Schlafende Hunde

Nachdem Israels Armee drei ehemalige Siedlungen im nördlichen Gazastreifen wieder besetzt hat, glaubt die Rechte, ihre Stunde sei gekommen

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In den vergangenen Tagen eskalierte die Lage im Gazastreifen: Nachdem am Dienstag in der nördlich des Landstrichs gelegenen Hafenstadt Aschkelon eine Kassam-Rakete eingeschlagen war, hatte das israelische Sicherheitskabinett, ein aus neun Ministern und dem Premierminister bestehen der innerer Kreis der Regierung, eine Ausweitung von "Operation Sommerregen" beschlossen: Der Artilleriebeschuss von Gebieten, von denen aus palästinensische Extremisten die Raketen abgeschossen hatten, wurde verstärkt; Kampfhubschrauber feuerten erneut auf das Gebäude des Innenministerium in Gaza. Außerdem wurden wieder Gebäude angegriffen, die von der Armee den Fatah-nahen al Aksa-Brigaden und den der radikalislamischen Hamas nahe stehenden Essedin al Kassam-Brigaden zugerechnet werden. In der Nacht zum Donnerstag begann dann die Nordoffensive, deren Beginn eigentlich für Donnerstag vergangener Woche geplant gewesen war: Truppen besetzten die Ruinen von drei ehemaligen jüdischen Siedlungen im nördlichen Gazastreifen und weckten bei deren ehemaligen Bewohnern und ihren Unterstützern Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr. Mittlerweile sind auch die ersten Todesopfer zu beklagen: Bei Feuergefechten, gezielten Tötungen und Artilleriebeschuss kamen bis zum Nachmittag 16 Palästinenser ums Leben, sieben davon allein bei einem Granateneinschlag am Donnerstagnachmittag. Am Abend hat Saeed Seyam, der palästinensische Innenminister, daraufhin den Notstand ausgerufen und den Sicherheitskräften im Gazastreifen befohlen, gegen die israelischen Truppen zu kämpfen.

Dass in dieser Nacht etwas passieren würde, war zu sehen, lange bevor jemand etwas sagte: Tagelang hatten sich Journalisten in den Aufmarschgebieten an der Grenze zum Gazastreifen relativ frei bewegen können. Soldaten und Offiziere hatten gerne und viel mit den Korrespondenten gesprochen, ohne dass jemand eingeschritten wäre - sie wussten ja ohnehin nichts. Nicht, wann es weiter gehen sollte. Und nicht, was eigentlich ihr Auftrag war. "Was ich weiß, habe ich aus der Zeitung", hatte ein Feldwebel noch am späten Mittwochnachmittag gescherzt und darauf verwiesen, dass er ja im Moment viel Zeit zum Zeitung lesen habe: Seit am Sonntag vor einer Woche der 19-jährige Unteroffizier Gilad Schalit von seinem Posten auf israelischem Gebiet in den Gazastreifen entführt worden war, hatten die Truppen auf einer riesigen, öden Freifläche fernab von der nächsten menschlichen Behausung daran gearbeitet, ihre taktischen Fähigkeiten im Stiefelweitwurf zu verbessern, und hielten sich mit improvisierten Karaoke-Wettbewerben bei Laune. Immer wieder war in den vergangenen Tagen zu hören gewesen, dass man eigentlich nicht an den Beginn der sogenannten Nord-Offensive glaube, also den Einmarsch in den nördlichen Teil des Gazastreifens: "Was soll denn das bringen", hatte ein junger Wehrpflichtiger am Dienstag Abend gefragt: "Ich glaube nicht, dass die da oben wollen, dass wir am Ende wieder Jahre lang im Gazastreifen sitzen."

Doch am Mittwochabend wurde mit einem Schlag alles anders: Plötzlich waren die Journalisten von Aufpassern umgeben, die unauffällig jeden Schritt beobachteten, jedes Wort zur Kenntnis nahmen und dabei freundlich lächelten. Die Soldaten waren von einer Minute wortkarg, wirkten gespannt: "Das ist nicht einfach; man weiß ja nicht, ob man wieder zurückkommt", murmelte einer von ihnen, bevor er von einer Dame mit dem Abzeichen des Pressekorps freundlich aber bestimmt zurecht gewiesen wurde: "Wir sollten uns jetzt auf unsere Aufgaben konzentrieren", sagte sie zum Soldaten und dann zum Journalisten gewandt: "Nach so langem Warten wäre wohl jeder zermürbt, zumal wir nicht wissen, wie lange das noch so weiter geht."

Sie sagte die Unwahrheit: Nachts um kurz nach zwei heulte eine Sirene auf, die Funkgeräte begannen zu knacken. Weniger als eine Stunde später bewegte sich ein langer Konvoi aus schwerem Gerät und Lastwagen in den Gazastreifen hinein: Die Nord-Offensive hatte begonnen. Und die Diplomatie ihr Ende gefunden.

Am kommenden Morgen wachten Israelis und Palästinenser in einer neuen, alten Realität auf. Die Armee hatte in der Nacht die Ruinen von drei der 21 jüdischen Siedlungen besetzt, die vor zehn Monaten im Gazastreifen (Abschlussparty) geräumt worden waren und damit auf der Seite der Palästinenser schlimme Befürchtungen und bei rechten Israelis große Hoffnungen geweckt: Dass Israelis bald wieder auf dem Gebiet des Gazastreifens leben könnten.

Rechte Gruppen und ehemalige Siedler machen sich für neue Siedlungsprojekte stark

Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen, als rechtsextreme israelische Gruppen und Siedlervertreter eine improvisierte PR-Kampagne starteten, die das Ziel hat, der Öffentlichkeit klar zum machen, dass Siedlungen im Gazastreifen richtig und wichtig für die Sicherheit des Staates sind: Mit einer Mischung aus Emotionen und Argumenten versuchen sie an die Herzen und Köpfe der Menschen zu appellieren und so den Druck auf die Regierung zu verstärken, einem neuen Siedlungsprojekt zuzustimmen.

So verwies Avi Farhan, ein Siedler der ersten Stunde, in einem Interview mit dem staatlichen Rundfunk auf die strategischen Vorzüge von Siedlungen im nördlichen Gazastreifen: "Die Leute müssen verstehen, dass das Gebiet der Siedlungen im Norden bis 1967 unter der Kontrolle der Vereinten Nationen stand. Sie befanden sich auf einer Hügelkette, die wie ein natürlicher Puffer zwischen Gaza und der Region um Aschkelon wirkt. Nordöstlich gibt es derweil eine Hügelkette, die als Puffer zwischen Beit Chanun und Sderot genutzt werden kann", sagte er und fügte hinzu: "Ich fühle mich beschämt: Die Regierung hat versprochen, dass der Abzug der Sicherheit des Staates nützen würde, aber es war alles eine große Lüge."

Pnina Ganit, ebenfalls eine Ex-Siedlerin, gab sich im Fernsehsender Kanal 10 äußerst emotional:

90 Prozent von uns haben bis heute keine Wohnungen, keine Arbeit gefunden", behauptete sie und vergaß zu erwähnen, dass viele der im vergangenen Jahr evakuierten Siedler diese Situation künstlich verlängern, indem sie nicht mit der Räumungsbehörde SELA kooperieren: "Ich habe das Gefühl, dass die Israelis nicht mehr mein Volk sind. Sie haben verlernt zu kämpfen: Sderot wird mit Kassam-Raketen beschossen und in Tel Aviv kümmert sich niemand darum. Heute morgen saß ich mit meinem Mann und meinen sechs Kindern beim Frühstück und habe gefragt, ob sie gerne zurückgehen möchten. Und meine Kinder sind voller Freude aufgesprungen, und haben gerufen: "Wir kehren zurück".

So tauchten im Laufe des Tages die ersten Listen mit den Namen von ehemaligen Gazasiedlern auf, die ihre Bereitschaft erklärt hatten zurückzugehen. Während sich der Jescha-Rat, die einst einflussreiche zentrale Siedlerorganisation, zunächst über derlei Vorhaben ausschwieg, überlegte Baruch Marzel, Vorsitzender der ultra-rechtsradikalen Jüdischen Nationalfront, laut, wie die israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens auch gegen den Widerstand der Regierung umzusetzen:

Diesmal werden wir nicht klein beigeben. Die Regierung hat den Staat aufgegeben. Sie ist gefährlich für die Sicherheit eines jeden Israeli. Deshalb müssen die Menschen ihr Schicksal selber in die Hand nehmen und das tun, was für unser Land das Richtige ist. Ich rufe jeden dazu auf, den Wiederaufbau der zerstörten Heimat im Norden des Gazastreifens mit allen Mitteln zu unterstützen.

