1000.Tatort - Taxi nach Leipzig

Entführer Klapproth (Florian Bartholomäi) im Gespräch mit seinen Geiseln. Bild: © ©NDR/Meyerbroeker

Herausragender Jubiläums-"Tatort" überzeugt mit psychologischer Ausnahmesituation und ungewöhnlicher Dramaturgie

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Eines ist sicher: Auch an diesem Sonntag wird #Tatort bei Twitter der meist benutzte Hashtag sein. Denn kaum etwas Anderes wird Sonntagabend für Sonntagabend im Netz so aufgeregt diskutiert, so ironisch, albern, lustvoll oder besserwisserisch kommentiert wie die ARD-Krimireihe, deren 1000. Folge jetzt ausgestrahlt wird - wie immer vor einem großen Publikum: Zehn Millionen schauen im Schnitt bei den etwa 40 Fällen im Jahr zu.

Selbst Tageszeitungen, die die klassische und eigentlich bei den Lesern beliebte Fernsehkritik längst abgeschafft oder auf ein Minimum reduziert haben, beschäftigen sich vorab oder sogar aktuell online ausführlich mit der jeweils ausgestrahlten "Tatort"-Folge. Und wenn dann mal wieder ein Fernseh-Kommissar den Dienst quittiert oder neu antritt, wird das sofort zu einem großen Boulevard-Thema.

Das soziale Lagerfeuer

Viele sehen also dem mörderisch öffentlich-rechtlichen Treiben am Sonntagabend zu, manche auch aus Hassliebe. Wohl jeder Zuschauer hat seinen Favoriten unter den "Tatort"-Kommissaren von heute, von gestern oder vorgestern. Und die Reihe ist wohl tatsächlich eines der letzten sozialen Lagerfeuer, um das sich die Fernsehgemeinde und mittlerweile auch die Internetnutzer dieses Landes fast schon rituell versammeln. Solch ein regelmäßig wiederkehrendes Ritual ist ja auch was Feines, bietet was Stabiles, in einer zunehmend als unsicher wahrgenommenen Welt.

Und dadurch gestärkt kann man dann mit der Gewissheit, dass das Gute mal wieder über das Böse gesiegt hat, in die neue Arbeitswoche starten. Nun steht also das Jubiläum der Reihe an. Und wieder fährt dabei ein "Taxi nach Leipzig". Darin sitzt jedoch nicht wie in der ersten gleichnamigen Folge vom 29. November 1970 der Hamburger Kommissar Paul Trimmel (Walter Richter), sondern sitzen zwei beim Publikum besonders populäre Ermittler: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Klaus Borowski (Axel Milberg). Ein Paar, das sich nicht kennt noch kennenlernen will, das sich gegenseitig ziemlich unsympathisch findet.

Elitesoldat aus Afghanistan

Und das nun fast 90 Fernsehminuten lang schicksalhaft aufeinander angewiesen ist. Am Steuer ist nämlich mit Rainald (Florian Bartholomäi) ein Typ, der der kleine Bruder von Martin Scorseses "Taxi Driver" sein könnte. Also eine Zeitbombe auf zwei Beinen, die kurz vor der Explosion steht, die angetrieben wird von finstersten Rachegefühlen und von einer großen enttäuschten Liebe. Und das Schlimmste ist: Da er als Elitesoldat in Afghanistan gewesen ist, weiß Rainald, wie man tötet.

Die Geiseln: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler, re.) und Borowski (Axel Milberg, Mitte). Bild: © ©NDR/Meyerbroeker

Rein zufällig sind Lindholm und Borowski zusammen mit einem Kollegen in Braunschweig nach einem Polizeiseminar in das Taxi von Rainald geraten - ohne zu ahnen, dass dieser gerade innerlich vor Wut kochend auf den Weg nach Leipzig ist. Er hat kurz zuvor erfahren, dass seine dort lebende Ex-Freundin ausgerechnet seinen verhassten ehemaligen Vorgesetzten am nächsten Tag heiraten will.

Schnell entladen sich dann bei dieser Fahrt Rainalds Aggressionen. Zuerst erwischt es wegen einer Banalität den nervigen Kollegen der beiden Ermittler. Mit einer kurzen Armbewegung bricht ihm Rainald das Genick, um den Leichnam dann im Kofferraum des Taxis zu verstauen. Und nach diesem dramatischen Knalleffekt beginnt zwischen den beiden inzwischen gefesselten Kommissaren und ihrem Entführer ein langes, aber nie langatmiges Psychospiel.

Ausnahme-Tatort

Ein kammerspielartiges Drama auf engstem Raum, aufgeführt natürlich in einer verregneten Nacht, in dem der Autor und Regisseur Alexander Adolph geschickt Einblicke in das Seelenleben der ansonsten in ihren Fällen stets cool und souverän auftretenden Kommissare vermittelt - möglich wird dies auch durch einen kleinen filmischen Trick. Bisweilen sind nämlich die Gedanken der beiden hörbar.

"Taxi nach Leipzig" erzählt also von einer psychologischen Ausnahmesituation. Dem Regisseur gelingt es dabei tatsächlich größtmögliche Spannung zu erzeugen, die sich dann in dem bitteren Finale gewaltsam entlädt. Kurzum: Der Film ist ein würdiger und dramaturgisch ungewöhnlicher Jubiläums-"Tatort", in dem auch alte Mitstreiter der Reihe wie Karin Anselm, Hans Peter Hallwachs, Günter Lamprecht oder Autor Friedhelm Werremeier kurze Gastauftritte haben - und ein Film, der wesentlich mehr zu bieten hat als kriminalistische Hausmannskost.

Über den ersten Tatort schrieb damals die Frankfurter Allgemeine: "Im ganzen bietet der Anfang der Serie mehr eine Variante von Bekanntem als etwas Neues. Stutzig macht auch, daß einem vorsorglich ‚kriminalistische Hausmannskost‘ versprochen wird. Herzlich gern nähme man sie. Aber noch immer ist eine Hummermayonnaise leichter zu machen als ein guter Eintopf …"