Information und Spektakel

Peer-to-Peer zwischen Abscheulichkeit und Aufklärung

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Während das deutsche Fernsehen Filesharingprogramme als "Snuff-Börsen" bekämpft, nutzt Morpheus den Tausch von Gewaltbildern als Argument gegen die Vorwürfe der Medienindustrie.

Auf der Morpeus-Loginseite heißt es - wohl auch im Hinblick auf den Abwehrkampf gegen die Klagen von MPAA und RIAA (Vgl. Morpheus im Fadenkreuz):

Ist Ihnen bewusst, dass die meisten Bildnachrichten in der Welt gefiltert und nur über einige wenige Quellen verbreitet werden? Viele wichtige Nachrichten in Form von Bildern, Tönen oder Videos dürfen das Fernsehen oder die Printmedien nie erreichen. Mit Morpheus können Sie die ECHTEN Nachrichten schaffen und verbreiten, so wie Sie sie in der Welt sehen.

Im Spätsommer hatte das deutsche Fernsehen plötzlich zur Hatz auf Filesharingprogramme geblasen (Vgl. Das Klischee vom bösen Mausklick). Im ARD Ratgeber Technik hieß es am 19. August 2001 unter dem reißerischen Titel Mord im Internet - wie kann man sich vor anonymen Gewalttätern schützen?:

Wenn es so etwas gibt, wie grenzenlose Freiheit, dann in den heutzutage endlosen Weiten des Internet. Und die Freiheit geht inzwischen in dramatischer Weise zu weit. Im Internet werden jetzt Filme von grausamsten echten Morden und sadistischen Quälereien angeboten [...]. Hilfreich beim Datenklau und beim Datentausch von PC zu PC sind die elektronischen Tauschbörsen.

Der ARD-Ratgeber warnte vor "dramatischen seelischen Schocks" durch Peer-to-Peer-Kommunikation, weil man in solche nicht mit herkömmlichen Filterprogrammen eindringen könne. Auch das NDR-Magazin Panorama behauptete am 30. August 2001 unter dem Beitragstitel Gequält und getötet - Mordvideos im Internet:

Menschen werden vor laufender Kamera gequält, gefoltert und getötet. Im Internet sind diese Filme begehrte Sammlerstücke. So genannte 'Snuff-Videos' werden offen auf Tauschbörsen gehandelt. Die Urheber der perversen Mordsequenzen sind schwer dingfest zu machen.

Als Beleg für diese Behauptung zeigte Panorama vier Videos. In einem davon wird einem russischem Soldaten die Kehle durchschnitten, im nächsten werden einem ebenfalls russischem Soldaten die Finger abgeschossen. Die beiden anderen Beispiele zeigen eine Enthauptung und eine "afrikanische Frau" die verbrannt wird. Mit keinem Wort aber werden die Entstehungsgeschichten der Videos erwähnt. Sie werden lediglich als "illegal" bezeichnet, als Herkunftsland wird "möglicherweise Osteuropa" genannt. Der Zuschauer erhält so den Eindruck als ob die Videos für die Filesharingsysteme eigens angefertigt worden seien.

Doch woher stammen die gezeigten Videos wirklich? Das erste Beispiel zeigt die "Hinrichtung" eines gefangenen russischen Soldaten durch tschetschenische "Freiheitskämpfer." Ende September 1999 brachte das russische Fernsehen Videomaterial, das absichtlich von tschetschenischen "Rebellen" hergestellt worden war: Ein schwarzbärtiger Tschetschene kniet auf dem Rücken eines russischen Soldaten (erkennbar am gestreiften Unterhemd). Der "Rebell" nimmt ein großes Messer, lächelt in die Kamera und sägt sich langsam durch Kehle und Hals des Soldaten, bis er schließlich den Kopf vom Körper abgetrennt hat. Dann hält er - wiederum lächelnd - den abgetrennten Kopf in die Kamera (Vgl. Russia on the Edge). Obwohl das von Panorama gezeigte Video nicht die ganze Tat zeigt, ist die Herkunft der Bilder erkennbar.

Schwieriger wird es beim Beispiel mit den abgeschossenen Fingern, das sich in Filesharingprogrammen nicht finden ließ. Vom tschetschenischen Kriegsverbrecher Salautdin Temirbulatov existieren jedoch Videoaufnahmen über die Folterung von russischen Wehrdienstleistenden im Ort Komsomolskoye am 12. April 1996. Temirbulatov erschoss eigenhändig zwei Wehrdienstleistende.

