Urbanität im Netz

Der Cyberspace als "gute Gesellschaft"?

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I.

Stadtluft macht frei - oder: krank. Auf diese knappe Formel lassen sich wohl alle soziologischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Stadt in den letzten hundert Jahren bringen. Während die einen die neuen Freiheiten für das Individuum betonen, beklagen die anderen die Anonymität, die das Leben in der Großstadt für den einzelnen mit sich bringt. Schwärmen die einen vom pulsierenden Leben in der Stadt und der Vielzahl von Eindrücken, die sie dem einzelnen bietet, befürchten andere, dass sich der einzelne im Gewimmel der Großstadt verliert, isoliert sein Dasein fristet, ohne noch in der Lage zu sein, dauerhafte soziale Beziehungen aufzubauen. In immer neuen Varianten sind diese beiden Grundeinstellungen durchgespielt worden.

Doch mit der Gegenüberstellung dieser beiden Lager ist es spätestens seit den 90er Jahren vorbei. Immer deutlicher rücken Entwicklungen in den Vordergrund, die die einstigen Hoffnungen in das großstädtische Leben Lügen strafen. Die zu immer gigantischeren Dimensionen anwachsenden Metropolen dieser Welt entlarven hoffnungsfroh verkündete Vorstellungen der Urbanisten als pure Illusionen. Insofern scheinen die Pessimisten, die am städtischen Leben schon immer einen zunehmenden Verfall des zivilisierten Lebens erkennen wollten, die Oberhand zu gewinnen.

In auffallender Einmütigkeit ist angesichts dieser Entwicklungen vom Zerfall des Urbanen (Keim 1997) und vom Ende der Städte (Touraine 1996) die Rede. Gefeierte Stadtsoziologen wie etwa Mike Davies (1994) gerieren sich als Apokalyptiker, die sich beeilen, den Untergang der Städte pünktlich vorauszusagen. Richard Sennett (1995) erscheint demgegenüber als unverbesserlicher Nostalgiker, der immer wieder an eine längst untergegangene Epoche erinnert und ihr Widerauferstehen nur mehr hilflos beschwören kann. Die Hoffnungen auf die Gestaltbarkeit des städtischen Raums und des öffentlichen Lebens sind offensichtlich - vielleicht mit ein wenig Verspätung - ebenso verschwunden wie die Planungssicherheit gesellschaftlicher Zusammenhänge überhaupt.

Dennoch sind die utopischen Potentiale des Stadtdiskurses nicht versiegt. Sie haben sich vielmehr eine neuen Ort gesucht: das Internet. In den Debatten um Cyberspace und Cybercities finden sich die verloren geglaubten Ideale des Urbanen wieder. Aber auch sie werden konterkariert von einem antiurbanen Diskurs, der in den Möglichkeiten des Netzes nur Nachteile und Gefahren auszumachen vermag.

Ich möchte im folgenden kurz die urbanen und antiurbanen Positionen gegenüberstellen und sie mit den gegenwärtigen Entwicklungen in der Stadt konfrontrieren, die Abwanderung der (stadt-)utopischen Energien in das Netz nachzeichnen, die urbanen Strukturen des Cyberspace herausarbeiten und den Verbindungen zwischen "realen" und "virtuellen" urbanen Wirklichkeiten nachgehen.

Zweigeteilte Städte

Urbanität - das war immer auch ein Versprechen. Welches Nachschlagewerk man auch bemüht, in welche Arbeiten der Stadtsoziologie man auch schaut, Urbanität wird mit gutem Benehmen, zivilen Umgangsformen, gesittetem Verhalten, Freiheit, aufgeklärter Geisteshaltung, Weltoffenheit, politischem Engagement und der Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit gleichgesetzt. Eine urbane Gesellschaft war insofern auch immer eine "gute Gesellschaft".

