Ausgelöscht: Dutzende Zivilisten wurden Opfer von US-Luftangriffen

Verwandte der Opfer des US-Luftangriffs sagen, eine Untersuchung und Entschädigung würden nicht ausreichen. Bild: Humayoonbabur

Ein ganzes Dorf soll in der Provinz Kunduz zerstört worden sein, nach dem US-Militär wollte man "verbündete Einheiten" verteidigen

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In der nordafghanischen Provinz Kunduz wurden in der Nacht zum Donnerstag Dutzende von Zivilisten Opfer US-amerikanischer Luftangriffe. Die genaue Anzahl der Opfer ist weiterhin unklar. Ersten Berichten zufolge wurden zwischen 20 und 26 Dorfbewohner, darunter auch zahlreiche Frauen und Kinder, getötet. Laut der Provinzregierung wurden mindestens 30 Menschen getötet sowie 25 weitere verletzt. Analysten und Beobachter vor Ort gehen allerdings von weit mehr Todesopfern aus. Mehreren Aussagen zufolge hat das US-Militär ein ganzes Dorf in Schutt und Asche gelegt.

In der Provinzhauptstadt von Kunduz fand am darauffolgenden Tag ein Protestmarsch statt. Hunderte von Menschen hatten sich versammelt und forderten Gerechtigkeit. "Wir wollen eine unabhängige Untersuchung. Die Täter müssen bestraft werden", hieß es seitens mehrerer Teilnehmer. Die Leichen der geborgenen Opfer wurden während der Demonstration mitgetragen. Auf jenen Bildern, die von Nachrichtenagenturen sowie in sozialen Netzwerken verbreitet wurden, waren hauptsächlich tote Kinder zu sehen.

"Dutzende von Menschen sind immer noch unter den Ruinen ihrer Häuser begraben. Viele Kinder sind zu Waisen geworden. Wir haben alles verloren", meinte ein Überlebender gegenüber dem Radiosender "Radio Free Europe".

"Mein Herz ist gebrochen. Ich habe sieben Familienmitglieder verloren. Warum wurden all diese unschuldigen Kinder getötet?", meinte ein weiterer Dorfbewohner in einem Interview.

Das Bombardement geschah gegen vier Uhr morgens. Zeitgleich lieferten sich sowohl afghanische als auch US-amerikanische Streitkräfte Gefechte mit den Taliban. Mindestens zwei US-Soldaten wurden dabei getötet. Laut Aussagen des US-Militärs wurden die Bombenangriffe eingeleitet, um "verbündete Einheiten" ("friendly forces") zu "verteidigen".

Ob der Angriff von afghanischen Streitkräften beordert wurde, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unklar. Bereits in der Vergangenheit schoben sich die afghanische Armee sowie das US-Militär gegenseitig die Schuld zu nachdem eindeutige Kriegsverbrechen begangen wurden. Selbiges war etwa auch im vergangenen Jahr in Kunduz der Fall als ein Krankenhaus von "Ärzte ohne Grenzen" bombardiert wurde (Krankenhaus Kunduz: Versehentlich das falsche Gebäude vernichtet).

Währenddessen betrachten viele Einheimische das Bombardement als Racheaktion der US-Streitkräfte, nachdem zwei ihrer Soldaten von Taliban-Kämpfern getötet wurden. Im besagten Dorf sollen sich zum Tatzeitpunkt drei Taliban-Kämpfer aufgehalten haben. Dies wurde unter anderem auch von den Taliban selbst bestätigt. Im Statement der Aufständischen hieß es des Weiteren, dass nicht zwei, sondern sechzehn US-Soldaten in jener Nacht getötet wurden.

Weite Teile der Provinz Kunduz werden gegenwärtig von den Taliban kontrolliert. International wurde dies im vergangenen Jahr erstmals zur Kenntnis genommen, nachdem Taliban-Kämpfer die Provinzhauptstadt mehrere Tage lang einnehmen konnten. Selbiges ist den Aufständischen vor wenigen Wochen fast ein weiteres Mal gelungen.

Die heftigen Kämpfe am Boden werden landesweit permanent von Bombardements des US-Militärs begleitet. Allein in diesem Jahr fanden bis dato mindestens 700 US-Luftangriffe in Afghanistan statt.

Laut der UN-Mission UNAMA hat die Anzahl ziviler Opfer durch Luftangriffe im Land im Vergleich zum Vorjahr zugenommen - um 72 Prozent. Die Institution macht regierungsfreundliche Kräfte für 23 Prozent aller zivilen Opfer (623 Tote und 1.274 Verletzte) verantwortlich und berichtet von einer Zunahme von 42 Prozent. Insgesamt wurden im Zeitraum von Januar bis September 2016 mindestens 2.562 Zivilisten in Afghanistan getötet sowie 5.835 weitere verletzt. Dies stellt einen bisherigen Höchststand seit Beginn der UN-Zählung im Jahr 2009 dar. Ein Drittel der Opfer sind Kinder.

Aufgrund des jüngsten Bombardements steht die Kabuler Regierung ein weiteres Mal in Kritik. Obwohl immer wieder US-amerikanische Bomben Zivilisten töten, zieht es Präsident Ashraf Ghani vor, darüber kein Wort zu verlieren. Stattdessen machen Regierungsvertreter regelmäßig die Taliban für zivile Opfer verantwortlich. Auch diesmal behauptete ein Sprecher des afghanischen Verteidigungsministeriums, dass die Taliban Zivilisten als "Schutzschilde" benutzen würden und zivile Opfer deshalb lediglich auf ihr Konto gehen würden.