"Der späte Nietzsche ist dogmatisch"

Gespräch mit Domenico Losurdo über die politische Philosophie Friedrich Nietzsches - Teil 2

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Teil 1: "Will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht"

Nietzsche identifiziert geradezu das Christentum mit den Sozialisten und so dämlich wie sich die Linke heutzutage Link auf http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29292/1.html, ist an dieser Position vermutlich doch einiges dran. Haben also die Ausführungen Nietzsches diesbezüglich nach einen rationellen Kern? Was haben ihrer Meinung nach Sozialisten und Christen gemeinsam und was trennt sie?

Domenico Losurdo: Nietzsche stellt unschwer das starke Potenzial sozialen Protests fest, das sich im Christentum ausdrückt. Aber nicht daran liegt seine Originalität. Sie liegt vielmehr darin, in der evangelischen Predigt die ideologischen Ursprünge des langen revolutionären Zyklus gelesen zu haben, der den Westen verheert: die “christlichen Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt” (AC, 43). Man darf sich vom geistigen und erbaulichen Schein des Diskurses Jesu nicht trügen lassen: “im Neuen Testament, speziell aus den Evangelien” hört man “eine indirekte Form der abgründlichsten Verleumdungs- und Vernichtungswut” (KGA, 12, 381). Diejenigen, die zur Erklärung des jakobinischen oder bolschewistischen Terrors die Aufklärung und Rousseau oder Marx und Engels unter Anklage stellen, täten gut daran, über diese Erklärungen nachzudenken!

Damit sollte man allerdings sofort klarstellen, dass Nietzsche der Grundunterschied völlig entgangen ist, der zwischen Christentum einerseits und sozialistischer Bewegung marxistischer Orientierung andererseits besteht. Von den Evangelien (und zuvor schon von den jüdischen Propheten) an, hat sich der soziale Protest der Armen und Ausgebeuteten mit einer “Philosophie der Armut”, d. h. mit der Würdigung eines Lebens unter dem Vorzeichen der Genügsamkeit, der anständigen Armut (Selig sind die Armen!) der Verurteilung des “Luxus” und des “ausschweifenden” Lebens ausgedrückt. Diese Tendenz hat sich über lange Zeit hinweg, ganz abgesehen vom Christentum, z. B. bei Autoren wie Rousseau und Fichte manifestiert.

Antisemitismus in Nietzsches Schriften

Ganz anders ist die Orientierung von Marx und Engels. Bei ihnen erfolgt sich die Verurteilung der Armut und des kümmerlichen Daseins, zu dem die Volksmassen verdammt sind, im Namen einer “Philosophie des Reichtums”, einer Auffassung, die die Entwicklung der Produktivkräfte feiert. In ihren Augen ist das kapitalistische System nicht nur, weil es auf einer ungerechten Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums gegründet ist, als historisch überwunden zu betrachten; nein, mit seinen regelmäßig wiederkehrenden Überproduktionskrisen verhindert es schon im Vorfeld die weitere Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und macht die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unmöglich. Die Kritik, die Nietzsche an den sozialen Protestbewegungen übt, sie seien von einer engen und provinziellen Lebensauffassung, von einer strengen und engherzigen Moral gekennzeichnet, treffen in diesem Sinne nicht zu, wenn es sich um die marxistisch orientierte sozialistische Bewegung handelt. Sicher wurde auch sie historisch von der “Philosophie der Armut” der rückständigsten Massen beeinflusst, wenn sie unermessliche Massen in wenig entwickelten Ländern in Bewegung gesetzt hat; aber das ist nicht der wichtigste Aspekt.

Welche Rolle spielt generell der Antisemitismus in Nietzsches Schriften?

