Aderlass für die türkischen Streitkräfte könnte Erdogan gefährden

Screenshot aus einem YouTube-Werbefilm für türkische Spezialeinheiten.

Massenentlassungen auch im Militär haben zu Lücken geführt, schnell sollen 25000 Stellen vor allem bei Spezialeinheiten neu besetzt werden

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Gerade hat der türkische Präsident Erdogan wieder 15000 Staatsangestellte entlassen, neben Richtern auch Polizisten und Soldaten. Wieder wurden auch Zeitungen und Organisationen geschlossen. Der Vorwurf: "Kontakt mit Terrororganisationen, -gruppen oder -strukturen, die gegen die türkische nationale Sicherheit handeln".

Insgesamt wurden mehr als 92.000 Menschen entlassen, so das Justizministerium, nach anderen Angaben sind es mehr als 110.000. Im Innenministerium alleine sind es fast 22.000, sagte der Innenminister.

Die Reinigung der türkischen Gesellschaft von allen, die nur den Anschein erwecken, gegen die AKP-Herrschaft zu sein, hat zwanghafte Züge angenommen. Kaum vorstellbar, dass die Entlassungs- und Verbotswelle schnell aufhören wird. Ist die Paranoia einmal zur Staatsraison geworden grassiert das Misstrauen oder die Verdachtskultur, was auch die Unsicherheit erhöht. Ziemlich wahrscheinlich ist, dass Erdogan, der weiterhin mit aller Macht seine Macht als Präsident seinem schon zuvor fertiggestellten gigantischen Sultanspalast anpassen will, irgendwann über diesen exzessiven Regime Change selbst zu Sturz kommen wird.

Die Entlassungs- und Verhaftungswelle führt schon zu schwerwiegenden Personallücken auch in jenen Behörden, auf die sich Erdogan bei seinem inneren und äußeren Krieg stützen muss: der Polizei, den Sonderheiten und dem Militär. Gesucht werden, berichtet Al-Monitor.com, alleine beim Militär fast 25.000 Menschen, auch Theologen können nun Offiziere werden.

Screenshot aus einem YouTube-Werbefilm für türkische Spezialeinheiten.

Die türkische Armee (TSK) beschäftigt normalerweise 39.000 Offiziere und 97.000 Unteroffiziere, darunter auch das Personal von Küstenwache und Gendarmerie. Am 17. November gab Verteidigungsminister Fikri Isik bekannt, dass mehr als 20.000 Soldaten entlassen worden seien. Sie werden beschuldigt, mit der Gülen-Bewegung, die von der Regierung als Terrororganisation FETÖ bezeichnet wird, zusammengearbeitet oder nicht ihre Pflicht ausgeübt haben, gegen den Putschversuch vorzugehen. Um die 3000 sollen festgenommen worden sein. Eine Quelle aus dem Militär sagte gegenüber Al-Monitor.com, das sei "nur die Spitze des Eisbergs".

Nach dem früheren Militärstaatsanwalt Ahmet Zeki Ucok sind bei weitem noch nicht alle Gülen-Anhänger aus der Armee entfernt worden. Gegenüber anderen Ministerien hinke das Verteidigungsministerium hinterher. "Nach den Anklagen sind 80 Prozent der Kadetten an den Militärschulen in den letzten 10 Jahren Gülen-orientiert gewesen. Das bedeutet, dass von den 5000 Kadetten, die jedes Jahr ihren Dienst antreten, mindestens 4000 für die Gülenbewebung arbeiten", sagte er. Trotz der Massenentlassungen seien nach ihm noch 20.000 Offiziere und 50.000 Soldaten in den Streitkräften beschäftigt, die sich mit der Gülen-Bewegung verbunden sind. Da gäbe es also noch viel aufzuräumen, während die Streitkräfte dann aber kaum mehr im Südosten des Landes sowie im Irak und Syrien einsatzfähig wären, wo Erdogan militärisch intervenieren lässt.

Mit Stellenausschreibungen sucht das Militär nach 1400 Offizieren, 3600 Soldaten sowie 7159 Unteroffizieren und fast 12000 Soldaten für die Spezialeinheiten. Erstmals werden jetzt aber auch Zivilisten für diese Einheiten angenommen. Bei letzteren gibt es offenbar viele Bewerbungen, zuvor wurden nur Soldaten übernommen, die sich bereits bewährt hatten. Die Spezialeinheiten dürften für die militärischen Einsätze dringend gebraucht werden, die Erdogan forciert. Geschlossene Schulen wurden wieder geöffnet, um 3500 Studenten aus Universitäten zu übernehmen. Selbst Abgänger von theologischen Hochschulen können sich für Offiziersposten bewerben, was zeigt, dass der Bedarf hoch ist.