Allerdings wurden diese Hoffnungen auf das städtische Leben von Anfang an durch einen antiurbanen Diskurs begleitet, der in der Dichte und Unübersichtlichkeit der Städte einen Verlust der Kontrolle der menschlichen Leidenschaften vermutete und deshalb den Rückzug in übersichtliche Gemeinschaften propagierte - Gemeinschaften, die für die nötige soziale Kontrolle des einzelnen sorgen sollten. Gilt den einen die Stadt als Ort der Freizügigkeit und des Zwielichtigen, der die Möglichkeit zur Geselligkeit ebenso verspricht wie die Möglichkeiten zum Rückzug, des Unerkanntbleibens, ist er in den Augen der Gegner ein Ort der Gleichgültigkeit, der Isolierung, der Entfremdung und Entwurzelung. Im Mittelpunkt dieser Kontroverse steht der jeweilige Umgang mit dem Fremden. Während das Urbane von der "Lust am Fremden" lebt, nährt sich der Antiurbanismus aus dem "Affekt gegen das Fremde" (vgl. König 1992: 63, Nassehi 1999 und Schroer 1997).

Sieht man sich die Stichworte an, mit denen gegenwärtig die Zukunft der Stadt beschrieben wird, so ist von den einstigen Hoffnungen nicht viel übrig geblieben. Nicht mehr die fruchtbare Begegnung zwischen Fremden, sondern gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen sich feindlich gegenüberstehenden ethnischen Gruppen beherrschen das Bild. Nicht mehr die Freiheiten der Individuen zur Inszenierung ihres Ichs im täglichen Kampf um Aufmerksamkeit stehen im Vordergrund, sondern die zunehmende Separierung des städtischen Raums in einzelne Enklaven, die eine Begegnung verschiedener Lebensstile immer unwahrscheinlicher werden lassen. Nicht die im Schutze der unübersichtlichen Masse möglich werdenden Abweichungen und Normverstöße, sondern die totale Überwachung des öffentlichen Raums durch die Installation von Kameras prägen den Diskurs um die gegenwärtige Verfassung des Städtischen. Ob edge cities, duale Stadt oder Zitadellengesellschaft: Ausgedrückt wird mit diesen Begriffen letztlich doch übereinstimmend eine Perspektive, die man mit Florian Rötzer (1995: 109) wie folgt auf den Punkt bringen kann: "Allmählich zerfallen die Städte in immer kleinere atomare Zonen und Zellen, die gerade die entscheidenden Momente urbanen Lebens, die Freizügigkeit und die Vermischung des Heterogenen, durch Zugangsbeschränkungen, Angst und Überwachung auslöschen." Das Ende der Utopie des Urbanen scheint damit besiegelt zu sein.

Gut studieren lässt sich diese Entwicklung am Beispiel von Bangalore in Indien. Eine Stadt, die es in dieser Form ohne das Internet nicht geben würde. Für die dort ansässigen Firmen ist ein eigenes Territorium aus dem Boden gestampft worden, in der eine neue Elite von Softwareentwicklern mit einer Infrastruktur von Wasser und Strom bis zur Kommunikationstechnologie ausgestattet ist, die im Rest der Stadt keineswegs vorzufinden ist. Vor den darum herum gelegenen Slums schützt eine eigene private Sicherheitspolizei (vgl. Sundaram 1996). Deutlicher als hier lässt sich das in die Städte eingezogene Nord-Südgefälle (vgl. Korff 1993) kaum studieren, obwohl Bangalore keineswegs das einzige Beispiel ist, das sich für diese neue Entwicklung anführen ließe.

In Buenos Aires, Sao Paulo, Los Angeles und anderen Megacities kann man den gleichen Trend beobachten. In Buenos Aires etwa anhand des Stadtviertels "Pilar", das für seine Insassen noble Hotels und glitzernde Büropaläste bereit hält, von hohen Mauern und Wachtürmen umzäunt. Wer hier um Einlass bittet, muss entweder hier wohnen oder aber eingeladen sein. Diese neuen privaten Stadtteile haben sich in einem Ausmaß von der restlichen Bevölkerung abgekoppelt und von staatlichen Institutionen emanzipiert, dass die Parallele zu mittelalterlichen Stadtstaaten auf der Hand liegt. Diese Städte entwickeln sich mehr und mehr zu Zitadellen, die sich vom Rest der Bevölkerung abkoppeln. Wenn alle Zuhause sind, wird buchstäblich das Brückentor hochgezogen und die privilegierten reichen Eliten sind unter sich. Sind die Bewohner dieser Städte derzeit noch gezwungen ihre Reservate hin und wieder zu verlassen, wenn sie arbeiten müssen oder einkaufen wollen, verspricht das nächste Ziel der Stadtplaner vor Ort ein komplettes Leben hinter der Mauer mit Büros, Supermärkten und Theatern, das eine Konfrontation mit den umliegenden Gebieten unnötig machen wird (vgl. Bollmann 1999).

