Der Mensch ist aktiv, der Raum entscheidet

Auch knapp hundert Jahre danach sind Halford J. Mackinders Aussagen zum "geografischen Drehpunkt der Geschichte" von überraschend politischer Relevanz

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Dass Real-, Macht- oder Geopolitik politisch rechts und Universalismus, Internationalismus und Humanismus politisch links sind, scheint ein politischer Mythos zu sein, der nur schwer aus den Köpfen auch ungemein kluger Geister zu kriegen ist. Jüngst ist er von Andreas Zielcke (Von wegen Rache), ehemals Chef des Feuilletons der SZ, erneut transportiert worden. Anlass dafür bot ihm ein Essay von Robert D. Kaplan, den dieser unter dem Titel: The Revenge of Geography in der Politikzeitschrift Foreign Policy publiziert hat.

Nichts ist, wie es scheint

Die Geografie ist das Schicksal

Napoléon

„Politischer Realismus“, unter Neokonservativen vor Jahren noch als „Unwort“ und Ausdruck politischer Feigheit im Umlauf, gelte, wollte Zielcke bei Kaplan erfahren haben, seit dem Debakel im Irak wieder als „respektabel“. Diskreditiert sei dadurch vor allem der humanitäre Interventionismus, der Freiheit und Demokratie mit Waffengewalt herbeizwingen wollte. Profitiert davon habe die „geografische Perspektive“, auf die Amerikas Rechte nun wieder verstärkt schiele. Wer sich aber in den „Eigengesetzlichkeiten des Raumes“ verirre, gerate unweigerlich in einen „ideologischen Sumpf“, in dem es „gefährlich irrlichtert“.

Halford J. Mackinders

Was er mit „Sumpf“ und „irrlichtern“ meinte, führte er auch gleich aus. Es seien die deutschen Lebensraumpolitiker um Karl Haushofer gewesen, die einen ethnisch aufgeladenen Begriff des geographischen Raums entworfen haben, „den ein ‚vitales Volk’ ohne Rücksicht auf bestehende Staatsgrenzen aus ‚organischen’ Gründen in Besitz nehmen“ dürfe. Von dieser „dubiosen Tradition“, mahnte er, wollten Amerikas Rechte aber anscheinend nichts wissen. Lässig, aber „wohlwissend um ihre fatale Inanspruchnahme durch das NS-Regime“, überspringe Kaplan diese geohistorische Linie.

Nun mag ein solcher Ordnungsrahmen einen gewissen heuristischen Wert haben. Zumal er dazu dienen kann, Politiken ideologisch um- oder gar auszusortieren. Aber man muss nicht unbedingt bei Niklas Luhmann in die Schule gegangen zu sein, um zu sehen, dass es sich hier um die „Einheit einer Differenz“ handelt, um die zwei Seiten derselben Medaille. War es nicht die Clinton-Regierung, die dem Universalismus auch militärisch mehrere Male auf die Sprünge geholfen hat? Und waren es danach nicht die „Bushies“, die Clintons-Politik nahtlos fortgeführt haben und diesen Unterschied schließlich eingeebnet haben?

Politischer Brei

Bei Lichte betrachtet war und ist der klassische Neocon aller politischen Legendenbildung zum Trotz kein strammer Rechter. Bevor er von der Realität aus seinen politischen Träumen wachgeküsst wurde, fühlte er sich eher dem politisch linken Lager zugehörig. Die politische Besonderheit des Neokonservatismus war und ist es, dass er eine krude Mischung aus Machtpolitik und militanten Interventionismus, aus Politischer Theologie und universalistischen Ideen angerührt hat und auf diese Weise politisch rechts und links ideologisch zum Brei verrührt. Schon deswegen taugen die „Bushies“ nicht als Gewährsmänner, um die „weltanschauliche Ernüchterung“ zu begründen, die Amerikas Rechte derzeit durchläuft.

Und darum gibt auch Zielckes Behauptung, sie habe den „Idealismus“ durch „Geopolitik“ ersetzt, nicht viel her. Kaplan lässt sich nur schwer als politisch Rechter verorten. Für den Irak-Krieg haben schließlich alle politischen Lager votiert. Gewiss war er als „Nahkampf- Reporter“ (Die Weltwoche) in den letzten zwanzig, dreißig Jahren an nahezu allen militärischen Brennpunkten präsent, seine Reportagen wurden aber von rechten wie von linken Magazinen gern angenommen, von der Washington Post, der New York Times und dem Wall Street Journal ebenso wie vom The National Interest, dem New Republic oder von The Atlantic, für den er derzeit vorwiegend tätig ist.

