Türkei: EU-Hilfe durch die Hintertür trotz Ausbau des islamistischen Unterdrückungsstaats

Bild: Marmira/CC BY-SA-4.0

In der EU mehren sich die Stimmen nach Einfrieren der Beitrittsverhandlungen mit Erdogans Türkei. Gleichzeitig soll die Zollunion erweitert werden

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Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan setzt seine Verhaftungswelle weiter fort. Unter dem Vorwand von Terrorismus und Putschbekämpfung wurden in den vergangenen drei Monaten bereits über 30.000 Richter, Staatsanwälte, Gewerkschafter, Oppositionspolitiker und Journalisten verhaftet. Eine ungeheure Gleichschaltung wird von seinem AKP-Regime unter dem Vorwand der Reaktion des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 auf die Schiene gesetzt. Zugleich laufen die Vorbereitungen für eine Verfassungsreform zur Absicherung der quasi-diktatorischen Vollmachten Erdogans, die er bereits jetzt mit der Verhängung des Ausnahmezustands innehat.

Jüngster Coup der Erdogan-Justiz war die Verhaftung von 103 Wissenschaftlern am Donnerstag. So verwundert es nicht, dass die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei in Deutschland stark ansteigt. Bis Oktober stellen im Jahr 2016 bereits 4.437 Flüchtlinge aus der Türkei einen Asylantrag, darunter sogar türkische Offiziere, die in den NATO-Strukturen in Deutschland tätig waren.

Währenddessen scheinen Bundesregierung wie auch die EU-Kommission auf ein "Weiter so" in den Beziehungen zur Türkei zu setzen. Man gibt sich besorgt in Teilen sogar alarmiert, allein zu Konsequenzen reicht es im Anschluss nicht. Diese Haltung bewegt sich in der Logik der Beziehungen zur Türkei der vergangenen Jahre. Auf immer weitere und gravierende Menschenrechtsverletzungen reagierten Bundesregierung und EU mit Öffnung neuer Beitrittskapitel und einer Intensivierung des Dialogs.

Doch inzwischen muss sich jedem gutwilligen Beobachter der Lage der Eindruck aufdrängen, dass diese Strategie völlig gescheitert ist - war sie denn jemals darauf gerichtet, die Menschenrechtslage in der Türkei zu verbessern. Angesichts dessen wäre es dennoch verfehlt Erleichterung zu zeigen, dass im Europäischen Parlament Liberale und Sozialdemokraten laut darüber nachdenken, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren. Eine Mehrheit dafür scheint möglich, allerdings hält gerade die EU-Kommission an ihren Kurs der Unterstützung Erdogans fest. Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Haltung der Liberalen als großer Schwindel. Es ist ein Täuschungsmanöver gegenüber der Bevölkerung, das im Übrigen auch vom künftigen deutschen Außenminister Martin Schulz (SPD) unterstützt wird. Denn gleichzeitig mit der Kritik an Erdogan setzen sich die Europaabgeordneten Alexander Graf Lambsdorff (FDP) und Schulz (SPD) für eine Erweiterung der EU-Zollunion mit der Türkei ein.

Der Entwurf der Erweiterung der Zollunion wird bereits Ende des Jahres dem Rat vorgelegt werden. Die Beratungen sollen dann zu Beginn des neuen Jahres anlaufen, wenn die Staats- und Regierungschefs das Verhandlungsmandat angenommen haben. Nach Artikel 218 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) erteilt der Rat eine Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen, legt Verhandlungsrichtlinien fest, genehmigt die Unterzeichnung und schließt die Übereinkünfte mit qualifizierter Mehrheit und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Bisher zeichnet sich eine Mehrheit dafür im Rat ab. Die große Koalition in Berlin wird für die Erweiterung der Zollunion mit Erdogan stimmen.

Dabei geht es der EU-Kommission, die den Entwurf für die Erweiterung der Zollunion verfasst hat, zum einen um deren Ausweitung auf Dienstleistungen, öffentliche Auftragsvergabe und landwirtschaftliche Produkte. Die Zollunion soll besser funktionieren und dafür effizienter ausgestaltet werden. Erdogans Türkei soll einen stärkeren institutionellen Einfluss auf die Zollunion bekommen.

Bereits Anfang 2015 hatte die EU-Kommission eine Folgenabschätzung vorgenommen und bis Juni 2016 eine Konsultation über die Zweckmäßigkeit einer Erweiterung der Zollunion durchgeführt.

Rettender Anker für Erdogan

In einem schwieriger werdenden Umfeld könnte für Erdogan die Erweiterung der Zollunion genau der rettende Anker sein. Nicht nur türkische Konzerne profitieren wirtschaftlich von diesen Maßnahmen, sondern Erdogan selbst wird politisch stabilisiert. Denn bei der Zollunion geht es keinesfalls um Peanuts.

Das Magazin "Capital" stellt im Hinblick auf wachsende wirtschaftliche Probleme in der Türkei durch Erdogans Verhaftungswellen fest: "Ein Ausbau der Zollunion mit der EU würde der Wirtschaft dagegen neuen Schub geben. Zu dem Ergebnis kommt jedenfalls eine Studie der Bertelmann-Stiftung. Kämen im Zuge einer Reform die Agrarwirtschaft und der Dienstleistungssektor hinzu, könnte das türkische BIP um ganze 1,8 Prozent zulegen. Ein Effekt steigender Exporte, die sich jeweils verdoppeln und vervierfachen dürften. Schon jetzt ist die EU mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Türkei, und umgekehrt ist die Türkei der sechstgrößte Handelspartner der EU."

Hilfe durch die Hintertür

Wer also Beitrittsverhandlungen stoppen, aber die Zollunion erweitern will, möchte suggerieren, dass er Erdogan ablehnt, während er ihn über die Hintertür unterstützt. Dies ist eine überaus beschämende und geradezu hinterhältige Haltung, die darauf hinausläuft, die Verbrechen Erdogans zu stützen, während man nach außen Window Dressing für Demokratie und Menschenrechte betreibt.

Wer noch Zweifel hegt wie Erdogans islamistischer Unterdrückungsstaat immer weiter ausgestaltet wird, muss sich nur einen jüngst von der türkischen Regierung vorgelegten Gesetzentwurf anschauen, der einen Straferlass für Sexualstraftäter vorsieht. Die türkische Nationalversammlung billigte am 17. November 2016 in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes, wonach die Verurteilung wegen sexueller Übergriffe gegen Minderjährige aufgehoben werden kann, wenn der Täter sein Opfer heiratet. Die Bedingung für die Straffreiheit lautet, dass die Tat ohne "Gewalt, Drohung oder jegliche andere Form von Zwang" erfolgt sein muss. Eine sexuelle Aggression ohne Zwang also, so die Fiktion der AKP.

Der Abgeordnete Özgür Özel von der oppositionellen sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) schrieb auf Twitter, die AKP habe einen Gesetzesentwurf durchgebracht, der Vergewaltiger von Kindern straffrei stelle. Straflosigkeit von Verbrechen ist das neue Gesicht der Türkei Erdogans.

Wer Kritik übt, kommt in Haft. Wer in Europa Leuten wie Erdogan auch nur den kleinen Finger reicht, unterschreibt seine eigene moralische Bankrotterklärung. Wir brauchen eine radikale Wende in der Türkeipolitik. Jegliche Unterstützung für Erdogan muss unterlassen werden - keine Waffen mehr, keine Beitrittsverhandlungen und erst recht keine Ausweitung der Zollunion.

Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE im Bundestag und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Im Westend-Verlag ist gerade ihr Buch "Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft" erschienen.

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