Domenico Losurdo: In meinem Buch unterscheide ich vom Antisemitismus im eigentlichen Sinn, der auf die Rasse Bezug nimmt, die “Judenfeindschaft”, die auf historisch-kulturelle Argumentationen rekurriert. Beim frühen Nietzsche, beim Nietzsche vor der “aufgeklärten” Periode, spielt die Judenfeindschaft eine zentrale Rolle: die Verurteilung des “Sokratismus” ist in Wahrheit die Verurteilung des Judentums. Um sich darüber klar zu werden, genügt es, die Originalfassung des in Basel am 1. Februar 1870 gehaltenen Vortrags (Sokrates und die Tragödie) zu lesen, der so schließt: “Dieser Sokratismus ist die jüdische Presse: ich sage kein Wort mehr” (KGA, 14, 101). Auch die erste Unzeitgemässe Betrachtung kann nicht ohne die Judenfeindschaft verstanden werden: Nietzsche spottet über das fürchterliche Deutsch, das er David Friedrich Strauss vorwirft, der schon wegen seines Namens verdächtigt wird, Jude zu sein und deshalb für unfähig gehalten wird, korrekt eine Sprache zu benutzen, die nicht wirklich die seine ist.

Was den späten Nietzsche betrifft, muss man dagegen drei Figuren des Judentums unterscheiden. Mit Wohlwollen blickt der Philosoph auf die Figur des jüdischen Kapitalisten bzw. Finanziers, ja er wünscht sich sogar dessen eheliche und eugenische Verschmelzung mit dem preußischen Offizierskorps, um der herrschenden Klasse neues Blut zuzuführen und sie damit zu stärken und in die Lage zu versetzen, geschlossen und energisch der demokratischen und sozialistischen Subversion entgegenzutreten. Auf der anderen Seite spricht sich Nietzsche verächtlich über die Figur des jüdischen Einwanderers (so wie generell des Einwanderers) aus: “die polnischen Juden (…) riechen nicht gut (AC, 46) und es gebe derer schon zu viele in Deutschland. Und vor allem gibt Nietzsche seiner Verachtung und seinem Hass für die Figur des jüdischen Intellektuellen freien Lauf, der als der subversive Intellektuelle schlechthin betrachtet wird, und der, auf die eine oder andere Weise in allen Revolutionen präsent sei. Für den Philosophen kann der lange revolutionäre Zyklus, der den Westen verheert, als der zweitausendjährige Zyklus beschrieben werden, der von den jüdischen Propheten zur sozialistischen Bewegung reicht, und in dem die jüdische Präsenz weiterhin besorgniserregend ist.

“Schweres Anzeichen von Schwäche“

Sehen Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Kritik Nietzsches und Hegels an Kants Morallehre?

Domenico Losurdo: Beim Nietzsche der “aufgeklärten” Periode können wir lesen: “Die Menschen der Liebe und Aufopferung haben ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten” (MA, 133). Um ihre Absolutheit feiern zu können, ist die moralische Norm, die den Altruismus fordert, dazu gezwungen, das Böse, das sie unermüdlich brandmarkt, vorauszusetzen. Es ist interessant festzustellen, dass eine ähnliche Kritik schon von Hegel an dem christlichen Gebot der Nächstenliebe und der Armenhilfe geübt wird; und derjenige, der dieses Gebot befolgt, kann seine moralische Vortrefflichkeit nur dann rühmen, wenn es Arme gibt, denen man helfen muss. Anders gesagt ist die narzisstische Selbstbetrachtung des moralischen Subjekts die Kehrseite der Medaille der moralischen Weltanschauung.

Nach einer gemeinsam zurückgelegten Strecke, schlagen dann die beiden Philosophen zwei einander radikal entgegengesetzte Wege ein. Bei Hegel läuft die Kritik an der moralischen Weltanschauung auf die Behauptung der Notwendigkeit einer konkreten sittlichen Ordnung hinaus, die in der Lage wäre, die moralischen Bedürfnisse des Subjekts einzuverleiben, Bedürfnisse die, gerade wenn sie die Dimension der Objektivität annehmen, ihre Authentizität beweisen und aufhören, ein Instrument narzisstischer Genugtuung zu sein. Wer also die Pflicht zur Armenhilfe ernst nimmt, muss sich für die Realisierung einer sittlichen Ordnung einsetzen, in der es keinen Platz mehr für die Armut gibt und sogar das Gebot überwunden ist, das die Wohltätigkeit fordert. Für Nietzsche indessen handelt es sich darum, das von der Kultur geforderte Opfer einer beträchtlichen Masse von Menschen, sogar des größten Teils der Menschheit, zu verstehen und zu rechtfertigen: “Wenn man sich den reichsten edelsten und furchtbarsten Menschen denkt, ohne Böses – so denkt man einen Widerspruch (…) Ein Genie müsste furchtbar leiden, denn alle seine Fruchtbarkeit will egoistisch sich von den Anderen nähren, sie beherrschen, aussaugen usw.” (KGA, 9, 457).

