicht anders sein wird, sofern diese einmal wirklich massenhaft auf dem Markt verfügbar sein sollten. Kurz: digitale Information ist ein Gut, dass vergleichsweise leicht zugänglich gemacht werden kann. Das Hergeben kostet den Geber praktisch nichts, denn er verliert dabei selbst nicht die Information, nicht einmal temporär. Das unterscheidet Software, Musik und andere digitale Inhalte von Brötchen, PKW bzw. allgemeiner von materiellen Gütern.

All dem versucht die Contentindustrie massiv entgegenzuwirken. Angefangen hat es mit Kopierschutzverfahren für Video-Kassetten und dem Kopierschutz für DAT-Recorder, weiter ging es mit Region-Codes für DVDs, zur Zeit sind Kopierschutzverfahren für Audio-CDs in der Entwicklung oder schon im Einsatz, die Filmindustrie bastelt an entsprechenden Verfahren, ebenso die Buchverlage und Anbieter von eBooks, Softwareunternehmen wie Microsoft führen die Zwangsregistrierung ein, die Musikindustrie geht gegen Tauschbörsen vor; andere Beispiele lassen sich bestimmt noch in großer Zahl finden. Etwas anders gelagert, aber mit ähnlichen Konsequenzen, sind die Versuche großer Verlage wissenschaftlicher Fachzeitschriften, Geschäftsmodelle durchzusetzen, die einem Pay-per-view gleichkommen und die Forschungslandschaft völlig umkrempeln werden, falls sie erfolgreich sind (The Internet backlash). Robert Leicht schreibt dazu in der ZEIT vom 23. August 2001 eine Analyse3, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt:

"Keine Panik, aber ein Paradox: Ausgerechnet das urliberale Prinzip der Leistungs- und Forderungsgerechtigkeit (...), die Privatisierung der Kosten, das antikollektivistische Veto gegen verworrene Mischfinanzierungen und undurchschaubare Quersubventionen, das individualistische Axiom der persönlichen Zurechnung - all das funktioniert unter den Bedingen modernster Technik und in systemischer Perfektion am besten auf der Grundlage einer bis ins Detail präzisierten Totalerfassung und Abrechnung jeder persönlichen Aktivität, also aufgrund der schlimmsten Anti-Utopie der Liberalität und zulasten der Privatsphäre.

In der Tat, der sicherste Schutz gegen Missbrauch von Content aus der Sicht der Rechtehalter ist, genau zu wissen, wer jenen Content gerade nutzt. Nebenbei erfährt man zusätzlich, was die jeweiligen Personen konsumieren und kann sie auf diese Weise gezielt bewerben. Man kann außerdem Konsumprofile, bzw. allgemeiner, Benutzerprofile entwickeln und auf diese Weise geht, wie Robert Leicht bemerkt, unsere Privatsphäre als Grundlage liberaler Rechtsstaaten verloren. Es kollidieren ganz einfach verschiedene Rechte - Rechte an Inhalten, also Eigentums- und Urheberrechte auf der einen, und Datenschutzrechte bzw. Privacy-Rechte auf der anderen Seite. Doch man entkommt dem Dilemma nicht einfach dadurch, dass man wie wild kopiert oder die Grundlagen dafür in Form von Tauschbörsen oder "Knack"-Programmen schafft. Man entkommt ihm jedoch auch nicht dadurch, dass man Benutzer dämonisiert und vorhandene Rechte einfach einzuschränken versucht - die private Kopie einer Musik-CD ist nun einmal erlaubt.

Es ist gleichfalls zu einfach, auf große Konzerne oder gut verdienende Künstler zu schimpfen, wie dies in Emails an uns während unserer Umfrage oder in den Postings im Heise-Newsticker oder in Telepolis zuweilen passierte. Nur weil Bill Gates einer der reichsten Menschen der Welt ist und Britney Spears unglaublich viele Platten verkauft und sicherlich nicht am Hungertuch nagt - zumindest nicht wegen schlechter Umsätze -, darf man weder juristisch noch moralisch mit ihren Produkten einfach tun, was man gerade will. Dies wäre bloße Willkür, nichts weiter.

