"Geschlecht ist nichts anderes als andauernde prozesshafte Konstruktion"

Paula-Irene Villa über Gender Studies. Teil 2

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Für die einen hinterfragen die Gender Studies den naturgegebenen Charakter scheinbar natürlich gegebener Kategorien wie Geschlecht und sind somit unabdingbarer Bestandteil wissenschaftlichen Forschens. Für die anderen sind sie eine akademische Mode und poststrukturalistisches Larifari. Telepolis hat bei der Soziologin Paula-Irene Villa nachgefragt ("Wer hat die Grenzziehung zwischen Männern und Frauen wie gemacht?"). Teil 2 des Gesprächs.

Welches sind die wichtigsten wissenschaftlichen Resultate der Gender Studies?

Paula-Irene Villa: Ich würde zunächst mal kontraintuitiv sagen, eine der ganz wichtigen Einsichten ist, dass es Geschlecht so nicht gibt. Das meint zum einen, dass wir immer nicht genau wissen können, was eigentlich Geschlecht jeweils heißt. In einer raum-zeitlich-spezifischen Konstellation kann das vieles Verschiedenes bedeuten, und insofern sollte man nie zu sicher sein, dass man zuvor immer schon weiß, was Geschlecht heißt. Zumal, wenn man gute Wissenschaft machen will, man ja mit der doxa des Alltags brechen und noch unsicherer werden muss, mit dem, was Leute eigentlich meinen, wenn sie meinen zu wissen, was Geschlecht ist. Das ist eine wichtige Einsicht.

Ich würde es da durchaus mit Derrida halten: Geschlecht ist eine metaphysische Präsenz, so eine Chiffre, von der alle immer meinen, sie wüssten, was das heißt, ohne das wirklich präzisieren zu müssen oder zu können. Dass das konstruiert ist, ist eine wichtige Einsicht. Geschlecht ist nichts anderes als andauernde prozesshafte Konstruktion - innerhalb konstitutierender Verhältnisse. Dabei haben wird es nicht nur mit Geschlecht allein oder "an sich" zu tun, sondern dies ist immer vermischt mit Klasse, Race, Begehren, Alter etcetera.

Manche arbeiten hier mit bis zu vierzehn Kategorien, manchen reichen die zentralen drei: Class, race und gender. Dass es Geschlecht so nicht gibt, dass diese Kategorie nie alleine daherkommt, sind also ganz wichtige Einsichten, wie auch, dass Geschlecht im Alltag omnipräsent ist und auf allen Stufen und in allen Bereichen des Gesellschaftlichen irgendwie eine Rolle spielt.

Es muss nicht immer die beherrschende, dramatische, alles übertünchende Rolle spielen, oft ist es eine Dimension neben anderen. Und auch wenn mir andere vielleicht widersprechen, würde ich noch eine weitere wichtige Einsicht hinzufügen: Man kann vom Geschlecht in der sozialen Wirklichkeit nicht absehen. Es ist unmöglich zu handeln, Praxis zu betreiben und gesellschaftlich wahrzunehmen, ohne Geschlecht mit wahrzunehmen. Was aber dies heißt, ist ausgesprochen variabel.

"Es ist nicht so, dass es etwas ganz klar von der Natur aus gibt und dann macht die Gesellschaft etwas daraus"

Habe ich Sie hier richtig begriffen: Die These, dass es Geschlecht nicht gibt, ist die Forschungsperspektive, es ginge also nicht darum zu zeigen, wie dieses "Nicht" ontologisch aussieht...

Paula-Irene Villa: Doch, doch. Es ist beides. Es gibt auf der einen Stufe die von Ihnen gerade bezeichnete Forschungsperspektive. Ich nehme hier das Beispiel männliche Erzieher. Es gibt ja die politische Kampagne, dass mehr Männer in die Kitas sollen. Aber was meinen die Leute mit "männlichen Erziehern"? Erst einmal geht man davon aus, dass es sich eben um männliche Erzieher handelt, basta. Aber wenn man dann mit den Eltern, den Erziehern, Kolleginnen und Kindern spricht, stellt man auf einmal fest, dass es dabei ziemlich viele Facetten gibt: Die einen meinen, einen männlichen Erzieher kann es gar nicht geben, denn ein männlicher Erzieher ist schwul, pervers oder pädophil, also auf alle Fälle kein richtiger Mann.

Die anderen sind froh, dass es endlich einen Hausmeister auf diesem Posten gibt, der endlich einmal die Glühbirnen reparieren kann. Und die anderen wiederum sagen, wir brauchen "endlich" männliche Vorbilder. Und die Kinder sagen: "hä? Mir doch egal. Hauptsache, der ist cool oder nett oder lustig oder....". Die Forschungsperspektive fragt, sie weiß es nicht schon vorher.

