Obdachlose hoffen auf Wohnmodule aus Holz als Erdbebenschutz

Sergio Mattarella in Fan Feliciano. Foto: Public Domain

Interviews nach der Katastrophe in Mittelitalien

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

San Feliciano am Trasimenischen See, Provinz Perugia, Hotel Residence Le Tre Isole. Hier sind derzeit 90 Erdbebenopfer aus Norcia untergebracht, die beim letzten Beben vom 30. Oktober ihr Haus verloren haben. Unter ihnen sind ältere Menschen, ein junges Paar mit einem zwei Monate alten Baby, Hunde und Katzen. Auch Staatspräsident Sergio Mattarella hatte ihnen diese Woche einen Besuch abgestattet.

Vor mir sitzen der Rentner Paolo Troiani, ehemaliger Beamter der Gemeinde Norcia, seine Frau Patrizia, seine 29-jährige Tochter Anna Maria, Vermessungstechnikerin, und Gianna Ossoli, 50 Jahre alt, Mutter eines 26-jährigen Studenten. Alle kommen aus Norcia, dem umbrischen Städtchen, das seit dem 30. Oktober nicht mehr existiert. Es ist für seinen schwarzen Trüffel, den Norcia-Schinken und den Linsen aus Castelluccio bekannt. Auch ist es die Geburtsstadt des Hl. Benedikt, dem Patron Europas.

Wie steht es um Ihre Häuser?

Paolo Troiani: Meines ist, wie alle Häuser in Norcia, eingestürzt.

Erdbebenopfer: Famillie Troiani und Familie Ossoli. Foto: Jenny Perelli

Wie verlief das Erdbeben und die Zeit danach?

Gianna Ossoli: Das erste Beben vom 24. August war furchtbar. Es schien als ob wir bombardiert würden.

Patrizia Troiani: Wir sind aus dem Haus gerannt. Dann wurden wir von den Carabinieri recht schnell in die Zeltstadt gebracht. Nach einem Monat konnten wir dann in ein Hotel ziehen, das beim letzten Beben ebenfalls zerstört worden ist. Die Besitzer des Hotels hier in San Feliciano haben uns wirklich liebevoll empfangen.

Gianna Ossoli: Die Zeltstadt wurde nach dem ersten Beben schnell wieder entfernt, wahrscheinlich weil man gedacht hat, dass alles vorbei sei. Das war es aber nicht.

Anna Maria: Ja, denn seit dem 24. August hat es ständig Nachbeben gegeben.

Gianna Ossoli: Die Zeltstädte hätten bleiben sollen, denn auch wenn die Häuser noch stehen, kann es andere Probleme geben. Eine Freundin von mir z.B. hatte ihre Mutter, die Angst hatte Nachts im Haus zu bleiben. Sie mussten sie im Auto schlafen lassen. In einem Zelt wäre sie bessere aufgehoben gewesen. Nach dem 24. August waren nicht alle Häuser zerstört. Doch jetzt, nach dem 30. Oktober, sind alle eingestürzt.

Sind Sie sich verlassen vorgekommen?

Gianna Ossoli: Nach dem letzten Beben wurden wir sofort evakuiert und hierher geschickt. Ich kann mich nicht beklagen.

Wir hoffen, dass alle ihre Versprechen halten werden

Vor einigen Tagen war Staatspräsident Sergio Mattarella hier zu Besuch. Wie ist das Treffen mit ihm verlaufen?

Gianna Ossoli: Ja, er hat mich zweimal gegrüßt.

Patrizia Troiani: Wir haben ihn gebeten, sein Versprechen zu halten.

Gianna Ossoli: Wir hoffen, dass alle ihre Versprechen halten werden. Ich habe mein Haus wirklich geliebt. Jetzt wissen wir nicht, ob wir jemals wieder dort wohnen werden. Das werden mein Mann, mein Sohn und ich zusammen entscheiden. Ein Erdbeben ist wie ein Monster. Man weiß nicht, wann es wieder zuschlagen wird und wie stark. Auch das sicherste Haus ist vor ihm nicht sicher. Wenn ich jetzt eins der versprochenen Wohnmodule aus Holz erhalte, dann werde ich für immer darin leben, denn ein Haus aus Mauerwerk macht mir Angst. Was ich gerade durchstehen muss, möchte ich nie wieder erleben. Das Schlimmste ist die Evakuierung. Ich kann mir außerdem nicht denken, dass der Staat uns alle entschädigen wird. Wie soll er auch.

Paolo Troiani: Wenn die Häuser wieder aufgebaut werden, dann sollen sie besser gebaut werden."

Anna Maria: Ja, vielleicht wie in Japan. Wir haben alle so Angst vor dem Erdbeben. Das steckt uns jetzt tief im Nacken.

Gianna Ossoli: Ich liebe Norcia, denn das ist meine Heimat. Wer weiß, vielleicht werde ich sogar zurückkehren, um dort dem nahe zu sein, was mir noch geblieben ist, sei es auch ein zusammengefallenes Haus. Wahrscheinlich wird unser Leben anders sein. Unsere Stadt war so schön. Es gab Wohlstand und alle besaßen ein schönes Haus. Im Zentrum konnten wir Sonntags immer so herrlich spazieren gehen.

Patrizia, Anna Maria, Paolo. Foto: Jenny Perelli

Was waren Ihre ersten Gedanken während des Bebens und als Sie Ihr zerstörtes Haus sahen?

Paolo Troiani: "Man denkt an gar nichts. Man will sich nur retten und lebend davonkommen. Man kann noch nicht einmal aufrecht stehen. Es ist wie in einem Boot auf stürmischer See."

Gianna Ossoli: Ich habe das ja schon einige Male erlebt. 1974 war ich 8 Jahre alt. Und dann im Jahr 1979. Doch beide Male hatte das Erdbeben keine allzu große Schäden angerichtet. Die Häuser waren ja erdbebensicher gebaut. Doch jetzt ist es etwas ganz Neues und Traumatisches, denn niemals zuvor sind wir evakuiert worden.

Wissen Sie wie sich ein Erdbeben anfühlt? Es ist so, als ob 4 starke Männer wütend an deinem Bett rütteln würden. Mein Sohn lag auf dem Etagenbett. Hätte er sich nicht mit aller Kraft festgehalten, wäre er runtergefallen. Alles ist uns wild durcheinandergeflogen. Das Klavier, die Teller, die Regale. Die Rohre sind sofort gebrochen und es war Wasser auf dem Boden. Seit dem 24. August haben wir immer angezogen geschlafen. So große Angst hatten wir. Ich habe nur schnell meine Brille aufgesetzt und die Stiefel angezogen.

Paolo Troiani: Ja, denn sonst hätten wir Im Pyjama herauslaufen müssen.

Gianna Ossoli: Instinktiv blickt man nach oben, in der Angst es könne einem die Decke auf den Kopf fallen.

Paolo Troiani: Wir hatten Glück, mit dem Leben davongekommen zu sein.

Anna Maria: Sie sagen, dass es 6,5 stark war, aber ich denke das Beben war viel stärker. Der Boden hat sich gespaltet und auch der Monte Vettore. Ich weiß zwar nicht, ob ich mir das einbildet habe oder ob die Angst und die Aufregung mir da einen Scherz gespielt haben, aber die Berge um Norcia schienen mir flacher und irgendwie alle gleich hoch.

Gianna Ossoli: "So etwas wünsche ich nicht einmal meinem ärgsten Feind." Anna Maria: "Wir erschrecken jetzt beim kleinsten Geräusch. Wenn jemand hustet etwa."

Obdachlose Kinder aus Norcia. Foto: Jenny Perelli

Konnten Sie in der Zeit überhaupt schlafen?

Paolo Troiani: Nein, gar nicht. Man hat Angst abends zu Bett zu gehen.

Es wurden nicht nur unsere Häuser und unsere Stadt zerstört, sondern auch unser Leben

Hätte man Ihrer Meinung nach besser und sicherer bauen sollen? Hätte der Gesetzgeber im Bauwesen härter durchgreifen sollen?

Gianna Ossoli: Es wurde uns immer gesagt, dass es unsere Kultur ist, die Häuser so zu bauen. Doch vor einer derartigen Naturkatastrophe muss die Kultur doch nachgeben und sich angleichen. Sollen sie doch selbst in Steinhäusern dort wohnen.

Ulisse, aus den Trümmern gerettet. Foto: Public Domain

Das eigene Haus ist jedem heilig. Fühlen Sie sich im Tiefsten verletzt?

Gianna Ossoli: Natürlich. Das Haus ist ein Teil von uns. Wenn wir nur Mieter gewesen wären, wäre das ganz anders. Aber dein Eigentum, das du dir mit viel Fleiß und Eifer erarbeitet hast. Das tut schon weh.

Anna Maria: Das Haus ist das Leben. Es wurden nicht nur unsere Häuser und unsere Stadt zerstört, sondern auch unser Leben. Nichts wird mehr wie früher sein.

Paolo Troiani: Es gab Unternehmer, die ihr ganzes Geld in ihre Betriebe investiert hatten. Was sollen sie jetzt machen? Es gibt auch keine Arbeit mehr.

Residence am Trasimenischen See; hier wohnen derzeit 90 Obdachlose. Foto: Michele Benemio

Betet man in diesem Moment zu Gott?

Anna Maria: Eigentlich nicht. Nach dem letzten Beben schon gar nicht. Ich schaffe es einfach nicht mehr.

Gianna Ossoli: Es ist, als würde man dir dein Kind ermorden. Verzeiht man dem Mörder? Ich nicht. Ich wollte nicht so leben. Ich habe nichts Böses getan und weiß nicht, womit ich das alles verdient habe.

Residence Le Tre Isole. Foto: Michele Benemio

Wie sieht die Zukunft aus? Wann werden Sie nach Norcia zurückgehen können?

Anna Maria: Das wissen wir noch nicht. Vielleicht vor Weihnachten. In den nächsten Tagen soll ein Shuttlebus nach Norcia fahren. Das ist gar nicht so einfach, denn die meisten Zufahrtstrassen sind blockiert. Nach und nach werden wir dann unsere Sachen holen. Zumindest was übriggeblieben ist. Und dann nur in Begleitung der Feuerwehr. Unsere Autos sind auch noch dort. Ich weiß gar nicht, was ich dann machen soll. Vielleicht gehe ich ins Ausland.

Residence Le Tre Isole Garten. Foto: Michele Benemio

Was ist jetzt im Leben wichtig?

Gianna Ossoli: Die Gesundheit. Ich lebe jetzt so in den Tag hinein. Ich denke sogar in Halbtagesabläufen, denn am Morgen kann man nicht wissen, was am Abend passieren wird. So mache ich mir keine falschen Hoffnungen und kann nicht wieder enttäuscht werden. Mein Sohn soll fertigstudieren.

Paolo und eine weitere Obdachlose. Foto: Jenny Perelli

Was wollen Sie den deutschen Lesern mitteilen?

Patrizia Troiani: Den Deutschen wollen wir sagen, dass sie uns nicht verlassen und an uns denken sollen. Nicht ganz Mittelitalien ist zerstört. Sie können also geruht wieder in unser Land fahren.

Paolo Troiani: Auch Deutschland war nach dem Krieg dem Erdboden gleichgemacht, doch Die Deutschen haben die Ӓrmel hochgekrempelt und alles wiederaufgebaut. So wollen wir das auch machen. Mit dem gleichen Mut.

Am Hotelausgang wendet sich eine ältere Dame an mich: "Wissen Sie, ich habe so viele Erdbeben erlebt. Ich weiß gar nicht mehr, was ich davon halten soll. Vor dem Einschlafen weine ich jeden Abend." Sie lächelt, wirkt aber sehr betrübt.