"Naive Russophilie"

Foto: Oast House Archive. Lizenz: CC BY-SA 2.0

Claus Leggewie kritisiert Kritik an der EU

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Nur ausgemachte Optimisten können behaupten, dass es zur Zeit um Europa und die EU besonders gut bestellt ist. Allerdings stimmt die Kritik daran auch nicht froh. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der unlängst das Buch Anti-Europäer - Breivik, Dugin, al-Suri & Co. veröffentlicht hat.

Herr Leggewie, Sie untersuchen in Ihrem Buch die Schriften von so unterschiedlichen wie sich widersprechenden Typen wie den Rechtsradikalen Breivik, den Islamisten al-Suri und den Nationalbolschewisten Dugin: Was eint diese Menschen - und repräsentieren sie eine politische Einstellung, die von vielen Menschen heutzutage in Bezug auf Europa geteilt wird?

Claus Leggewie: Al-Suri ist nicht Dugin ist nicht Breivik, die Protagonisten kommen aus ganz unterschiedlichen Traditionen und führen nicht denselben Kampf. Doch eint sie dasselbe Feindbild: Europa als normative Ordnung, gemeinsamer Markt und demokratische Union. Machen wir ein Gedankenexperiment: Würde man die drei in eine Zelle sperren, sie gingen sich wohl an die Gurgel.

Aber bei eventuellen Nacht-Gesprächen, wenn die Aufseher dazwischengegangen wären, entdeckten sie dann erstaunliche Gemeinsamkeiten: Erstens die Wiedereinführung der Leitkategorie des Raumes in die Politik, also eine geopolitische Rehabilitierung der Nation beziehungsweise des Imperiums (orthodoxes Eurasien, islamisches Kalifat, christliches Abendland) gegen die laufende Vergesellschaftung über Märkte und supranationale Organisationen.

Zweitens das Denken in Zivilisationen mit scharfen, zum Teil blutigen Rändern. Drittens die Rechtfertigung von politischer Gewalt. Viertens - und vor allem - die Resakralisierung der Politik, gegen die von der Aufklärung bewirkte Entzauberung der Welt; die seit der Neuzeit aufgerichtete, segensreiche Trennmauer zwischen Religion und Politik wollen christliche Fundamentalisten, Russisch-Orthodoxe und Salafisten gleichermaßen einreißen.

Schließlich fünftens die Etablierung autokratischer Herrschaftsformen mit charismatischen Führergestalten, die sich über Plebizitäre akklamieren lassen. Das fügt sich in eine lange Welle des Autoritarismus, die in den 1970er Jahren einsetzt und heute einen ersten und hoffentlich letzten Höhepunkt erreicht.

Sie sprechen in Bezug auf die deutschen Reaktionen auf die Außenpolitik von Wladimir Putin von einer "naiven Russophilie". Wo können Sie diese ausmachen und wie äußert sich diese?

Claus Leggewie: Die Verharmlosung Putins als "lupenreinen Demokraten" durch Gerhard Schröder spricht für sich. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik stand lange unter dem Eindruck des barbarischen Überfalls 1941 und der Millionen russischer Kriegstoten, in der Linken kam eine naive Sowjetbegeisterung hinzu, entweder aus Überzeugung oder aus einem anti-antikommunistischen Reflex.

Stets hielt man der Sowjetunion und heute der Russischen Föderation eine reaktive Haltung gegenüber einer vermeintlichen Umzingelung zugute, der die Aggression gegen die Ukraine Hohn spricht. Reicht das? Sonst nehme ich noch die Cyberattacken gegen baltische Staaten und die angekündigte Einmischung in deutsche wie zuvor andere Wahlkämpfe hinzu. Die Hoffnung, dass Russland seinen gebührenden Platz im Europäischen Haus einnimmt, wird immer mehr zur Illusion.

Russen und Amerikaner

Wird die russische Außenpolitik in den deutschen Medien adäquat dargestellt?

Claus Leggewie: In deutschen und den meisten europäischen Medien gibt es seine sehr differenzierte Berichterstattung, vielmehr gibt es eine von Moskau ausgehende Desinformationskampagne. Schlagend, aber kein Einzelfall war der "Fall Lisa", bei dem eine gezielte Lüge zur Staatsaktion avancierte.

Seit dem Irakkrieg wissen wir, dass Amerika unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in ein Land einmarschiert sind. Gehen die deutschen Medien nicht zu sorglos mit amerikanischen Informationen um?

Claus Leggewie: Die Amerikaner haben sich seinerzeit auf deutsche Nachrichtendienste gestützt. Ich kann keinerlei pauschale Bewertung von "deutschen Medien" vornehmen. Und ebenso wenig werde ich "amerikanische Informationen" über einen Kamm scheren, ich lese US-Zeitungen und -Magazine, die weit informierter und kritisch sind gegenüber vielen Aspekten der US-Politik.

Die Empörung über die Lüge Powells in Sachen Irak war in beiden Ländern ebenso klar und entschieden wie die Reaktion der damaligen rot-grünen Bundesregierung, an dem militärischen Abenteuer nicht mitzuwirken.

Arbeiterschichten entfremdet

Ich könnte mir vorstellen, dass Sie Politiker und Politikerinnen wie Beatrix von Storch - also die radikalkonservativen Kritiker der EU - ebenfalls als Anti-Europäer einordnen. Sind diese nicht aber eine Reaktion auf die Politik von Theo Waigel und Gerhard Schröder, die mit den Maastricht-Kriterien bzw. der Agenda 2010 den Grundstock für eine rein auf Wirtschaft und Finanzen ausgerichtete Politik legten, die es solchen Kritikern leicht macht, sich als bessere Lösung zu präsentieren?

Claus Leggewie: Wenn die Falschen auf eine falsche Politik reagieren, macht es ihre eigene, verhängnisvolle Politik doch nicht besser. Trumps Wahlsieg kann man zum Teil durchaus damit erklären, dass eine neoliberale Politik Arbeiterschichten entfremdet und radikalisiert hat. Aber das entschuldigt doch nicht deren Hereinfallen auf Trumps Sexismus und Rassismus! Mit solchen Aufrechnungen geraten alle Wertmaßstäbe und Denkkategorien durcheinander.

Die AfD wird vor allem wegen ihrer Islamkritik angegriffen. Wäre es nicht einfacher, diese Partei wegen ihrer wirtschaftlichen Ausrichtung argumentativ zu entzaubern und in der Öffentlichkeit eine rational begründbare Islamkritik zuzulassen, um dieser Partei dieses Alleinstellungsmerkmal zu nehmen?

Claus Leggewie: Islamkritik ist in Deutschland und Europa alles andere als tabuisiert und allgegenwärtig. Was die AfD betreibt, ist menschenfeindliche Islamophobie und auch kein Alleinstellungsmerkmal. Wie die wirtschaftliche Ausrichtung der AfD aussieht, ist mir bisher verschlossen geblieben - ein Mischmasch aus neoliberalen und völkisch-protektionistischen Schlagworten. Und den Unfug zu entzaubern, ist durchaus ein Problem, weil Funktionäre wie Anhänger der AfD argumentativ schwer erreichbar sind.

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