Auf diese Weise entstehen immer mehr Städte, die zweigeteilt sind, sich in Räume der Sicherheit und Räume der Unsicherheit, in ungefährliche und gefährliche, "gute" und "schlechte" Orte, in befriedete und umkämpfte Zonen aufteilen. Wer diese Entwicklung nur für ein Phänomen der ehemaligen Dritte-Welt-Länder hält, wird eines besseren belehrt, wenn er seinen Blick etwa auf Berlin richtet. Obwohl immer wieder gern tröstend darauf hingewiesen wird, dass es in Europa noch nicht so weit sei wie in den Vereinigten Staaten, Lateinamerika oder Asien, ist doch auch hier der Trend unverkennbar. Wenn der Berliner Tagesspiegel schreibt: "Fast ganz Kreuzberg ist ein gefährlicher Ort" und von der Berliner Polizei 36 "gefährliche Orte" ausgemacht werden, an die sich ihre Beamten nur noch in Mannschaftsstärke begeben, so ist der Trend auch in Deutschland wohl mehr als nur semantisch angekommen.

Mit den einstmaligen Städten bzw. unseren Vorstellungen über sie hat dies nicht mehr viel zu tun. Insofern ist vielfach vom Ende der Stadt die Rede. Wie bei jedem anderen diagnostizierten Ende - dem Ende der Geschichte, der Politik, des Subjekts, der Familie - ist aber auch hier Vorsicht geboten. Denn bisher ist noch auf jedes dieser Enden eine Wiedergeburt gefolgt. Bei der Rede vom Ende der Stadt hat man es mit einer bestimmten Vorstellung von einer Stadt zu tun, die nicht mehr länger auf das Bild der realen Stadt zutrifft. Insofern gilt es den Blick dafür zu schärfen, welchem Gestaltwandel die Stadt unterliegt.

Die virtuelle Stadt zeigt, dass sich vieles dessen, was man einst mit der Stadt assoziiert hat, inzwischen ins Netz verlagert hat. Während man in den realen Städten aus Angst vor vagabundierenden gefährlichen Gruppen wie Obdachlosen, Armen und Drogenabhängigen den Rückzug in gut bewachte Gemeinschaftsreservate antritt, wird im Internet noch einmal die Idee der Stadt als Begegnungsraum zwischen Fremden wiederbelebt. Insofern scheinen sich die Stadt und das Urbane nicht vollständig verflüchtigt, sondern im Netz einen neuen Ort gefunden zu haben. Kann es sein, dass der Cyberspace der neue Ort ist, an dem sich die urbane Lebensweise wiederfinden lässt?

Das Urbane verschwindet auch aus dem Netz

Cyberspace - auch das war zunächst vor allem ein Versprechen. Seine Propagandisten stellten uns eine neue Welt in Aussicht, zu der jeder Zugang haben sollte. In ihr sollte es Freiheiten geben, die es in der realen Welt nicht mehr gibt oder nie gegeben hat; in ihr sollten Zwang und soziale Kontrolle Fremdwörter sein; in ihr sollte man sich mit Menschen auf der ganzen Welt verständigen können; in ihr sollte man noch die grellsten Interessen und Bedürfnisse ausleben können; in ihr sollte man sich politisch betätigen können, staatliche Instanzen sollten keinen Einfluss nehmen können auf das, was im Netz gezeigt und gesprochen wird; selbst Geschlechterdifferenzen sollten keine Rolle spielen, da man sich Identitäten beliebig selbst aussuchen und mit ihnen spielen können sollte; Herkunft sollte nicht wichtig sein und an den Rand gedrängte Gruppen sollten hier die Möglichkeit zur Präsentation ihrer Interessen bekommen. Bot schon die reale Stadt gegenüber dem Dorf Möglichkeiten zu Identitätsspielen und grellen Selbstdarstellungen, so sollte im Netz noch eine Steigerung solcher Möglichkeiten erfolgen (vgl. Turkle 1999). Im Internet sollten Maskerade, Verkleidung, das Spiel der Verstellung nicht nur möglich sein, sondern zur Normalität gehören. Ob Alter, Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit - im Netz sollten diese Identitätsmerkmale kein stahlhartes Gehäuse (vgl. Nassehi 1997) sein, dem man nicht entrinnen kann, sondern Fesseln, die man nach Belieben an- und wieder ablegen kann. Insofern versprach auch der Cyberspace eine "gute Gesellschaft" hervorzubringen.

