Erdogan will über EU-Beitritt ein Referendum abhalten

Damit wird der EU passend zum Besuch des deutschen Außenministers ein Druckmittel genommen, noch diese Woche soll das von Erdogan gewünschte Präsidialsystem zur Abstimmung kommen

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Passend zum Besuch des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der nach dem Willen der Großen Koalition zum neuen Bundespräsidenten in der Nachfolge von Gauck werden soll, hatte gestern der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schon mal angekündigt, dass er auf die Beitrittsverhandlungen zur EU auch verzichten kann, um auf dem Weg zu seinem angestrebten autoritären Präsidialsystem mit weitgehend ausgeschalteter Opposition weniger durch die EU erpressbar zu sein.

Der deutschen Regierung sind sowieso die Hände gebunden, weil sie sich mit dem Flüchtlingsdeal der Willkür des türkischen Präsidenten bereits ausgeliefert hat. Auch wenn hin und wieder mahnende Worte aus Berlin zu hören sind, wenn es um Bürgerrechte, Meinungsfreiheit und Rechtssystem geht, schwieg man zum Krieg gegen die PKK mit zahlreichen Menschenverletzungen im Südosten des Landes, verlor kein Wort über die interventionistischen Eskapaden im Irak und in Syrien und etwa die Angriffe weniger auf den IS als auf die syrischen Kurden, während die Bundeswehr weiter in Incirlik stationiert bleibt.

Die türkische Regierung hat nach der Entmachtung des noch nicht ganz Erdogan-hörigen ehemaligen Außenministers Davutoglu im Mai mit hoher Geschwindigkeit das Land umgekrempelt, nach dem Putschversuch, dessen Hintergründe weiter im Dunkeln sind, eine wahrhaft autoritär gelenkte Demokratie mit der Ausschaltung der freien Medien und der Meinungsfreiheit sowie mit Massenverhaftungen und –entlassungen durchgesetzt, während die nationale Einheit durch Kriege zementiert wird.

Die Flüchtlinge, die die Türkei aus Syrien aufgenommen hat, wurden mittlerweile zu Geiseln. Immer wieder wird gegenüber Europa gedroht, wenn dort Kritik aufkommt, alle Schranken zu öffnen. Das scheint insbesondere bei der deutschen Regierung zu wirken, die ihre Position vor allem mit dem Flüchtlingsabkommen innerhalb der EU durchsetzen konnte. Wobei durchsetzen zu viel gesagt ist. Bundeskanzlerin Merkel hatte zwar das Abkommen abschließen können, aber bei der Umsetzung stockt es. Die meisten EU-Mitgliedsstaaten verweigern sich dem Beschluss, Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen, Griechenland wird mit den dort verbleibenden Flüchtlingen alleine gelassen, die Umsetzung der Visa-Freiheit wird hinausgeschoben, die Beitrittsverhandlungen sind auch seitens der EU ins Stocken geraten, die türkische Regierung lamentiert, dass die versprochenen Milliarden nur teilweise gezahlt wurden.

Wenn jetzt Steinmeier weiter betont, wie wichtig die Türkei als Partner sei, und herausstreicht, dass die deutsche Regierung – Merkel trat bekanntlich vor dem Flüchtlingsdeal für eine "privilegierte Partnerschaft" ein - an der "europäischen Bindung der Türkei" festhalten will, dann machte ihm nun Erdogan einen deutlichen Strich durch die Rechnung, indem er ein Referendum über den EU-Beitritt noch in diesem Jahr ankündigte bzw. damit drohte.

Damit reagierte er in bekannt emotionaler Weise auch auf Äußerungen des Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz, der möglicherweise Steinmeier als Außenminister ersetzen könnte. Er brachte mögliche ökonomische Sanktionen zur Sprache und drohte, dass die Beitrittsverhandlungen, an denen man noch festhalten müsse, gestorben seien, wenn die Türkei die Todesstrafe wieder einführt.

Erdogan verlangte, dass die EU sich schnell entscheiden müsse. Hingegen forderte er die Türken auf, Geduld bis zum Ende des Jahres zu haben, wenn die Frage der Nation zur Entscheidung überlassen wird, wie er dies auch mit der Wiedereinführung der Todesstrafe machen will, offenbar überzeugt davon, die Mehrheit der Türken hinter sich zu wissen. Schulz bezeichnete er als "schamlose Person", auf dessen "Angriff" werde man "die Krallen der Katze, die Werkzeuge und die von ihnen verwendeten Verräter auslöschen". Einige Leute wollten, so sagte er mit Blick auf Schulz, "das Leben in dieser Geografie unerträglich machen". Und bevor die EU etwas von der Türkei verlangen, sollte sie erst einmal gegen die PKK vorgehen: "Die Mitglieder dieser Terrororganisationen laufen frei in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden herum."

Das "türkische Präsidialsystem" zum Machtausbau von Erdogan soll diese Woche im Parlament gebilligt werden

Schon zuvor hatte der Justizminister Bekir Bozdağ den neuesten Fortschrittsbericht der EU-Kommission gegeißelt. Er sei ein "gutes Beispiel für die stereotype Anti-Türkei-Propaganda der EU, die auf Irrtümern, Scheinheiligkeit und Vorurteilen basiert". Es sei beispielsweise kein Journalist im Gefängnis wegen seiner journalistischen Tätigkeit, sie seien alle wegen Straftaten dort ("Mord, Fälschung, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Versuch, die Verfassungsordnung zu verändern etc."). Überhaupt gehe alles rechtmäßig in der Türkei vor sich, die Verhaftungswelle sei nach einem Putsch ganz normal. Der EU wird bezichtigt, "den epischen Kampf des türkischen Volks und der Türkei unter der Führung unseres Präsidenten" anzuerkennen.

Das "türkische Präsidialsystem" wird Präsident Erdogan, sollte die AKP zusammen mit der MHP eine Mehrheit für die noch in dieser Woche vorgesehene Abstimmung finden, mehr Macht zuweisen und die Befugnisse und Kontrollen des Parlaments einschränken. Das Parlament könne, schreibt die AKP-Zeitung Daily Sabah, den Präsidenten mit Einschränkungen kontrollieren, beispielsweise einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Mit einer überwältigenden Mehrheit von 413 der 550 Abgeordneten könnte er sogar vor das Verfassungsgericht zitiert werden, wobei allerdings schon jetzt von einer Unabhängigkeit der Justiz nicht mehr gesprochen werden kann.

Als Erfolg wird auch verkauft, dass nur noch 1-2 Minister aus dem Parlament kommen sollen, während die anderen vom Präsidenten eingesetzt werden und nicht dem Parlament angehören. Bei Wahlen könnte die 10-Prozent-Hürde auf 5 Prozent gesenkt werden, aber man ist natürlich vorsichtig, denn pro Wahlbezirk soll dann offenbar nach einem Mehrheitswahlrecht nur noch ein Kandidat aus der Wahl hervorgehen.