Globale Probleme, nationale Interessen

UN-Generalversammlung. Bild: Patrick Gruban/CC BY-SA 2.0

Wie handlungsfähig sind internationale Institutionen im Konflikt mit nationalstaatlichen Interessen? Gespräch mit Andreas Bummel, Initiator der Kampagne für ein Parlament bei den Vereinten Nationen

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"Ein demokratisches Parlament auf Weltebene ist notwendig", sagte Andreas Bummel im Gespräch mit Telepolis im Frühjahr 2007. Kurz darauf startete die von ihm initiierte United Nations Parliamentary Assembla Cympaign, die vier Jahre später einen ersten großen Erfolg erzielen konnte: Im Juni 2011 schloss sich das EU-Parlament der Forderung nach Einrichtung eines solchen Parlaments an.

Ist der Begriff Weltparlament nicht ziemlich gewagt heutzutage?

Andreas Bummel: Der Begriff des Weltparlaments eröffnet ja gerade die Frage, wie die Ordnung der heutigen Welt weiter gestaltet werden müsste. Er bietet angesichts von Brexit und Donald Trump eine positive Vision für die Zukunft der Globalisierung an. Insofern: Ja, der Begriff ist gewagt, aber er ist notwendig und muss debattiert werden.

Es sind jetzt fast zehn Jahre seit dem Start der Kampagne für ein Parlament bei der UNO vergangen. Was hat sich seither bewegt?

Andreas Bummel: 2007 war die Debatte um eine demokratischere Weltordnung noch in den Kinderschuhen. Die Kampagne hat dafür gesorgt, dass man darüber nicht mehr ernsthaft sprechen kann, ohne auch zu fragen, wie sich die Weltbevölkerung bei der UNO und den Institutionen der Global Governance besser einbinden und repräsentieren lässt. Denn das Demokratiedefizit, das wir auf globaler Ebene sehen, ist ganz erheblich und hat sich verschärft. Immer mehr Entscheidungen finden auf internationaler Ebene statt.

In dem Zusammenhang war die globale Finanzkrise bedeutend, weil äußerst weitreichende Entscheidungen in diesem Bereich ab da von den G20 getroffen wurden. Inwieweit war die Weltbevölkerung einbezogen etwa in die staatliche Übernahme der Verpflichtungen von Banken? Sie war überhaupt nicht einbezogen. Das ist ja generell ein Problem bei zwischenstaatlichen Verhandlungen, dass Parlamente und Öffentlichkeit außen vor gelassen werden.

Wie groß ist denn der Enthusiasmus noch, so lange nach Beginn der Kampagne?

Andreas Bummel: Ich würde sagen, es ist eine gemischte Bilanz. Der Enthusiasmus ist weiterhin groß, aber wir haben natürlich gesehen, vor welchen praktischen Problemen wir stehen. Nicht nur wir sind betroffen, sondern alle sozialen Bewegungen, die große Veränderungen wollten. Denken wir an Occupy, das heute keine Rolle mehr spielt, oder an den Arabischen Frühling, der auf reaktionäre Gegenwehr stieß und nur von kurzer Dauer war. Auch das Weltsozialforum scheint eher an Zugkraft zu verlieren. Oder denken wir an Syrien, an die schreckliche Situation der Menschen in Aleppo, aber auch anderswo im Land, auch der Millionen von Flüchtlingen.

Klar muss man sich da fragen, wie enthusiastisch man überhaupt sein kann, wenn man angesichts dieser Weltlage mehr Demokratie realisieren will. Wir müssen aber trotzdem eine Weltordnung anstreben, die die Menschenrechte anerkennt und das Recht eines jeden, unter menschenwürdigen Bedingungen zu leben. Aber dafür müssen wir die strukturelle Gewalt aus dem internationalen System entfernen. Das ist ein komplexes Unterfangen, und es fängt auch mit institutionellen Reformen an.

Wie schätzen Sie denn die Entwicklungen bei den Vereinten Nationen in den letzten Jahren ein?

Andreas Bummel: Es gibt da ganz ambivalente Entwicklungen. Ein positives Beispiel: Früher wurde der Posten des Generalsekretärs von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates hinter verschlossenen Türen ausgekungelt. Dieser Kandidat wurde dann der Generalversammlung vorgesetzt und von ihr auch gewählt.

Dann gab es in diesem Jahr Bemühungen von demokratischen Ländern und wichtigen internationalen NGOs, dieses Verfahren transparenter zu gestalten. Daraufhin wurden öffentliche Anhörungen durchgeführt und offizielle, von Mitgliedsstaaten unterstützte Kandidaten aufgestellt. Am Ende wurde dann aber doch wieder der Kandidat der fünf Sicherheitsrats-Mitglieder von der Generalversammlung abgenickt. Aber ich denke, dass Antonio Guterres als Generalsekretär durchaus starke Akzente setzen kann. Er ist kein willfähriger Bürokrat. Beim üblichen Kungelverfahren wäre die Wahl vielleicht anders ausgefallen.

Andere Entwicklungen haben die dysfunktionale Struktur der UN erneut deutlich gemacht. In der Syrien-Politik zeigt sich, dass der Sicherheitsrat seiner Aufgabe, den Weltfrieden zu wahren, nicht gerecht werden kann, weil die ständigen Mitglieder durch ihr Vetorecht wichtige Entscheidungen verhindern können, die beispielsweise dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen würden.

Russland und teilweise auch China haben alle Resolutionen, die hätten effektiv sein können, verhindert – etwa eine Verurteilung des syrischen Regimes und seiner Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Dadurch macht sich der Sicherheitsrat selbst immer unwichtiger. Aber das Problem ist nicht neu. Es wird uns nur wieder vor Augen geführt, wie wichtig eine Reform des Sicherheitsrats ist. Fortschritte hat es in den Verhandlungen darüber seit über zwanzig Jahren nicht gegeben.

Andreas Bummel. Bild: G. Wustmann

Wird sich das ändern?

Andreas Bummel: Letzte Woche habe ich in New York mit UN-Botschaftern gesprochen, die deutlich gemacht haben, dass trotz aller Schaufensterreden weiterhin keine guten Aussichten auf eine Reform bestehen. Eine weitere schlechte Entwicklung besteht darin, dass autoritäre Regime die Beteiligungsmöglichkeiten von NGOs bei den Vereinten Nationen gerne einschränken würden.

Schaufensterreden sind ein generelles Problem. Momentan zeigt sich in der deutschen Türkeipolitik, dass Menschen- und Bürgerrechte keine Rolle mehr spielen, wenn es um eigene Interessen wie den Flüchtlingsdeal geht. Sind politische Institutionen überhaupt in der Lage, Menschenrechte nachhaltig durchzusetzen?

Andreas Bummel: Ich denke, es kommt darauf an, wie die Institutionen strukturiert sind. Der springende Punkt bei einer parlamentarischen UN-Versammlung ist ja, dass nicht nur die Exekutivebene, also die Regierungen, einbezogen sein soll, sondern auch Minderheiten und Oppositionen eine Stimme bekommen. Diese könnten den Finger in die Wunde legen.

Ein Beispiel aus den Neunzigern: Der Völkermord in Ruanda 1994. Das Hutu-Regime war damals nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates. Hätte es in der Situation ein Weltparlament gegeben, hätte auch die Tutsi-Minderheit ein legitimes Sprachrohr gehabt, um darauf hinzuweisen, dass die Briefings des Hutu-Regimes unzutreffend sind und dass tatsächlich Völkermord stattfindet. Das gilt auch für andere Situationen.

Um mal auf die Türkei einzugehen: In einem Weltparlament gäbe es sicherlich auch kurdische Abgeordnete. Das würde es der Regierung schwerer machen, diese Stimmen zum Schweigen zu bringen. Wenn Abgeordnete eines Weltparlaments von einer Regierung inhaftiert würden, könnte das international wohl kaum einfach so hingenommen werden und vom Weltparlament selbst erst recht nicht.

Besteht dann aber nicht auch die Gefahr, dass ein Parlament durch zu viele Einzelinteressen handlungsunfähig würde?

Andreas Bummel: Die Vertreter einzelner Gruppen müssten gemeinsame politische Grundlagen erarbeiten, die es ihnen ermöglichen, zusammenzuarbeiten und so auch prozedural eine Rolle innerhalb eines Weltparlaments zu spielen. Wir gehen davon aus, dass es in so einem Parlament zur Bildung transnationaler Fraktionen kommen würde – auf der Basis gemeinsamer politisch-ideologischer Perspektiven. Es gäbe dann linke, sozialdemokratische, grüne, konservative Fraktionen, und so weiter. Wie auch im EU-Parlament. Das würde dabei helfen, globale Probleme nicht nur aus der Perspektive nationalstaatlicher Interessen zu sehen.

Aber ist das EU-Parlament heute noch ein gutes Vorbild? Wir sehen doch gerade am Beispiel der Flüchtlingspolitik, wie Egoismen und Kleinstaaterei gemeinsame pragmatische Lösungen verhindern...

Andreas Bummel: Das Problem ist ja nicht das europäische Parlament, sondern es sind die nationalen Regierungen, die nicht dazu bereit sind, europäische Lösungen zu finden. Die gegenwärtige Problematik der europäischen Integration weist ja gerade darauf hin, dass hier Fortschritte nötig sind. Das EU-Parlament hat nicht genug Rechte. Es braucht ein Initiativrecht, damit es ein vollwertiges parlamentarisches Organ wird. Und das Gewicht der nationalen Regierungen muss in den EU-Institutionen zurückgeschraubt werden. Das würde in vielen Bereichen wie der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik oder der Koordination der Flüchtlingspolitik die Arbeit erleichtern. Daher brauchen wir stärkere basisdemokratische Institutionen und geringeren Einfluss der Nationalregierungen.