Begleitet wurden diese in Aussicht gestellten Möglichkeiten jedoch von Tendenzen, die all das, was manche Netzenthusiasten als Chancen begreifen, für gefährlich und schädlich halten. Dabei tauchen all jene Stichworte wieder auf, die sich im klassischen antiurbanen Diskurs finden lassen. Es sind die gleichen Kritikpunkte, die gegen die Stadt gerichtet waren, die sich nun in der Netzkritik wiederholen: Die Kommunikation in den Netzen fördere Fremdheit, Unpersönlichkeit und Anonymität, sie lasse allenfalls flüchtige, nicht aber dauerhafte Beziehungen zu usw. Ähnlich wie in der klassischen Großstadtkritik die große Stadt als Sammelplatz des Verderbens und des Verbrechens galt, wird auch das Netz als Tummelplatz von Päderasten, Pornografen und Kriminellen beschrieben.

Und diese Analogie der Netz- zur Großstadtkritik ist keineswegs zufällig, der virtuelle Raum ist tatsächlich mit einer Stadt vergleichbar: Wie in ihr finden wir auch hier glitzernde Paläste neben schäbigen Häusern, Prachtboulevards neben verwahrlosten Gassen, Rotlichtviertel neben Spielplätzen. Im Internet ist es tatsächlich möglich, sich durch dreidimensionale Räume zu bewegen und dabei auch Sinneseindrücke zu simulieren, die an reale Erlebnisse weit mehr als nur erinnern. Man betritt Orte, überschreitet Schwellen, verweilt hier und dort, verliert sich bei der Betrachtung von Anziehendem, flüchtet vor Abschreckendem, gerät in Sackgassen, tritt den Rückzug an, kehrt zurück an den Ausgangspunkt, um festzustellen, wie viele Besucher während der eigenen Abwesenheit das eigene Heim, die Homepage, besucht haben. Und so bietet der Netzraum tatsächlich vieles dessen an, was sich in den realen Städten immer weiter zu verflüchtigen scheint: Eine Mischung der verschiedensten Lebensstile, eine Begegnung mit dem Unbekannten, die Kontaktaufnahme zu Fremden, die Konfrontation mit Dingen, die man bisher noch nicht gesehen hatte und die Möglichkeiten der permanenten Neuerfindung des eigenen Selbst.

Doch die Bewegungsfreiheit im Netz wird in zunehmendem Maße eingeschränkt, weil die Offenheit des Netzes als Gefahr eingestuft wird. Als ob der weit verbreiteten Klage der Netzkritiker entsprochen werden soll, beginnt sich das Netz derzeit in einen Raum zu verwandeln, in dem es Orte gibt, die jeder betreten darf und Orte, die nur betreten werden dürfen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Das Internet verwandelt sich in einen Raum, in dem vieles nebeneinander steht, sich aber nicht mehr vermischt. So wollen sich die Teilnehmer vieler Chat-Rooms gerade nicht auf anderes einlassen, sondern lieber unter sich bleiben. Was anders ist, wird ausgegrenzt. Auch die ständig steigende Anzahl von Homepages, mit denen das Netz bevölkert wird, sind oftmals gerade kein Ausdruck des "urbanen Abenteuers", das gemeinsame Sache mit der Verschwiegenheit und der Geheimnistuerei macht (vgl. Bruckner/Finkielkraut 1981). Sie sind vielmehr Instanzen für Bekenntnisse und Geständnisse, die das Fremde und die Anonymität zugunsten des Bekannten und der Namhaftigkeit verbannen. Doch selbst wer nicht freiwillig Auskunft über sich erteilen will, gelangt keineswegs ungesehen und spurenlos durch das Netz. Bei jedem Betreten eines bestimmten Ortes werden Cookies auf der Festplatte des Datenflaneurs installiert, die ein Profil seiner Vorlieben erstellen sollen, so dass man sagen kann: Wer sich nicht freiwillig präsentieren will, wird heimlich ausgespäht. Insofern ist eine Position, die das Angeschlossensein generell für gut hält, mit Vorsicht zu genießen. Womöglich ist in diesem speziellen Fall die Unsichtbarkeit und Nichtpräsenz die bessere Option - ganz im Sinne von Michel Foucaults Einsicht: "Die Sichtbarkeit ist eine Falle!" (Vgl. dazu Schroer 1997, 2000)