Aber Vorsicht, liebe Contentindustrie: einfach alles zu vereinnahmen und den Nutzen ausschließlich in private Hände zu überführen ist ebenfalls nicht legitim. Was beispielsweise Bertelsmann mit Napster versucht, ist aus einem Grund ein Skandal, der in der Debatte leider kaum auftaucht. Denn Bertelsmann will Gewinne erwirtschaften mit der Nutzung öffentlicher Infrastruktur - ohne dafür zu bezahlen oder eine andere Gegenleistung zu erbringen. Napster, für andere Tauschbörsen gilt wahrscheinlich Ähnliches, wäre nie so erfolgreich geworden ohne all die Rechner an Universitäten, die einen Gutteil des Inventars dieser Tauschbörse ausmachen - Rechenzentrumsleiter sprechen unter der Hand davon, dass 60-70% ihres Datenvolumens und ihrer Bandbreite für solche Zwecke verwendet werden.4

Das Internet und das WWW wären ohne all die Inhalte, die von Menschen geliefert werden, die keinen Pfennig daran verdienen, wesentlich uninteressanter, vor allem zu Beginn der allgemeinen Verbreitung des Netzes. Wissenschaftliche Fachzeitschriften, überhaupt das wissenschaftliche Publikationswesen, könnten ohne die öffentlich geförderte Forschung gar nicht existieren. Dies alles einfach zu vereinnahmen, ist nicht nur willkürlich; es ist gerade aus neoliberaler Sicht, auf die sich viele Vertreter der Industrie oft genug berufen, ganz einfach Diebstahl. Denn für Leistungen muss aus dieser Perspektive immer eine Gegenleistung erbracht werden - alles andere ist moralisch illegitim.

Was man aus der MP3-Debatte lernen könnte

Vor allem könnten alle Beteiligten lernen, dass die Welt nirgendwo schwarz-weiß zu beschreiben ist. Es gibt nicht nur gute und böse Konsumenten: die einen, die brav alles kaufen und alles mitmachen, was die Contentindustrie vorgibt - die anderen, die knacken und kopieren, was das technische Equipment hergibt.

All jene, die auf ihr vermeintliches Recht pochen, nach Gutdünken mit Informationen gleich welcher Art umzugehen, sollten begreifen, dass auch Informationen Güter sind, die Eigentümer haben. Deren Rechte sind zu schützen; vor dem Raubkopieren genauso wie vor der totalen Vereinnahmung durch die Contentindustrie. Beides ist Diebstahl, juristisch mag man das vielleicht anders formulieren und differenzieren, moralisch kann hier kein Zweifel herrschen. Auf beiden Seiten sollte man nicht überreagieren . So muss etwa die Frage erlaubt sein, wo die Computerindustrie im Allgemeinen und z. B. Microsoft und Intel im Speziellen heute wären, wenn Software wie MS-DOS und Microsoft Windows nicht so "frei" zirkuliert wären. Umgekehrt ist festzustellen: sobald die Balance zwischen Kauf und Kopie zu stark zulasten des Kaufs verändert wird, lohnt sich eine Produktion nicht mehr. Das gilt für Filme, Musik, Software, Literatur, wissenschaftliche Erkenntnis.

Vielleicht ist die Auseinandersetzung mit den Folgen der Globalisierung ein gutes Beispiel, wie man mit Problemen der hier beschriebenen Art umgehen sollte. Globalisierungsgegner und -skeptiker gewinnen dort positive Aufmerksamkeit, wo mit Sachargumenten und mit guten Gründen auf Missstände und Auswüchse der Globalisierungsprozesse hingewiesen wird. Die bloße Durchsetzung von Partikularinteressen führt immer zu massiver Ablehnung. Wie mit Information und Wissen in Zukunft umgegangen werden soll, muss begründet werden - von allen Seiten.