Postfaktisches Zeitalter - Darauf einen Bommerlunder

Von der Benennungsmacht der politischen Eliten und der Medien

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"Postfaktisch" ist ein Begriff, der derzeit in den Medien landauf landab zu hören ist. Die Moderatoren der großen Polit-Talkshows gebrauchen ihn so genüsslich wie ein Kind, das sich über ein besonders tolles Weihnachtsgeschenk freut. Die Kommentatoren in den großen Medien verwenden ihn mit dem Gestus der Bedeutungsschwangerschaft, so als stünde alleine schon durch den Gebrauch des Wortes die Entdeckung der Weltformel kurz bevor. Anders gesagt: Wer derzeit "dazu" gehören will, der spricht von "postfaktisch", von der postfaktischen Zeit oder - ganz großes Tennis - vom postfaktischen Zeitalter. Aber leben wir tatsächlich in einer Zeit, in der Fakten keine Rolle mehr spielen?

Zugegeben: Das klingt alles gar nicht so schlecht. Nein, es klingt sogar ziemlich gut. Wer von der postfaktischen Zeit spricht, hört sich nicht so an, als habe er die Schule frühzeitig verlassen. Wer vom postfaktischen Zeitalter spricht, von dem darf man erwarten: Er hat Bildung genossen und verfügt deshalb wohl über das, was man bisweilen als "Durchblick" bezeichnet. Und das ist heute, also in einer Zeit, in der jeder öffentlich alles sagen kann und darf (welch ein unerträglicher Zustand), was ihm gerade so durch die "Großhirnrinde zuckt" (Rupert Lay), von großem Wert.

Schließlich brauchen die Menschen "Orientierung"', sie brauchen kluge Analysten, die in der Lage sind, die "komplexen Verhältnisse" auch sprachlich auf den Punkt zu bringen. Denn: Ist es nicht so, dass durch Benennung Klarheit geschaffen wird? Ist es nicht so, dass Orientierung dringend nötig ist, wenn die "Nebelkerzenwerfer", die "Vereinfacher der Wahrheit" und "Apokalyptiker" ihren Auftritt haben?

Mit diesem kleinen Aufriss, der nicht frei von Ironie ist, befinden wir uns inmitten jenes Schlachtfeldes im Bereich der Sprache, auf dem gegenwärtig um Deutungshoheiten gekämpft wird.

Der Begriff "postfaktisch" ist nicht Aufklärung, sondern Anti-Aufklärung

Postfaktisch ist ein Begriff, an dem sich sehr gut ablesen lässt, wie gesellschaftliche Akteure mit Hilfe sprachlicher Benennungsmacht versuchen, die nach ihren Wünschen definierten Grenzen der Diskussion weiter zu bestimmen.

Perfide: Viele derjenigen, die den Begriff im öffentlichen Diskurs derzeit gebrauchen, machen genau das, was sie eigentlich zu bekämpfen vorgeben. Wer davon spricht, dass "wir" in einer postfaktischen Zeiten leben, tut dies scheinbar im Geist der Aufklärung. Wer, oft mit dem Gestus des Professoralen, sagt, im Zeitalter des Postfaktischen erreiche man viele Menschen nicht mehr mit Tatsachen, tut dies von einem Standpunkt einer vermeintlich überlegenen Erkenntnis.

Doch auch wenn das Wort akademisch noch so geschliffen klingt und diejenigen, die es verwenden, für sich beanspruchen, die "wirkliche Wirklichkeit" zu erkennen: Wenn heute vom postfaktischen Zeitalter die Rede ist, sollte bei jedem kritischen Beobachter der gesellschaftspolitischen Verhältnisse die Alarmsirenen anspringen.

Der Begriff "postfaktisch", so wie er derzeit in den Medien oft genug verwendet wird, ist nicht Aufklärung, sondern Anti-Aufklärung. Er zeigt nicht auf, sondern er verschleiert. Er trägt nichts zum Erkenntnisgewinn bei, sondern versucht mit viel Tamtam den Blick weg von jenen Gräben in der Gesellschaft zu lenken, die auf die schweren politischen Verwerfungen unserer Zeit verweisen.

Wer davon spricht, dass Menschen und Bürger mit Argumenten nicht mehr erreichbar sind, weil sie im postfaktischen Zeitalter lebten, schwingt jenes Schwert, das dazu geschmiedet wurde, den Meinungspluralismus zu zerschlagen und im Kampf um die Definitionsmacht den entscheidenden Schlag zu landen.

Wer pauschal Menschen unter einem Begriff zusammenpfercht und ihnen unterstellt, sie interessierten sich nicht für Fakten, sondern folgten blind den neuen Heilsversprechern aus den extremeren politischen Lagern, macht sich zum Erfüllungsgehilfen eben jener Politik, die dazu geführt hat, dass Menschen sich tatsächlich aus der politischen Mitte verabschieden.

Es war schon immer so: Wann immer Bürger erkennen, dass tragende Säulen ihrer Lebensgrundlagen angebohrt oder gar weggesprengt werden, dann wenden sie sich von jenen ab, die, oft unter großer List und Tücke , vorgaben, die Wächter dieser Säulen zu sein.

Anders gesagt: Wenn Bürger sehen, wie schwerwiegend das Versagen der politischen Eliten samt ihrer Helfer und Helfershelfer ist und welch weitreichende Konsequenzen sich aus den fatalen politischen Weichenstellungen auch für sie ergeben, dann entsteht Verachtung und Wut gegenüber den Verantwortlichen dieser Politik.

Dass nun just zu diesem Zeitpunkt die Demagogen mit leeren Versprechungen und einfachen Lösungsansätzen bereit stehen: geschenkt! Dass in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Krisen ein gewisser Teil der Bürger jenen Verführern in die Arme rennt und ihnen gar Glauben schenkt: Ja, das ist bitter. Aber: Das ist beileibe kein neues Phänomen.

Wer in Anbetracht dieses Verhaltens das postfaktische Zeitalter zu erkennen glaubt, müsste konsequenterweise auch davon ausgehen, dass das große Polizeiaufgebot bei einem Bundesligaspiel ein Zeichen für den drohenden Polizeistaat ist.