Wie in den realen Städten können wir auch im Netz eine zunehmende Separierung des Raums, die Entstehung von gated communities, no-go-areas und Wagenburgen besichtigen. Auch hier wird sich zunehmend abgekapselt und abgeschottet, auch hier sprießen wehrhafte Gemeinschaften aus dem Boden, die sich vor ungebetenen Gästen zu schützen wissen. Es gibt eine Art "Aktion sauberes Netz", mit der das "Gesindel" vertrieben werden soll. Insbesondere Firmen rüsten auf und wappnen sich in verstärktem Maße gegenüber unerwünschten Besuchern. Die Errichtung von Firewalls und Intranets dienen eben diesem Zweck. Zunehmend versichert man sich, mit wem man es zu tun hat, ehe man sich auf einen Kontakt einlässt. Zunehmend stellt man gewisse Bedingungen, die erbracht sein müssen, ehe man eingelassen wird. Und zunehmend muss man bezahlen, bevor man einen Ort betreten darf.

Nun ist zwar nicht jede Schließung nach außen gleich mit dem Aufbau einer uneinnehmbaren Festung gleichzusetzen - schließlich steht es nicht einmal in den idealisierten alten Städten jedem frei, jeden Ort betreten zu können und ungebeten in jedes Haus eindringen zu dürfen. Eine wachsende Anzahl an no-go-areas, ein Auseinanderfallen des virtuellen Raums in eine Aneinanderreihung unbetretbarer Zonen lässt aber nach und nach verschwinden, was das Urbane letztlich ausmacht: das Unbestimmte, das Unbekannte und die Möglichkeit der ungeplanten und überraschenden Begegnung.

Während in der traditionellen Großstadt die Ansteckungsgefahr vor gefährlichen Krankheiten herhalten musste, um vor der schädlichen Nähe der Menschen zu warnen und die Überschaubarkeit der dörflichen Idylle als Ideal anbieten zu können, ist es heute die Gefahr der (Computer)Viren, die vor einem ungeschützten Datenverkehr bewahren soll. "Achtung vor Botschaften, deren Absender man nicht kennt", lautet die immer häufiger zu hörende Warnung! Weder im einen noch im anderen Fall erfolgen diese Warnungen völlig grundlos. Aber sie werden dazu benutzt, um vor einer allzu sorglosen Begegnung mit dem Fremden zu warnen und tragen so zu einem Klima bei, das alles Unbekannte als bedrohlich versteht und deshalb zur Abschottung ermuntert.

Bezeichnenderweise also gehen die Entwicklungen im Cyberspace in eine ähnliche Richtung wie in den realen Städten. Im Netz ist eben nicht, wie die Netzenthusiasten gehofft hatten, das ganz Andere der Gesellschaft zu finden. Es wird von den gleichen Menschen gemacht, bevölkert und bewohnt, die auch die realen Städte bewohnen und von denselben gesellschaftlichen Strukturen gestaltet und geprägt, die auch das Antlitz der realen Städte prägen. Insbesondere die, die auch im realen Leben den Ton angeben, tauchen hier wieder auf und erobern sich immer mehr Räume im nur scheinbar endlosen Netz. Nur die, die ohnehin schon außen vor stehen, müssen auch hier zumeist draußen bleiben. So wiederholt sich also im Virtuellen die Welt mehr, als dass sie eine Alternative böte. Es scheint, als ob die materielle Realität zunehmend in die virtuelle Realität des Netzes einwandert.

