Emil und der Tuberkelbazillus

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Völkisches Denken, christliches Abendland und "Rassenhygiene" in der "Deutschen Medizin" des NS-Staats - Geschichte einer Verstrickung, Teil 9

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Zu Teil 8: Emil und die Tochter des Waldhüters

Angesichts eines bürokratischen Systems, das beim Umgang mit dem Filmerbe des Dritten Reichs schnell an seine Grenzen stößt, ist es gut, wenn man sich auf die Autoritätsgläubigkeit des Publikums verlassen kann. Statt einer auf Information gestützten Strategie haben wir Verbote und Aufkleber in Rot (FSK 18), Grün (FSK 12) und Gelb (FSK 6), die suggerieren, dass es eine Institution gibt, die weiß, was für Kinder welcher Altersstufe geeignet ist und was nicht - und die das schon immer wusste, weshalb Prüfergebnisse von vor 30, 40 oder 50 Jahren weiter gelten, solange keiner die Gebühr zahlt, die zu entrichten ist, damit die Experten für den Jugendschutz noch einmal hinschauen. Das muss kein Schaden sein. Hinschauen kann man zur Not auch selber. Das Tückische daran: Die Propaganda ist mitunter da versteckt, wo man nichts sehen kann.

"Die Berkel, also Frau Berkel ist ja so gesehen meine Vorgesetzte. Ich sach ja immer Tuberkel oder Eva Braun, also intern."

Stromberg

Wir waren beim schönen Tod des kleinen Marthelchens, dem Dr. Koch dabei hilft, ein Engel zu werden. Von der Hütte im Wald führt der Weg des Kreisphysikus zurück nach Wollstein. Er hat gerade noch Zeit, sich liebevoll um seine kleine Tochter zu kümmern und eine Tasse Kaffee zu trinken, ehe er sich den Patienten widmet, die bereits zahlreich auf ihn warten und einen Querschnitt durch eine ziemlich alt aussehende deutsche Volksgemeinschaft bilden (ganz so, als wären die Kinder schon gestorben). Das Gehalt eines Amtsarztes war eher gering, weshalb der Physikus auf Privatpatienten angewiesen war. Frau Koch will im Interesse der Haushaltskasse, dass ihr Mann zuerst den Bäckermeister und den Pferdehändler drannimmt, weil sie für die Behandlung auch bezahlen. Für Dr. Koch kommt das nicht in Frage: "Du weißt doch, es geht bei mir der Reihe nach!" Wer bei Robert Koch Patient ist kann vor dem Tod noch einmal eine Reise machen wie der unheilbar kranke und mittellose Herr Neschmann, und die Medikamente für das Marthelchen hat der Doktor auch schon bezahlt, weil sie für die Eltern zu teuer waren.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Kassenpatienten, die mitunter den Eindruck haben, dass ihr Arzt das Jonglieren mit der Gebührenordnung besser beherrscht als sein eigentliches Metier, das er mal studiert hat, dürften das alles sehr sympathisch finden. Dick aufgetragen ist es aber auch. Das hat seinen Grund. Dr. Koch wird uns in der ersten Viertelstunde so nachdrücklich als liebevoller Familienvater, Freund der Kinder, nur seinem Berufsethos verpflichteter Arzt und zu persönlichen Opfern bereiter Forscher vorgestellt, weil er ein paar Sachen macht, die nicht so sympathisch wirken könnten. Am Morgen sperrt er die Eltern aus, wenn er ihr krankes Kind in den Tod begleitet (mit einer Überdosis Morphium, vermute ich, dieses "Zaubermittel" für den "sanften Tod" empfiehlt Hellmuth Unger in seinen Euthanasieromanen). Am Abend kommt er wieder, um das kleine Marthelchen ohne die Einwilligung der Eltern zu sezieren und ein Stück von der Lunge mitzunehmen. Zweifel an der Lauterkeit von Kochs Motiven von Anfang an zu zerstreuen ist für den Film ganz wichtig.

"Judenfreie" Wissenschaft

Bereits in der umfangreichen Vorberichterstattung wurde das Bemühen um historische Korrektheit betont. So informierte etwa der Film-Kurier (25.2.1939) seine Leser darüber, dass Jannings sich beim Besuch des Robert-Koch-Instituts an Kochs originalen Arbeitstisch gesetzt, durch eine detailgetreue Nachbildung von dessen Mikroskop geblickt und sich die Handhabung der wissenschaftlichen Apparate habe erklären lassen. Beim Lesen solcher Artikel könnte man meinen, dass der Großschauspieler alter Schule die Stanislawski-Methode für sich entdeckt und sich zum method actor gewandelt hatte. Bei den Dreharbeiten war extra ein Universitätsprofessor dabei, der auf korrektes Hantieren mit den Instrumenten achtete. Die Schauspieler agierten in Kulissen, die sich an Photos von den Originalschauplätzen orientierten. Vorab wurden von den Dekorationen Modelle im Maßstab 1:10 bzw. 1:23 gebaut, damit der Perfektionist Steinhoff mit Fritz Arno Wagner (in einem früheren Karriereabschnitt Kameramann von Lang und Murnau) die besten Kamerapositionen austüfteln konnte.