Die von Panorama gezeigte Enthauptung könnte von Abu-Sayaf-Rebellen auf den Philippinen durchgeführt worden sein, die solch eine Tat filmten und verbreiteten, oder von Dayak, die im Frühjahr 2001 mit den aufgespießten Köpfen von Maduresen durch die Strassen Borneos zogen. Allerdings war auch dieses Beispiel nicht in Filesharingprogrammen auffind- und damit nachprüfbar. Im Fall der laut Panorama in Afrika verbrannte Frau (die auch ein Mann sein könnte), deuten Kleidung und Haare der umstehenden Menschen eher auf Südamerika hin (wo unter anderem brasilianische Goldsucher, Landbesitzer und kolumbianische Todesschwadronen entsprechend rabiate Methoden zur Beseitigung der Gegner anwenden).

Auch alle anderen unter dem Suchwort "Snuff" mit Morpheus und KaZaA zu findenden Filme sind entweder leicht erkennbare Splatter-Amateurwerke ohne realen Gewaltanwendungshintergrund oder Zeugnisse von Krieg, Terror und Schreckensjustiz - etwa die zahlreichen Filme von Amputationen in Gebieten, in denen islamisches Strafrecht herrscht. Wer das als "Snuff" bezeichnet, müsste konsequenterweise auch die Bilder brennender Kinder aus dem Vietnamkrieg und verhungerter Holocaust-Opfer als Snuff bezeichnen. Tatsächlich jedoch fördern solche Bilder nicht automatisch Gewalt, sondern können im Gegenteil zur Bildung von Reaktionen gegen diese Gewalt entscheidend beitragen. So hält sich etwa das Fernsehen selbst gern zugute, dass die berühmt gewordenen Bilder des brennenden kleinen Mädchens und des Südvietnamesen, der einen Gefangenen standrechtlich exekutiert, wesentlich zum Meinungsumschwung gegen den Vietnamkrieg in der amerikanischen Bevölkerung beitrugen.

Wer die Bilder der gefolterten und getöteten russischen Soldaten sah, bekam einen im deutschen Fernsehprogramm durchaus unterschlagenen Zug der Kriege in Tschetschenien zu Gesicht. Gewalttäter wurden, so sie nur in möglichst fremden Ländern und gegen traditionelle Gegner wie Russen, Chinesen oder Serben losschlugen, im deutschen Fernsehen gerne als pittoreske "Rebellen" verharmlost - das reicht von den afghanischen Mudschaheddin über die Khmer Rouge bis hin zur UÇK (vgl. Human Rights News und Infowar um Mazedonien).

Auch jetzt zeigt das Fernsehen kaum Bilder von den verschwiegenen Kriegen, die etwa Afrika von Sierra Leone bis Angola durchziehen, während mit die besten Informationen zu den oben erwähnten Krisenherden ausgerechnet von der durchaus sensationell aufgemachten und in teilweise ironischem Tonfall gehaltenem Webseite DangerFinder kommen.

Der Verdacht drängt sich auf, dass die Fernsehanstalten die Konkurrenz von Systemen fürchten, die im Gegensatz zu ihnen Einblick in die Gräuel tschetschenischer, albanischer oder anderer Terroristen bieten. Darauf lässt auch der eifersüchtige Verweis des NDR-Magazins Panorama auf die Werbekunden von KaZaA schließen:

Obwohl die Filme nach Einschätzung des bayerischen Landeskriminalamtes gewaltverherrlichend und jugendgefährdend sind, lehnen die Betreiber der Internet-Tauschbörsen jegliche Verantwortung für das perverse Hobby ihrer Kunden ab. Im Gegenteil: Auch auf solchen Seiten wird mit Werbung Geld verdient. Zu den Kunden gehören Computerfirmen, Telefongesellschaften und Lebensversicherungen.