”Kein Raum mehr für Selbstreflexion”

Nietzsche, der mit großer Inbrunst gegen den gesellschaftlichen Verfall, den er als Krankheit interpretierte, ins Feld zog, war selber Zeit seines Lebens krank, er hat wie bekannt nach der Niederschrift des "Ecce homo" seinen Verstand verloren. Er hat selber geschrieben, "alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden." Kann man besonders den späten Nietzsche überhaupt verstehen ohne Einblick in seine Krankenakten bzw. die Protokolle seiner nicht stattgefundenen Psychiatriesitzungen zu haben?

Domenico Losurdo: Edmund Husserl hat uns eine Grundwahrheit gelehrt: wir können die psychologische oder soziologische Entstehung eines Satzes untersuchen, wir können sagen, dass er (auf psychologischer Ebene) Ausdruck einer bestimmten Gemütsverfassung und sogar einer bestimmten psychopathologischen Tendenz ist, bzw. dass er (auf soziologischer Ebene) Ausdruck materieller Interessen und sogar egoistischer und perverser materieller Interessen ist. Unausweichlich bleibe für den Philosophen jedoch die Aufgabe, den Wahrheitsgehalt dieses Satzes zu analysieren. Nicht anders dürfen wir hinsichtlich des späten Nietzsche vorgehen und insbesondere sind wir gezwungen, so vorzugehen, weil Ecce homo eines seiner faszinierendsten Werke ist und weil es jedenfalls nicht im Widerspruch zu seiner vorhergehenden Produktion steht.

Es stimmt, dass Nietzsche, vor allem in der letzten Phase seiner Entwicklung, auf der psychopathologischen Deutung seiner Gegner besteht; das ist aber ein schweres Anzeichen für Schwäche. Mit dem Rekurs auf die Kategorie Entartung, zur Erklärung des Konflikts und der Geschichte kommt die Möglichkeit zur Selbstreflexion abhanden, das heißt die Fähigkeit eines Autors, auf seinen eigenen Diskurs und auf sich selbst die Kriterien der Deutung und der Kritik anzuwenden, die er für die Diskurse der anderen formuliert. Unermüdlich betont er, dass nur seine Antagonisten und nur sie krank seien: “Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die schädlichsten Menschen für große Menschen nahm (…). Ich will dazu der Gegensatz sein: mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit für alle Zeichen gesunder Instinkte zu haben. Es fehlt jeder krankhafte Zug an mir” (EH, Warum ich so klug bin, 10). Aber dann ist es gerade Nietzsche, der sich in einem Brief über das Fehlen von Rezensionen und kritischen Diskussionen seiner Bücher beklagt; stattdessen “hilft man sich jetzt mit den Worten: ‘exzentrisch’, ‘pathologisch’, ‘psychiatrisch’”. Dieser Austausch von Anklagen und Beleidigungen gibt zu denken. Er ist die Bestätigung dafür, dass es keinen Raum mehr für die Selbstreflexion gibt und wenn die Selbstreflexion ein unverzichtbares Requisit jeder wirklich kritischen, nicht dogmatischen Theorie ist, muss gesagt werden, dass der späte Nietzsche entschieden dogmatisch ist.