Zudem übersieht Zielcke, dass die Geopolitik wesentlich älteren Ursprungs ist. Diskurspolitisch stellt sie ein sehr ausdifferenziertes Genre dar. Die Lebensraumpolitik der Nationalsozialisten nimmt darin allenfalls eine Sonderrolle ein. Von ihr kann man nicht schnurstracks auf den „geografischen Realismus“ schließen, den die Geopolitik mitunter favorisiert. Das ist nicht nur inhaltlich falsch, das funktioniert auch logisch nicht. Denn eine problematische Anwendung disqualifiziert nicht per se das zugrunde liegende Genre selbst, die innere Beziehung von Raum, Politik und Geschichte.

Geopolitische Kontinuitäten

Richtig ist, dass der „politische Realismus“ in den US-Denkfabriken an Attraktivität gewonnen hat. Die Aufmerksamkeit richtet sich wieder mehr auf das, was Kulturen, Religionen und Ethnien voneinander trennt als auf das, was sie vereint. Die politische Realität, die die internationalen Beziehungen prägt, ist, wie man leidvoll erfahren musste, weit härter als Geo-Ökonomen und politische Internationalisten annehmen. Es besteht sogar Grund zu der Annahme, dass die Globalisierung diesen Prozess eher verstärkt als geschwächt hat (Was sich alles selbstverwirklicht).

Richtig ist aber auch, dass Raumpolitiken schon des Längeren eine breite Renaissance erfahren haben. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa (Wo ist Europa?) und in Deutschland (Spiel ohne Grenzen Was Europa ist, wurde lange Zeit nur durch Inhalte definiert. Nun ist auch politische Geografie gefragt, in Russland (Dreams of the Eurasian Heartland), aber auch in China und Indien. Imgrunde durchzieht die geopolitische Denkweise den Globalisierungsdiskurs von Beginn an (Die Macht der Geografie). Seit Nine-Eleven ist sie sogar wieder auf der politischen Agenda und damit hoffähig geworden (Der elfte September).

Abzulesen ist das etwa an der Popularität, die politische Geografen in aller Welt erfahren. Fernand Braudel etwa, dessen Werke vom französischen Staatspräsidenten offen bewundert werden (Link auf http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29492/1.html) und die gerade in Deutschland bei Klett wieder neu aufgelegt werden. Oder auch an Sir Halford John Mackinder, dessen raumpolitische Vorstellungen (Politik des Großraums), Jahre bevor die „Bushies“ an die Macht kamen (Geopolitics and Policymaking in the 21st Century), in die Außenpolitik der „einzigen Weltmacht“ Eingang gefunden haben.

Von ungeahnter Aktualität

Vor knapp einhundert Jahren erklärte er vor der versammelten Royal Geographical Society in London das Ende der „kolumbianischen Epoche“. Das Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen sei abgeschlossen, und die Weltkarte mit ziemlicher Genauigkeit gezeichnet. Und da es für die europäischen Mächte auch keinen Raum mehr gebe, um sich weiter ausdehnen zu können, werde man es künftig „mit einem geschlossenen politischen System“ zu tun bekommen, mit einem „System von weltweiter Bedeutung“.

Bestimmt werde es von der eurasischen Landmasse, die dadurch auch potentielles Macht- und Gravitationszentrum der Erde, der Menschheit und ihrer Geschichte werde. Bemerkenswert daran sei, dass Russland einen Großteil davon sein Eigen nenne, während die westlichen Mächte, deren Kultur sich immer schon im Abwehrkampf gegen die asiatische befunden habe und sich als dessen Ergebnis erfahren könne, nur einen verschwindend kleinen Teil der Landmasse besetzen.

Auch wenn wir Darstellungen, die kulturell-religiöse Ereignisse aus den physikalischen Eigenschaften der Erde ableiten und Phasen der menschlichen Geschichte als Teil eines weltorganischen Ganzen deuten, mit Recht überaus skeptisch begegnen, verblüfft aus heutiger Perspektive doch der Weitblick, mit dem der Geograf zum einen die Globalisierung innereuropäischer Konflikte, die sich dann in zwei verheerenden Weltkriegen Luft verschafften, zum anderen aber auch den Aufstieg Russlands zur alles dominierenden Landmacht Eurasiens heraufziehen sah. In Asien besitze Russland geografisch „die zentrale strategische Position“. Es könne nach allen Seiten angreifen, aber auch, außer von Norden, von allen Seiten angegriffen werden.

Schauplatz der Geschichte

Gleichzeitig machte er auch die vier kritischen Punkte aus, von denen der „Drehpunkt der Geschichte“ umgeben und bedroht sei. Geografisch stimmten sie mit den vier großen Religionen überein, mit Buddhismus, Hinduismus, Islam und Christentum. Während das erste Gebiet, China, auf dem Pazifik, und das zweite, Indien, auf den Indischen Ozean ausgerichtet seien, werde die dritte Region, die arabische Halbinsel, durch seine Nähe zum afrikanischen Kontinent geprägt. Das vierte Gebiet hingegen, Europa, zehre vom Atlantik und seinem Klima.

Dem geneigten Leser werden die historischen und geopolitischen Kontinuitäten sofort ins Auge fallen: die beiden heißen Kriege und der Kalte Krieg, die Kriege in Korea und in Vietnam, der Einfall der Sowjets in Kabul, die pakistanisch-indischen Kriege, die diversen Golfkriege und der „War on Terror“; und auch die geostrategische Rolle, die die EU-Osterweiterung und die Integration der Türkei, der geopolitische Pluralismus in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und die Fortsetzung der Stützpunktpolitik in Arabien, in Zentralasien und Fernost für die Weltinsel Amerika spielt, die sich zusammen mit Großbritannien, Japan und Australien in einem „äußeren Ring“ anordnen und nur über die See Zugang zum eurasischen Kernland haben.

Mittlerweile wissen wir, dass alle größeren Kampfhandlungen der letzten sechzig Jahre sich in dieser „geografischen Sichel“ ereignet haben, die Mackinder damals als „Rimlands“ (Ringländer) bezeichnet hat und die vom Balkan über den Größeren Mittleren Osten bis nach Vietnam und Korea in Südostasien reichen. Hier, in diesem „inneren Kreis“ befinden sich, sieht man mal vom pazifizierten Europa ab, aktuell auch die bekannten „Schattenbereiche“, die die internationalen Beziehungen der Staaten determinieren und sich in verblüffender Weise mit jenen Gebieten decken, die Mackinder mit den vier Religionen in Zusammenhang brachte, Zentralasien, der persische Golf und der Nahe Osten. Religion war für Mackinder stets eine abhängige Variable der Geografie. Die Linie, die den Osten vom Westen trennt, verlief quer durch den Atlantischen Ozean.

Machtverschiebung

Diese geografische Weltlage, die sich damals, anno 1900, noch im „politischen Gleichgewicht“ befand, würde sich allerdings zugunsten des „Drehpunktzustands“ verändern, wenn es Russland gelänge, seine Macht auf die Randgebiete Eurasiens auszudehnen und Zugang zum Meer zu erhalten. Im letzten Abschnitt seines Vortrages wies Mackinder auf diese Möglichkeit bereits hin. Gelänge es China beispielsweise, Russland zu besiegen und zur dominierenden eurasischen Landmacht aufzusteigen, könnte es seinem Reich „eine ozeanische Front“ hinzufügen, etwas, was der russischen Macht bislang versagt geblieben ist. Dass der Klimawandel Russland bald dazu in die Lage bringen könnte, das konnte Mackinder damals beim besten Willen nicht ahnen.

Für Europa würde damit und in den Augen Mackinders China zur „Gelben Gefahr“. Alle US-amerikanische Ausrichtung auf Afghanistan und den Irak, auf den Streit mit Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien und im Kaukasus, würde hinfällig und müsste geopolitisch neu justiert werden. Und sie müsste wohl auch neu justiert werden, sollte es zu einer eurasischen Allianz zwischen Europa und Russland oder China und Russland kommen. In der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der auch Kasachstan, Usbekistan und noch drei zentralasiatische Staaten angehört und Iran und Indien einen Beobachterstatus einnimmt, ist eine derartige Allianz in gewisser Weise schon vor- oder angedacht.

Hauptbühne des 21. Jahrhunderts

Es verwundert daher nicht, wenn Robert D. Kaplan, nachdem der Atlantik vollkommen und der Pazifik fast befriedet ist, die Hauptbühne (Center Stage for the 21st Century: Rivalry in the Indian Ocean), der geopolitischen Streitigkeiten in diesem Jahrhundert in den Indischen Ozean verlagert. An diesem Ort prallen nicht nur die energiepolitischen Interessen des Westens mit der politischen Theologie des Islam aufeinander, der Aufstieg Chinas mit dem Indiens, dort werden mittlerweile auch neunzig Prozent des Welthandels und zwei Drittel der Energietransporte abgewickelt, vor allem auch und durch die strategisch bedeutsamen Straßen und Meerengen von Hormuz und Malakka. China und Indien hat dies dazu verleitet, ihre Flottenpräsenz und Seemacht exorbitant auszubauen. Sie suchen nach Bündnispartnern, Militärhäfen und Stützpunkten, um ihre Handelsflotten gegen Attacken auch von Piraten oder sonstigen Freibeutern wirksam schützen zu können.