Bei den Menschen nahm man es nicht so genau. Wenn Jannings sich tatsächlich, wie von der Werbung behauptet und ihm vom "wissenschaftlichen Bearbeiter" Dr. Hellmuth Unger attestiert, in monatelanger Vorbereitungszeit in Leben und Werk Robert Kochs vertieft haben sollte, müsste er sehr schnell begriffen haben, vor welchen Karren er sich da spannen ließ. Dem Reporter des Film-Kuriers erzählte er, einen Film drehen zu wollen, "der jeder wissenschaftlichen Kritik standhält. […]. Die Gestaltung des Menschlichen freilich wird sich nicht ängstlich an die biographischen Vorgänge halten; denn man will ja keinen Kulturfilm drehen, sondern das Lebensbekenntnis eines großen Genies." Es gehört zur Natur des Spielfilms, dass er sich nicht sklavisch an die "historische Wahrheit" hält, die es im Sinne einer nachprüfbaren Objektivität ohnehin nicht gibt. Was klingt wie eine Platitüde hat jedoch einen sinistren Hintergrund wie fast alles an diesem Film, dessen Held keine Leben retten kann, weil er rund um die Uhr den Tod bekämpfen muss.

Paul Ehrlich, Julius Friedrich Cohnheim, Ferdinand Julius Cohn

Ein weltberühmter Forscher und Nobelpreisträger wird man als Einzelkämpfer ohne Netzwerk eher selten. Der echte Robert Koch hatte Förderer. Beim Blick in seinen Lebenslauf drängen sich zwei Namen auf: Cohn und Cohnheim. Koch schrieb einen Artikel über die Ergebnisse seiner Milzbrandforschungen und schickte ihn an den an der Universität Breslau lehrenden Botaniker und Bakteriologen Friedrich Cohn, der sehr beeindruckt war und den Kollegen einlud, seine Experimente an der Universität zur Diskussion zu stellen. Bei seinem mehrtägigen Aufenthalt an der Universität begegnete Koch auch Paul Ehrlich, damals Student des ebenfalls in Breslau unterrichtenden und den Kreisarzt aus Wollstein unterstützenden Pathologen Julius Cohnheim (Cohnheim war ein Pionier der Mikroskopie an lebenden Organismen). Ehrlich hatte sich bereits im Vorfeld bei Cohn für ihn eingesetzt. Koch und Ehrlich verband danach eine langjährige Arbeitsbeziehung und eine persönliche Freundschaft. Für die wissenschaftliche Karriere des Robert Koch waren diese Tage in Breslau (disputiert wurde vom 30. April bis zum 2. Mai 1876) äußerst wichtig. Der Film lässt sie weg.

Das kann man damit begründen, dass der 1884 geborene Jannings schon zu alt war, um einen damals 33-jährigen Koch zu verkörpern (er spielte dann einen maximal 39-jährigen Koch), mit der dramatischen Verdichtung, die ein Spielfilm notwendigerweise leisten muss und damit, dass es hier um den Erreger der Tuberkulose und nicht des Milzbrandes geht - oder man macht sich bewusst, dass das ein NS-Propagandafilm ist und kein in eine von der Kunst und nicht der Ideologie regierte Zeitlosigkeit entschwebter "Klassiker", obwohl er heute so vermarktet wird. Für Wissenschaftler jüdischer Herkunft war in der Propaganda schlicht kein Platz, und am wenigsten für solche, denen der Held zu Dank verpflichtet ist, weil sie ihn in einer frühen Phase seiner Karriere kollegial unterstützen. Die Filmemacher entschieden sich dafür, die Handlung irgendwann nach der Breslau-Episode und vor Kochs Berufung an das Kaiserliche Gesundheitsamt in Berlin im Jahre 1880 beginnen zu lassen.

Geboten wird eine "judenfrei" gemachte Version der Wissenschaftsgeschichte. Das erforderte der Rassenwahn der Nazis. Dabei fehlen nicht nur die jüdischen Kollegen von Robert Koch, sondern auch konkrete Angaben zur Chronologie. Man muss schon Kochs Vita studieren, um Rückschlüsse auf die Zeit der Handlung ziehen zu können. Bei einem Film, der sich die größtmögliche historische Genauigkeit zugute hält, ist das erstaunlich. Die Unbestimmtheit kommt mir vor wie eine kalkulierte Rückversicherung. Wer einen Spielfilm über eine Lichtgestalt der deutschen Forschung drehte und sich aus genrebedingten und ideologischen Gründen Freiheiten im Umgang mit dem überlieferten Wissen genehmigte, musste mit Kritik aus den Kreisen eben jener Wissenschaft rechnen, der man angeblich ein Denkmal setzen wollte. Einem Film, der in wesentlichen Teilen unkonkret bleibt, konkrete Versäumnisse oder Manipulationen nachzuweisen, ist zumindest schwierig.

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