Orthorexia nervosa oder der Zwang, sich "gesund" zu ernähren

Im digitalen Zeitalter wird ausgerechnet die Wetware, der Körper, zur Obsession

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Alles, was mit Gesundheit und Lebensverlängerung zu tun hat, ist in unsren Zeiten zu einer großen Sorge geworden, um die sich viele geldwerte Interessen kümmern. Welche körperlichen Betätigungen sind wie oft und mit welcher Intensität auszuführen, um den Körper gesund zu erhalten und in die normierte Form zu bringen. Dazu kommen komplexe Entscheidungen, wie man sich ernähren soll. Schon länger wird vermutet, dass die Menschen darüber in Konflikte ähnlich wie Hypochonder oder Zwangsneurotiker geraten. Es gibt auch schon einen Begriff für die Essstörungen, die damit verbunden sind, sich möglichst gesund zu ernähren: Orthorexia nervosa.

Bild: Ralf Kabelitz/CC-BY-SA-3.0

Anerkannt ist diese Diagnose noch nicht, aber im herrschenden transhumanistischen Klima der Selbstoptimierung dürfte sie immer größere Bedeutung erhalten, schließlich richten sich Firmen, die Lebensmittel herstellen, immer mehr danach - zumindest in der Etikettierung ihrer Produkte. So werden Marmeladen heute gesondert nicht nur als öko, sondern auch als vegan und/oder laktose- oder glutenfrei beworben, als wäre früher in Marmelade Fleisch oder Milch enthalten gewesen. Tatsächlich finden Glaubenskämpfe um die gesunde Ernährung statt, Menschen kasteien sich zunehmend, obgleich gleichzeitig der Trend anhält, in Restaurants zu essen, Fertiggerichte zu konsumieren oder etwas edleres Fastfood zu sich zu nehmen.

Jedenfalls wachsen in den verschiedenen Ernährungssekten, die ihre Glaubenssätze mit mehr oder weniger guten wissenschaftlichen "Beweisen" unterlegen, die Vorschriften, was man wie zu sich nehmen darf und was nicht. Das hat nicht nur mit dem Verfolgen von Gesundheit zu tun, sondern es ist auch eingehüllt in moralische Verpflichtung. Denn wer sich falsch ernährt, sündigt gewissermaßen und trägt die Schuld an seinem Versagen, das sich auch an der Erscheinung des Körpers für alle zeigt. Im angeblichen Zeitalter der Immaterialität wird der Körper zur wesentlichen Instanz und zum Ausweis der richtigen Lebensführung, die auf Leistung beruht, aber der man auch durch schönheitschirurgische Maßnahmen nachhelfen kann, sofern sie einigermaßen unauffällig sind.

Die religiösen Gebote und Regeln gehen über in Selbstoptimierungsnormen, die sich vielfach auch messen und quantifizieren lassen. Während die Religion im Nebulösen verharrt, ist die säkulare Gesundheits- und Lebensverlängerungsideologie scheinbar empirisch begründet. Deswegen wird gemessen, es werden fortlaufend die Veränderungen überprüft, um zu sehen, welche Fortschritte man erzielt, man vergleicht sich mit anderen, kauft sich die entsprechenden Gadgets, um noch Genaueres zu erfahren, während Krankenversicherungen sich den Hang zur Quantifizierung allmählich zunutze machen, um daraus Normen abzuleiten, deren Einhaltung dann in Beitragssenkungen belohnt wird.

Geprägt wurde der Begriff Orthorexia nervosa 1997 von dem amerikanischen Mediziner Steven Bratman nach dem Vorbild der "Anorexia nervosa", der Magersucht, die mittlerweile in gemäßigter Form auch die Anhänger der gesunden Ernährung prägt, wenn sie keinen muskulösen Body haben oder zustande bringen. Ob es sich wirklich um eine Essstörung handelt, wie der Vergleich mit der Magersucht nahelegt, bei der ein dicker Körper vermieden werden soll, ist allerdings nicht so klar, dass das Streben nach gesundem Essen, das zu einem gesunden und langlebigen Körper führen soll, obsessiv werden kann, ist freilich keine Seltenheit. Bratman sagt, dem pathologischen Zwang zum gesunden Essen liege ein Hang zur rigiden Selbstdisziplinierung zugrunde, der einhergeht mit dem Gefühl der Überlegenheit über diejenigen, die Junkfood oder einfach das Falsche essen. Das hat etwas von religiöser Sonderstellung, also einer auserwählten Gruppe anzugehören, die sich durch bestimmte Verhaltensweisen und eben auch Körper zu erkennen gibt.