Kastration und Abtragung der Schamlippen

Nietzsche hat sich als Biologe des Sozialen verstanden. Die Sklaverei hat er als Grundvoraussetzung jeglicher kulturellen Entwicklung propagiert. Die Eugenik, also biologische Zuchtwahl hat er als Lösung für die sozialen Probleme seiner Gegenwart empfohlen: Deutsche Junker und reiche Jüdinnen ("christliche Hengste, jüdische Stuten") sollten durch Heirat und Verschmelzung ihrer Eigenschaften die Spannungen innerhalb der deutschen Oberschicht lindern. Den Armen hat er eine äußerst restriktive Familienpolitik anempfohlen, die bis zur "Kastration" und dem "Abtragen der kleinen Schamlippen" geht. Diese Topoi kommen bei Nietzsche nicht nur gelegentlich vor. Können Sie sich erklären, wie die "Hermeneutik der Unschuld“ (Losurdo) diese Aspekte zu Nebensächlichkeiten abtun konnte?

Domenico Losurdo: Die “Unschuldshermeneutik” lässt sich vielleicht mit dem Horror erklären, den die Postmodernen vor der Dialektik haben. Bei Nietzsche können wir sowohl die Legitimation der Sklaverei als auch die Würdigung der Emanzipation des Individuums, sowohl die Forderung nach einem die Totalität berücksichtigenden kritischen Wissen als auch die Verurteilung der Bildung für diejenigen finden, die dazu bestimmt sind, Sklaven oder Arbeitsmaschinen zu sein. Ist das ein Widerspruch? Bei einem bedeutenden amerikanischen Autor, Calhoun, der auch Vizepräsident der USA gewesen ist, geht etwa zur gleichen Zeit die Theoretisierung der absoluten Unverletzbarkeit der Sphäre der individuellen Freiheit, Hand in Hand mit der intransigenten Verteidigung des “positiven Guts”, das die Sklaverei ist. Calhoun beruft sich auf Locke und auch beim englischen Liberalen ist die entschiedene Verurteilung der absoluten Monarchie nur eine Seite der Medaille, während die Kehrseite die bedenkenlose Zustimmung zur absoluten Macht ist, die die Sklavenhalter in den Kolonien über ihre Sklaven ausüben. Die Grundtendenz der Geschichte des Westen findet bei Nietzsche ihren bewussten Ausdruck und kommt zu ihrer Vollendung: eine Verherrlichung des emanzipierten Individuums, das sich auf die Verknechtung derer stützt, die aus dem heiligen Raum der “Kultur” ausgeschlossen sind. Deutet man die liberale Tradition und deutet man Nietzsches Denken nur unter dem Vorzeichen der Emanzipation, so heißt das, die erschreckenden Ausschlussklauseln verdrängen, die sowohl die eine als auch das andere kennzeichnen. Ähnlich wie den heutigen Liberalen gelingt es den postmodernen Unschuldhermeneutikern nicht, den widersprüchlichen Zusammenhang von Einschluss/Ausschluss, Emanzipation/De-Emanzipation zu verstehen, der die sozialpolitische und philosophische Geschichte des Westens charakterisiert.

Auswahl Werke Domenico Losurdos:

• Immanuel Kant - Freiheit, Recht und Revolution Köln 1987
• Philosophie als Verteidigung des Ganzen der Vernunft Köln 1988
• Hegel und das deutsche Erbe, Köln 1989
• Fichte - die Französische Revolution und das Ideal vom ewigen Frieden, Berlin 1991.
• Zwischen Hegel und Bismarck Berlin 1993
• Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Heidegger und die Kriegsideologie, Metzler, Stuttgart 1995
• Geschichtsphilosophie und Ethik, Frankfurt 1998
• Flucht aus der Geschichte? Essen 2000
• Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt 2000
• Der Marxismus Antonio Gramscis Hamburg 2000
• Die Linke, China und der Imperialismus Essen 2000
• (mit Erwin Marquit) Zur Geschichte der kommunistischen Bewegung, Essen 2005
• Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen Papyrossa, Köln 2007
• Demokratie oder Bonapartismus : Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts ebd. 2008
• Nietzsche der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz Argument, Hamburg 2009

Siglen der zitierten Schriften Nietzsches

  • AC Der Antichrist
  • EH Ecce homo. Wie man wird, was man ist
  • GD Götzendämmerung
  • JGB Jenseits von Gut und Böse
  • KGA Kritische Gesamtausgabe, hgg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari
  • MA Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister