Der breite Mantel der humanitären Intervention

Der Feldzug gegen den Irak hat ein brutales Regime gestürzt, trotzdem kann er laut Human Rights Watch nicht als humanitäre Intervention gerechtfertigt werden

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Jedes Jahr analysiert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in ihrem Jahresbericht die Entwicklung der Menschenrechte weltweit. Anlässlich ihres 25-jährigen Bestehen hat die Organisation die diesjährige Ausgabe einem einzigen Thema gewidmet: "Menschenrechte und bewaffnete Konflikte" (Human Rights and Armed Conflict). Der 407 Seiten starke Bericht besteht aus 15 Essays, die u. a. die Themen Krieg und Menschenrechte, Kampf gegen den Terrorismus, sexuelle Gewalt als Methode der Kriegsführung und die Entwicklungen im Bereich der internationalen Justiz behandeln.

HRW-Direktor Kenneth Roth setzt sich in einem Grundsatzessay mit dem Thema humanitäre Intervention auseinander. Er kritisiert, dass in den USA zunehmend versucht wird, den Irak-Krieg im Nachhinein als humanitäre Intervention zum Sturz eines grausamen Diktators zu rechtfertigen, nachdem weder die verbal so häufig herbei beschworenen Massenvernichtungswaffen aufgetaucht sind, noch eine Verbindung Saddams zur internationalen Terrorszene gefunden werden konnte. Die Situation des Irak im März 2003 erfüllte seiner Meinung nach keines der Kriterien, die einen so bezeichneten Eingriff rechtfertigen könnten.

Kriterien für die Legitimität humanitärer Interventionen

Humanitäre Intervention erfreuen sich einer wachsenden Beliebtheit. Roth verweist auf die Einsätze im Kongo, in Liberia und in der Elfenbeinküste im vergangenen Jahr. So sehr seiner Meinung nach die Anteilnahme am Schicksal weit entfernt lebender Opfer zu begrüßen ist, so besteht zunehmend die Gefahr, dass humanitäre Interventionen eine ungesunde Inflation erleben und als Deckmäntelchen benutzt werden, um weniger ehrenvolle Ziele in anderen Ländern zu verfolgen. Konfliktherde gibt es viele auf der Welt und der Kampf gegen den Terrorismus wird als Krieg an vielen Fronten geführt. Roth befürchtet völlig zu Recht, dass humanitäre Interventionen als Maßnahme entwertet werden und darunter die Menschen leiden, die in einer großen Notlage tatsächlich Hilfe benötigen.

Roth spricht sich nicht gegen humanitäre Interventionen aus, im Falle von Ruanda und Bosnien hatte die HRW den Einsatz ausdrücklich befürwortet. Humanitäre Interventionen ja, aber unter Einhaltung bestimmter Kriterien, die er in seinem Essay diskutiert und zur Diskussion stellt. Nach seiner Definition dürfen humanitäre Interventionen nur ein letztes Mittel sein, um sich bereits vollziehenden oder drohenden Völkermord oder Massentötungen zu verhindern. Nur eine solche Dimension kann einen militärischen Einsatz rechtfertigen, der, wie die Erfahrung gelehrt habe, nur in der Theorie als chirurgischer Eingriff existiert, weil er in der Realität immer Tod und Zerstörung mit sich zieht. Weitere wichtige Kriterien sind ihm das Einverständnis des betroffenen Landes sowie die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Humanitäre Motive müssen für eine Intervention ausschlaggebend sein - und sie muss unter Einhaltung internationaler Gesetze und Konventionen erfolgen. Eine humanitäre Intervention darf nicht erfolgen, wenn sie zu einer Eskalation der Situation führen würde.

Der Irak-Krieg ist Beispiel für den willkürlichen Umgang mit dem Instrument der humanitären Intervention

An diesen Kriterien gemessen, schneidet der Irak-Krieg schlecht ab. Saddam Hussein war zwar unbestritten ein grausamer Herrscher, doch die akute Gefahr eines Völkermordes etwa war im März 2003 nicht gegeben, 1988 z. B. hätte das ganz anders ausgesehen, als 100.000 irakische Kurden ihr Leben verloren - doch da hat man lieber darüber weggesehen. Die internationale Gemeinschaft hätte andere - politische, wirtschaftliche und juristische - Mittel gehabt, um Druck auf Saddam auszuüben, so wie sie es bei Slobodan Milosevic oder Charles Taylor getan hat.

Humanitäre Motive waren für die USA immer nur untergeordnete Motive. Belege sind für Roth die von der US-Armee durchgeführten Bombenangriffe, bei denen zivile Opfer in Kauf genommen wurden, um vagen Hinweisen auf die "großen Fische" zu folgen, und der Einsatz von Streubomben in besiedelten Gebieten. Und hat sich die Situation im Irak verbessert? So schlimm die Zustände unter Saddam auch waren, so ist die derzeitige Lage immer noch so instabil, dass sie auch eskalieren könnte.

Für Kenneth Roth zeigt der Irak-Krieg und der willkürliche Umgang mit dem Instrument der humanitären Intervention, dass es höchste Zeit ist, verbindliche Kriterien für derartige Einsätze zu entwickeln. Humanitäre Interventionen sind nach Roth sinnvoll und eine wichtige Antwort für Menschen, die von Massenmord bedroht sind. Werden sie jedoch zu einem Schildchen, das man sich beliebig umhängen kann, sind sie kein Hilfsmittel mehr, sondern eine tödliche Bedrohung.