Tepco ist das Ende der Marktwirtschaft

In den meisten Wirtschaftsbereichen liegen unkalkulierbare Risiken für die Gemeinschaft, deren Folgen die Unternehmen wirtschaftlich weder tragen können noch wollen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bis zum Ende der DDR 1990 schien es, als ob eine sozialistische Planwirtschaft die größte Bedrohung für die Marktwirtschaft sei. Die meistem Volkswirte glauben das heute noch. Aber nun gibt es Neuigkeiten: Ein im Gegensatz zu Google bisher weitgehend unbekanntes Unternehmen mit dem Name Tepco bringt es fertig, die gesamte Marktwirtschaft weltweit derart anzugreifen, dass diese fallen könnte wie einst die Sowjetunion 1985.

Die Tokio Electric Power Company veröffentlichte im September 2010 ihren Bericht Vision 2020 (Link auf ./34443_1.pdf). Ein Manifest von Nachhaltigkeit, CO²-Einsparung und sozialer Verantwortung. Mit Erfolg: Am 29. September 2010 konnte Tepco neues Kapital in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar lukrieren. Verwendungszweck laut Börsenprospekt: "Bau von emissionsfreien Atomkraftwerken."

Am 13. September 2010 nahm der Dow Jones Sustainabilty Index erstmals eine Reihe von Atomanbietern auf. Tepco hatte zu diesem Zeitpunkt längst seinen Platz im FTSE4Good Index gefunden – wegen vorbildlicher sozialer Verantwortung. Die Tepco-Aktie (WKN 854307) ist seit dem bisher als "Unfall" verharmlosten, größten wirtschaftlichen Schaden in der Geschichte der Kernkraft von 18 Euro auf 7 Euro gesunken.

Während offizielle Schätzungen der japanischen Regierung den Gesamtschaden von Erdbeben und Tsunami mit 200-300 Milliarden Dollar beziffern, könnte der durch Tepco verursachte Schaden ein Vielfaches betragen: Wenn der zweitgrößte Industriestaat der Welt keine Automobile mehr exportiert, seine Immobilienpreise einbrechen und ausländische Firmen und Staaten ihre Vertreter evakuieren sowie Frachter nicht mehr den Hafen von Tokio anlaufen, dann ist eine Billion, dann sind aber auch 2, 3 oder 4 Billionen Dollar schnell erreicht.

Die Tepco, die bereits 2007 und 2008 Verluste schrieb, wird nicht einen Bruchteil der Schäden begleichen können. Damit wird eine für viele unerträgliche Wahrheit deutlich: Der Markt, die Märkte und ihre "Marktteilnehmer" sind nicht im Entferntesten in der Lage, ein so komplexes Thema wie "Energie" mit dem Paradigma der Gewinnaussicht zu behandeln.

Tepco hat völlig veraltete, nie kontrollierte Reaktoren betrieben wie Madoff seinen Fonds: In der Hoffnung, niemand würde es merken. Der neu ernannte Vorsitzende der Ethikkommission der Bundesregierung, Klaus Töpfer, wagt es, bereits vor Beginn der Arbeit der Kommission folgende Aussage zu machen:

Wir sollten aus einer Technik, bei der Ereignisse nicht ausgeschlossen werden können, die nicht beherrschbar sind, so schnell wie möglich rausgehen. Ein anderes Handeln wäre nicht verantwortlich.

Klaus Töpfer

Das heißt: Energie kann nicht mehr einem fiktiven "Energiemarkt" überlassen werden. Wie dann aber Rohstoffe, Lebensmittel, Wasser, Währungen, Kredite, Verkehr, Medikamente, Chemieprodukte und Telekommunikation? In den meisten Wirtschaftsbereichen liegen unkalkulierbare Risiken für die Gemeinschaft, deren Folgen die Unternehmen wirtschaftlich weder tragen können noch wollen. Die Opportunitätskosten können – etwa im desaströsen öffentlichen Nahverkehr – sogar die Umsätze der Unternehmen übersteigen.

Werfen wir einen Blick auf die DAX-30-Unternehmen: Wie viele von ihnen bewegen sich in einem Terrain, das man ohne Risiko für die Allgemeinheit privaten Gewinninteressen anvertrauen kann, darf und soll? Außer Turnschuhen und Sportmode (adidas) sowie Unternehmenssoftware (SAP) gibt es bei strengerer Betrachtung kein DAX-Unternehmen, von dem man annehmen kann, dass dessen Wettbewerbsteilnahme ohne ausschließbare, größere Schäden für das Gemeinwesen verlaufen kann.

Das ist eine schlechte Nachricht für die meist ausländischen Anleger, die bisher in dem religiösen Glauben lebten, ihre Gewinne seien durch "günstige Rahmenbedingungen" wie niedrige Steuern, keine Konkurrenz, niedrige Löhne und fehlende Überwachungen dauerhaft garantiert.

Tepco hat den Glauben an die Marktwirtschaft mehr und schneller ruiniert als Tausende von Globalisierungskritikern und Umweltaktivisten. Wenn es künftig noch so etwas wie Marktwirtschaft geben soll, wird sie sich auf die Lebensbereiche beschränken müssen, in denen Marktteilnehmer nicht ganze Staaten ruinieren können. Damit wird der Markt wieder zum Marktplatz zurückkehren. Im föderalen Deutschland sollte das kein Problem sein.

Dr. Alexander Dill ist nach 20 Jahren in der Wirtschaft wieder in seinen gelernten Beruf als Sozialforscher zurückgekehrt. Seit Februar 2010 ist er Vorstand des nach der Finanzkrise gegründeten Basel Institute of Commons and Economics.