Verständlich wird, warum sowohl unter chinesischen als auch unter indischen Strategen die geopolitischen Klassiker wieder hervorgeholt und ausgiebig studiert werden. Darunter vor allem auch The Influence of Sea Power Upon History, 1660-1783, das Alfred Tayer Mahan 1890 publiziert hat. Darin versucht der Marinegeneral nicht nur die Behauptung zu begründen, dass die Seemächte und die Verteidigung der eigenen Handelsflotte entscheidende Faktoren im globalen politischen Kampf gewesen sind, sondern auch, dass neben dem Pazifik vor allem der Indische Ozean „der Drehpunkt“ ist, um verstärkten Druck auf die eurasischen "Rimlands" auszuüben und die politische Entwicklung dort entsprechend zu beeinflussen. Die Küstengebiete Eurasiens zu beherrschen, sei, so noch der dänisch-amerikanische Stratege Nicolas Spykman ein halbes Jahrhundert später, der Schlüssel, um Eurasien von außen zu dominieren.

Folglich müssten die USA, wenn sie dort weiter mit ihrer gewaltigen Seeflotte die tragende Rolle spielen wollten, einerseits versuchen zwischen den beiden kommenden Monsunmächten zu vermitteln, andererseits aber sich auch mit Indien und Japan zusammentun, um den weltweit als bedrohlich empfundenen Aufstieg Chinas moderierend auszubalancieren (Geopolitics in the Indian Ocean). Für China wiederum bietet sich die Atommacht Pakistan und das Rohstofflager Myanmar an, um seine Positionen gegenüber Indien und den USA in der Region zu stärken oder gar auszubauen. Die beidseitige Aufrüstung der beiden Lager, die auch mögliche Kooperationen quer dazu denkbar erscheinen lassen, ist längst in vollem Gange (Asiens Atommächte rüsten um die Wette).

Wir sind alle Viktorianer

Unschwer ist zu erkennen, dass weder Welthandel und Weltverkehr noch universalistische Ideen, die an Freiheit und Demokratie appellieren und der Menschheit eine friedvolle Zukunft versprechen, es geschafft haben, die für überwunden und vergangen geglaubte Welt der Landkarten und politischen Geografien loszuwerden. Immer noch scheint die geographische Lage eines Landes das Schicksal seiner Bevölkerung zu bestimmen. Harold John Mackinders Diktum, wonach zwar „der Mensch die Initiative besitzt, die Natur aber weitgehend die beherrschende Kraft ist“, liefert dazu die macht- bzw. geopolitische Plausibilität. Menschen und Ideen mögen Ereignisse beeinflussen, Raum und Geografie scheinen daran aber maßgeblich mitzubestimmen. Um welchen Anteil es sich dabei handelt, darum geht der Streit.

Gewiss werden die politischen Kämpfe auch um Ideen geführt, wer wollte daran zweifeln. In der Hauptsache und imgrunde werden sie aber um Raum und Territorium geführt, um Rohstoffe und Ressourcen, um Zufahrtswege und Meerengen. Daran hat sich seit dem „Großnationalismus“, der zu Zeiten Bismarcks Europa in seinen Bann zog und dem Kontinent zwei blutige Kriege bescherte, nicht viel geändert. Der Machtpoker ist nur größer geworden. Und es nehmen auch mehr und neue Akteure daran teil (Das Machtspiel geht weiter). Irgendwie scheinen wir alle immer noch „Viktorianer“ zu sein oder zumindest so zu sein, wie sie gedacht haben.

Die „politischen Geografen“ können uns tiefere Einblicke darüber geben, aber auch Einsicht in die Grenzen und Beschränkungen, denen der liberale Universalismus, unter welcher Flagge und in welcher robusten oder weichen Gestalt er auch immer daherkommen mag, unterliegt. Sie frühzeitig zu erkennen, kann, wie die letzten Jahre recht anschaulich gezeigt haben, unter Umständen lebenserhaltend sein. Auch für Europäer!