Das passiert auch in den oben schon erwähnten naturwissenschaftlich verorteten Gender Studies, zum Beispiel nimmt Cordelia Fine akribisch unter die Lupe, was die Neurowissenschaften zu Geschlecht sagt, und Heinz-Jürgen Voß - ein Biologe und Sozialwissenschaftler - befasst sich mit den aktuellen medizinischen und biologischen Einsichten zur Geschlechterdifferenz. Beide stellen fest, dass das alles gar nicht so klar ist. Es ist nicht so, dass es etwas ganz klar von der Natur aus gibt und dann macht die Gesellschaft etwas daraus. Das wäre die alte Sex/Gender-Unterscheidung, Sex als das biologische und Gender als das soziale. Diese Position ist in der Geschlechterforschung weitgehend musealisiert, weil sie große empirische und erkenntnistheoretische Probleme mit sich bringt. Sie beruht nämlich darauf, dass wir klar zwischen "Natur" einerseits und "Kultur" oder "Gesellschaft" andererseits unterscheiden könnten.

Empirisch ist das ein Problem, weil wenn wir vorher schon zu wissen meinen, was beziehungsweise wer zum Beispiel männlich oder weiblich ist, wir die Offenheit verlieren, uns die Wirklichkeit - etwa die Praxis - möglichst vorurteilsfrei anzuschauen. Es gibt also schon Auseinandersetzungen mit Natur und Naturwissenschaften, allerdings nicht um sie zu diskreditieren, sondern um von den verschiedenen biologischen Disziplinen wie Neurowissenschaften, Genetik, Evolutionsbiologie etcetera zu lernen, dass diese Zusammenhänge so klar nicht sind.

"Die Thematisierung von gender muss mit dem Alltagsverständnis brechen"

Inwieweit sind solche Resultate für andere wissenschaftliche Disziplinen schon wichtig geworden?

Paula-Irene Villa: Außer vielleicht der Mathematik gibt es ganz wenige Bereiche, in denen sich gute Wissenschaft machen lässt, ohne irgendwie das Geschlecht zu berücksichtigen. Ich meine hier nicht so sehr die politische Dimension im Sinne eines "Mehr Frauen in die Physik", sondern als Forschungsperspektive, als Teil von knowledge.

Das kann so etwas wie Wissenschaftsgeschichte sein, zum Beispiel die kritische Rekonstruktion von geschlechtlichen Deutungen, die zu "objektivem" Wissen werden. So etwa die lange übliche Beschreibung der "trägen, passiven, abwartenden, wertvollen" Eizelle und des "agilen, ehrgeizigen, konkurrenzfähigen" Spermas - das sind Geschlechterkonstruktionen, die im biologischen Fachwissen eingeschrieben sind oder waren. Solcherlei gibt es vieles in den Naturwissenschaften.

Oder nehmen Sie die Philosophie: Hat die Vernunft ein Geschlecht? Was mein genau "Konstruktion" oder "Ontologie" in Bezug auf Geschlecht? Inwiefern spielt die Geschlechterdifferenz in der Ehtik eine Rolle? Und so weiter. Zugleich ist es schwierig an verschiedenen Fachdisziplinen anzuknüpfen, weil die Thematisierung von Gender so sehr mit dem Alltagsverständnis auch der Forschung brechen muss. Dies ist immer noch ein so wenig etabliertes Forschungsthema, dass viele etablierte Disziplinen auf Abstand gehen. Die Kategorie Gender bewegt sich auch bei gestanden Kollegen oft nach wie vor im Bereich des Alltagswissens im Sinne eines "Ich habe doch eine Frau und meine Tochter, also weiß ich, was Geschlecht ist". Das ist in etwa so, als wenn Sie behaupten würden, in Physik richtig Bescheid zu wissen, weil bei Ihnen in der Küche die Krümel zu Boden fallen.

Grundsätzlich denke ich, dass alle Disziplinen von den Gender Studies lernen können, was es heißt, reflexiv mit der eigenen selbstverständlichen Welt umzugehen und diese zu hinterfragen. Zugleich zehren ja die Gender Studies, wie ich mehrfach sagte, von den verschiedenen etablierten Disziplinen hinsichtlich der Methoden, Fragestellungen usw. Die Gender Studies liegen gewissermaßen quer zu den etablierten Disziplinen.

Faktisch existieren hier und heute verschiedene Institutionalisierungsgrade in Bezug auf die Gender Studies: Die Soziologie ist eine Disziplin, die sich mit Geschlecht als Kategorie und Forschungsperspektive überhaupt nicht mehr schwer tut. Bei anderen Fächer ist dem überhaupt nicht so, etwa in Philosophie oder Politikwissenschaft. Außerdem haben es die Gender Studies, wie alle anderen studies - postcolonial studies, cultural studies, space studies - in Deutschland sehr schwer. Hier existiert im Vergleich zum angloamerikanischen Raum eine bemerkenswerte Institutionalisierungsträgheit in den herkömmlichen Disziplinen. Aber in vielen Disziplinen wie in den Philologien, der Pädagogik, den Kulturwissenschaften ist das Verhältnis wiederum recht undramatisch.