Schützenhilfe bekommen die Freunde des Siedlungswiederaufbaus auch von anderer Seite: Die Siedlungsräumungen seien von Anfang bis Ende ein "riesiger Fehler" gewesen, sagte der ehemalige Generalstabschef Mosche Ya'alon der hebräischen Ausgabe der Zeitung Jedioth Ahronoth:

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Räumung des Gazastreifens ihr Ziel verfehlt hat. Sie wurde von Leuten ohne militärische und strategische Erfahrung geplant und hat den Palästinensern das Gefühl gegeben, dass Israel geschlagen werden kann. Dass hat dem palästinensischen Kampf Antriebskraft für Jahre gegeben. Wer im Nahen Osten Schwäche zeigt, ist wie ein Tier in der Natur: Er wird angegriffen.

Ya'alon könnte aber auch persönliche Motive für derlei Äußerungen haben: Er hatte sich im Frühjahr vergangenen Jahres mit dem damaligen Regierungschef Ariel Scharon überworfen; kurz darauf war seine Amtszeit nicht, wie sonst üblich, um ein Jahr verlängert worden.

Der ehemalige Brigade-General Rafi Noy erklärte derselben Zeitung, er halte eine Sicherheitszone für nicht sinnvoll, auch wenn er die Operation für "moralisch gerechtfertigt" halte. Noy, der von 1991 bis 1995 das Kommando Nord und damit die israelischen Truppen im Süd-Libanon (Nicht Normal) befehligte, sagte, dass eine Sicherheitszone im Gazastreifen anders im Libanon nur eineinhalb bis zwei Kilometer breit sein könne: "Das aber ist nicht genug, um den Raketenbeschuss zu verhindern."

Er war es gewesen, der am Ende den Ausschlag für den Beginn der Nord-Offensive gegeben hatte, nachdem sie eine Woche lang verschoben worden war, um der ägyptischen Regierung mehr Zeit zu geben, mit den Entführern Gilad Schalits zu verhandeln. Doch nachdem am Dienstag eine der Kassam-Raketen 13 Kilometer weit vom Gazastreifen entfernt im Zentrum der Hafenstadt Aschkelon eingeschlagen war, damit einen neuen Rekord aufgestellt und der Sorge Nahrung gegeben hatte, dass dies künftig öfter der Fall sein könnte, hatte das Sicherheitskabinett am Mittwoch die Ausweitung der Operation beschlossen. Auch die Vermittlungsversuche Kairos waren kaum noch Anreiz für ein weiteres Stillhalten gewesen: Am Dienstagmorgen war ein Ultimatum der Entführer zwar folgenlos verstrichen und die Kidnapper hatten sich nach einigem Zögern sogar dazu bereit erklärt, den Kontakt mit den Kidnappern weiterhin aufrecht zu halten. Doch auch die ägyptische Regierung musste eingestehen, dass es sich dabei um kaum mehr handele, als um den Versuch, eine Verbindung aufrecht zu erhalten: "In der Isolation kämen die Entführer möglicherweise auf dumme Gedanken", hatte ein Mitarbeiter der ägyptischen Botschaft in Gaza-Stadt am Mittwoch gesagt: "Auf diese Weise können wir wenigstens einen mäßigenden Einfluss haben und Nachrichten übermitteln."

Die Menschen im Gazastreifen wünschen sich ein baldiges Ende des Konflikts

Auch die palästinensische Regierung bemüht sich im Moment nach Leibeskräften, die Entführer, die drei Hamas-nahen Gruppen angehören, zur Mäßigung anzuhalten. Regierungschef Ismail Haniyeh rief in den vergangenen Tagen mehrmals dazu auf, den Soldaten nicht zu töten und die Forderungen herunter zu schrauben. Außerdem forderte er Israels Regierung dazu auf, endlich Verhandlungen aufzunehmen: "Wir müssen einen Weg finden, diese Sache zu beenden, wenn wir nicht alle im Chaos versinken wollen", sagte er dem arabischen Nachrichtensender Al Dschasira.