Letztes Jahr versuchte die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie die Orthorexia abzugrenzen von den Diätnormen, bei denen es nur um Kalorien geht, nicht aber um die "Zusammensetzung" des Essens. Aber auch die Beachtung der Kalorienzahl ist eine kaum für jeden pauschal objektivierbare Norm, bei der es ums gesundes Essen geht, beispielsweise nicht adipös zu werden (gerade erst wurde bekannt, dass die Dicken ein geringeres Demenzrisiko haben sollen, dafür aber ein erhöhtes für Diabetes und Herzkreislauferkrankungen). Jetzt freilich geht es nicht nur darum, nicht dick zu werden, sondern allgemein länger zu leben und Krankheiten aller Art zu vermeiden. Das ist aber nur eine Erweiterung der früheren Diäten: "Menschen mit Orthorexie sind vom gesunden Essen besessen", so Prof. Helmut Schatz für die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie. "Sie fühlen sich Pommes- oder Fertigpizza-Essern überlegen. Sie verzehren stattdessen Dinkelstangen aus dem Reformhaus, verachten Zusatzstoffe oder Fleisch ohne Bio-Siegel. Die 'richtige' Ernährung soll in ihren Augen Krankheiten vorbeugen."

Schatz schreibt, die von Orthorexie Betroffenen würden allgemein im Unterschied zu Personen mit Waschzwang nicht darunter leiden, es könne aber eine "zwanghafte Panik vor 'schädlichen Lebensmitteln' auftreten. Dann besteht die Gefahr, in eine therapiebedürftige Angststörung abzugleiten." Betroffen seien vermutlich nur ein Prozent der Bevölkerung. Wenn Zwänge in bestimmten Schichten allgemein werden, dann fallen nur wirkliche Extreme auf. Das dürfte heutzutage beim "gesunden Essen" der Fall sein, die Obsession dürfte weit mehr als ein Prozent betreffen, sie wird auch zum Marktsegment für den Handel und für Restaurants, für Medizinmänner, Lebensberater und Medien allemal.

Müssen Lebensmittel roh verzehrt werden? Wie dürfen sie erhitzt werden? Müssen sie "biologisch" angebaut worden sein? Ist Fleisch verwerflich, ist Gluten schädlich, darf Milch zu sich genommen werden, aber wie ist es mit Salz oder Zucker? Muss ein "grüner Smoothie" täglich wie eine Medizin eingenommen werden? Sind manche Lebensmittel toxisch? Sind Kohlehydrate oder Weißmehl schlecht, besonders abends? Und ist es gesund, möglichst viel tierisches Eiweiß zu essen? Oder ist vegan das Heilmittel? Muss man essen, wie die Menschen in der Steinzeit (paleo)? Soll man "clean" essen, also möglich unverarbeitete Lebensmittel? Ist Kultur böse für den Körper?

Problematisch wird es wohl, wenn moralische Zwänge entstehen, auch am Abend mal ein Weizenbrot zu essen oder lieber Zuhause zu essen, weil man alleine hier alles kontrollieren kann, was man zu sich nimmt. Nach einer italienischen Studie könnten schon bald 60 Prozent am Zwang zum gesunden Essen leiden. Nach dem "Bradman-Test" könnte man an Orthorexie leiden, wenn man 4-5 der Fragen zustimmt:

  • Do you spend more than 3 hours a day thinking about your diet?
  • Do you plan your meals several days ahead?
  • Is the nutritional value of your meal more important than the pleasure of eating it?
  • Has the quality of your life decreased as the quality of your diet has increased?
  • Have you become stricter with yourself lately?
  • Does your self-esteem get a boost from eating healthily?
  • Have you given up foods you used to enjoy in order to eat the ‘right’ foods
  • Does your diet make it difficult for you to eat out, distancing you from family and friends?
  • Do you feel guilty when you stray from your diet?
  • Do you feel at peace with yourself and in total control when you eat healthily?

Oder es gibt den von L.M. Donini entwickelten Ortho-15-Test. Die Fragen müssen mit immer, manchmal, selten, niemals beantwortet werden:

  1. When eating, do you pay attention to the calories of the food?
  2. When you go in a food shop do you feel confused?
  3. In the last 3 months, did the thought of food worry you?
  4. Are your eating choices conditioned by your worry about your health status?
  5. Is the taste of food more important than the quality when you evaluate food?
  6. Are you willing to spend more money to have healthier food?
  7. Does the thought about food worry you for more than three hours a day?
  8. Do you allow yourself any eating transgressions ?
  9. Do you think your mood affects your eating behavior?
  10. Do you think that the conviction to eat only healthy food increases self-esteem?
  11. Do you think that eating healthy food changes your life-style (frequency of eating out, friends, …)?
  12. Do you think that consuming healthy food may improve your appearance?
  13. Do you feel guilty when transgressing ?
  14. Do you think that on the market there is also unhealthy food?
  15. At present, are you alone when having meals

Man dürfte, wenn man sich nicht selbst erwischt, genügend viele andere anhand der Tests diagnostizieren. Allerdings ist auch der Versuch, das Essverhalten zu pathologisieren bzw. zu normieren, bereits ein Ausdruck des vorherrschenden Drucks, ein "richtiges" oder "gesundes" Verhalten durchzusetzen und die Regelungsdichte zu erhöhen. Zudem ist ein langes gesundes Leben vielleicht ganz gut quantifizierbar, aber ein glückliches Leben könnte auch mit weniger zufrieden sein.