Tatsächlich werden diese Bilder in Filesharingprogrammen wie auf Webseiten gerne im Gewand der Sensation und des Spektakels präsentiert. Die Verbindung von Gewalt und Spektakel reicht weit zurück: In Amerika waren noch im 20. Jahrhundert Lynchings ein beliebtes Motiv für Postkarten, die von den beteiligten Zuschauern und Tätern gekauft und gesammelt wurden. Heute dienen diese Postkarten, auf Webseiten und in Büchern veröffentlicht, der Aufklärung über dieses dunkle Kapitel amerikanischer Geschichte - ohne dass sie ihren Sensationscharakter dabei eingebüßt hätten. Kriegsaufnahmen wurden für Filesharingsysteme von Benutzern tatsächlich mit dem Etikett "Snuff" versehen, und Ogrish, Spezialist für Gewaltvideos, präsentierte nach dem Anschlag auf das World Trade Center Bilder von aus dem Gebäude springenden Menschen mit Bemerkungen wie "Features last jumper of 'Jumpers Clip' but in better quality and different backgroundsound" (Vgl. It's Raining Men).

Ob nun solch eine Präsentation die Opfer der Terroranschläge "verhöhnt" und ob beim Zeigen der gleichen Bilder in diversen Nachrichtensendungen tatsächlich der "nachrichtliche" Zusammenhang gegenüber dem Spektakel überwog, ist eine Frage, die gegenüber der Vermittlung der Ereignisse nachrangig ist. Zwar befriedigen solche Aufnahmen die Lust an der Sensation und am Verbotenen, gleichzeitig aber bieten sie auch Information jenseits der Filter der traditionellen Staatsmedien.

Die Wirkungsweisen liegen dabei nicht nur in der Hand der Anbieter, sondern auch in jener des Konsumenten. Dieser hat, wie die Cultural Studies feststellten, zumindest bedingte Möglichkeiten zur nicht von den Medienanbietern geplanten und damit "subversiven" Verwendung von Medienangeboten (vgl. Das falsche Versprechen der New Economy). Diese Selbstermächtigung des Konsumenten wurde jedoch in den letzten Jahren durch exzessiv eingesetzte Copyrightansprüche z.B. gegen Fanprojekte zunehmend ausgehebelt (vgl. Hase und Igel).

Genau hier setzt ein befreiender Effekt von Peer-to-Peer-Informationsverbreitung gegenüber zentralen Medien ein. Während für zentrale Medien leicht das Urheberrecht als Mittel zu Zensur unliebsamer Informationen wie auch zur Vermeidung ungewünschter Verwendung dieser Informationen eingesetzt werden kann, ist solch ein Vorgehen bei Filesharingprogrammen zumindest bisher weitaus schwieriger durchführbar. Wer etwa das Kulturrevolutionslied "Der Osten ist rot" (Dongfang hong) in Dokumentationen verwenden will, muss mit einer Zivilklage aus der Volksrepublik rechnen - auch weil China Mitglied internationaler Urheberrechtsabkommen ist. Obwohl das Lied ein öffentliches Symbol ist, dessen Symbolcharakter nur bedingt mit der schöpferischen Leistung des Urhebers zu tun hat, kann hier das Urheberrecht dazu missbraucht werden, einer heute als nicht-ganz-so-glanzvoll wahrgenommenen Epoche der Geschichte den kritischen Blick zu ersparen (vgl. FITUG)

Doch die Wirkung der Filsharingprogramme hört bei der Umgehung staatlicher und korporativer Zensur nicht auf: Als die Band "Landser" vor einigen Wochen als "kriminelle Vereinigung" eingestuft und ihre Mitglieder verhaftet wurden, hieß es im Taz-Forum zur Meldung:

eine Rockband [die] über pro Judenvergasung, Negerklatschen (sorry für den Ausdruck) singt und damit zum Rassenhass aufruft, sollte doch verboten werden! [...] Landser sind keine gewöhnlichen Nationalisten! Erst einmal reinhören und dann urteilen!!!

Wie aber soll man reinhören, wenn "Landser" aufgrund von Sondergesetzen in der Bundesrepublik Deutschland verboten ist? Auch hier greift die Anti-Zensur-Wirkung von Filesharingprogrammen - und führt offenbar zur paradoxen Situation, dass Taz-Lesern (also Konsumenten), die Landser nur aus den traditionellen Medien kennen, das Verbot einer Musikgruppe als "kriminelle Vereinigung" als Exzess empfinden, während Beitragenden, die sich (offenbar illegal) deren Musik über Filesharingprogramme angehört haben, das Verbot als gerechtfertigt erscheint. Man sieht hier, dass Aufklärung und Zensur in einer fatalen Wechselwirkung stehen: Die Aufklärung führt zum Ruf nach Zensur - die wiederum eine weitere Aufklärung und damit eine Bekämpfung des Zensierten verhindert.