Haniyeh hat guten Grund dazu, sich nun moderat zu geben: Das Verhältnis zum Hamas-Führer Khaled Maschal in der syrischen Hauptstadt Damaskus ist, vorsichtig gesagt, suboptimal. Vieles deutet darauf hin, dass der Angriff auf den israelischen Militärposten vor eineinhalb Wochen von Damaskus aus orchestriert worden war und auch die palästinensische Regierung einigermaßen überrascht hatte. "Am Anfang haben alle gedacht, sie seien jetzt in einer Position der Stärke und könnten Forderungen an Israel stellen, was dann auch reichlich getan wurde", sagte Khaled Abu Toameh von der Zeitung Jerusalem Post: "Allerdings haben Haniyeh und seine Leute völlig übersehen, dass sich Israel auch quer stellen und das die öffentliche Meinung schnell zum Kippen bringen könnte." Und der Nachrichtensender Al Arabiyah warf der Hamas am Mittwoch in einem Kommentar vor, völlig beratungsresistent zu sein: "Der Hamas mangelt es an politischer und strategischer Einsicht. Zuerst fährt sie den Karren an die Wand und hofft dann darauf, dass die arabische Welt ihr hilft, ihn von dort weg zu manövrieren", so der Kommentator: "Es ist an der Zeit, dass wir alle beginnen, die Hamas mit realistischeren Augen zu sehen." Eine zwar bislang seltene Meinung in der arabischen Welt, aber ein erstes Anzeichen dafür, dass sich auch hier etwas ändert: Al Arabiyah genießt dort großes Ansehen.

Auf den Straßen des Gazastreifens ist die anfängliche Euphorie schon vor Tagen tiefer Ernüchterung gewichen. Die Menschen wünschen sich ein baldiges Ende der Affäre, von dem sie hoffen, dass es auch gleichzeitig ein Ende der israelischen Besatzung mit sich bringen.

Doch das ist unwahrscheinlich: Spätestens mit dem Angriff auf Aschkelon hat das Vorgehen gegen den Kassam-Beschuss die Suche nach dem entführten Soldaten als oberstes Operationsziel abgelöst. Denn die Regierung steht unter großem Druck. Mittlerweile ist ihre Zustimmungsquote auf nur noch acht Prozent abgerutscht - ein Minus von acht Prozent innerhalb von nur einer Woche. Die Meinungsforscher bringen dies direkt mit der Entführung und der darauf gefolgten Militäroperation sowie der Unfähigkeit in Zusammenhang, den Kassam-Beschuss wirkungsvoll zu verhindern. In den Medien wird Verteidigungsminister Amir Peretz immer wieder vorgehalten, er treffe ob seines Mangels an militärischer Erfahrung zu oft die falsche Entscheidung. Die Arbeiterpartei fürchtet derweil, die Operation und die Todesopfer, die unweigerlich damit einhergehen werden, könnten das Image der Partei beschädigen. Am Donnerstagnachmittag sprachen Mitglieder des Zentralkomitees der Sozialdemokraten offen davon, Peretz als Parteivorsitzenden abzusetzen und einen Neuanfang samt Neuwahlen mit einem anderen Spitzenkandidaten zu wagen. Das Experiment Peretz sei genauso gescheitert wie das Experiment große Koalition (Vorwärts wohin?): "Wir haben uns dort bis jetzt kaum mit unseren eigenen Ansichten einbringen können", sagte beispielsweise Parteifunktionär Ofir Pines-Pas: "Es wird Zeit, dass schnell etwas passiert, wenn wir nicht am Ende als die großen Verlierer da stehen wollen."

Doch Peretz, der den Posten des Verteidigungsministers, ein Amt das sehr undankbar sein kann, nie hatte haben wollen, drängt zum Abwarten. Stattdessen droht er Regierungschef Ehud Olmert, der ihn auf diese Weise hatte demontieren wollen, damit, die Partei selbst aus der Regierung heraus führen zu wollen, falls er vom ursprünglich vorgesehenen Weg, also Verhandlungen mit Abbas und dann Siedlungsräumungen auch im Westjordanland, abweichen sollte. In diesem Fall bliebe Olmert nur noch eine Mitte-Rechts-Koalition. Eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens komme auf keinen Fall in Frage, sage Peretz am Donnerstagnachmittag: "Im Moment führt kein Weg an einem militärischen Vorgehen vorbei. Aber wir werden alles tun, um die Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten. Zudem müssen wir in die Zukunft schauen: Eine dauerhafte Beruhigung der Lage wird nur möglich sein, wenn wir verhandeln."