Wenn man sich jedoch die in einzelne gut bewachte Wohlstandsinseln auseinander fallenden Städte noch einmal vor Augen führt, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Beeinflussung auch in die umgekehrte Richtung führt. Die Bewohnern der Zitadellen, die ihre Enklaven bald kaum noch verlassen müssen, erinnert das nicht an die Vision des Netzes, die alle Tätigkeiten, die früher zum Verlassen der Wohnungen und Häuser zwangen, vom heimischen PC aus ermöglichen will? Die Entwicklungen der elektronischen Kommunikations- und Informationssysteme scheinen das Ende der realen Stadt zu bestätigen, da sich zahlreiche Tätigkeiten von Zuhause aus erledigen lassen, ohne dass die Straße betreten oder andere Gebäude aufgesucht werden müssten: Arbeit, Einkaufen, Unterhaltung, öffentliche Einrichtungen usw. sind zunehmend innerhalb des Netzes möglich. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass in den realen Städten längst nach dem Vorbild der virtuellen gebaut wird, wobei das Ausblenden aller negativen Begleitumstände im Vordergrund der Bemühungen zu stehen scheint. Überdachte und überwachte Shopping Malls sollen vor schlechtem Wetter, Lärmbelästigung und schlechter Luft ebenso wie vor der Konfrontation mit Armen, Obdachlosen und Drogenabhängigen schützen. Manch eine reale Innenstadt vermag es bereits mit der cleanen und aseptischen Atmosphäre der virtuellen Städte aufzunehmen. Wo aber bleibt das Urbane?

Die reale Stadt ist schon längst selbst ein Datennetz geworden

"Ja, wo bleibt es denn?" Falsch gestellt ist die Frage, wenn man sie an die Alternative "reale Stadt" oder "Netzstadt" bindet. Es scheint mir eine Ungenauigkeit der gesamten Diskussion um Netzurbanität und all die zum Teil naiven Hoffnungen zu sein, dass die "reale" und die "virtuelle" Stadt - oder wie man sie auch immer auseinander halten will - völlig voneinander getrennte Räume seien. Das gilt nicht nur für die soziologische Banalität, dass sich in beiden Räumen die gleichen Akteure tummeln, die gleichen Semantiken wabern, die gleichen Mythen und Geschichten erzählt werden, die gleichen Hoffnungen und Ängste diffundieren und die gleichen Diskurse geführt werden. Das gilt vor allem für den soziologisch weit interessanteren Gedanken, dass sich die sogenannte reale und die sogenannte virtuelle Stadt längst überschneiden. Man kommt heute kaum mehr an Informationen für das richtige Leben in der steinernen Stadt, ohne sich im Netz zu informieren. Niemand führt heute noch ein Kundengespräch, eine Verhandlung oder auch nur eine unschuldige Sondierung, ohne den Netzauftritt der beteiligten Akteure vorher studiert zu haben. Sinnfällig wird das auch daran, wie auf ganz realen hölzernen Plakatwänden für ganz und gar stoffliche Waren geworben wird, indem man nur die Webadresse "www.wer-auch-immer.de" nennt.

Doch die Überschneidungen gehen noch weiter. Die reale Stadt ist längst selbst ein Datennetz geworden, das sowohl mit anonymen als auch mit personenbezogenen Daten arbeitet. Über Induktionsschleifen, Bewegungsmelder und Kameras werden wir in Großstädten fast permanent als Teil einer nur aus der Binnenperspektive amorph erscheinenden Masse wahrgenommen. Aus der Perspektive von Rechnern, die damit Verkehrsströme, Ampelschaltungen oder Bahnfrequenzen ermitteln, wird aus dem virtuellen Datensalat die Stadt. Und personenbezogen sind wir ohnehin in ein ungeheures Datennetz eingespannt, dessen Kapazitäten kaum mehr zu ermitteln sind. Wenn Sie mit Kredit- oder EC-Karten bezahlen, im Hotel Ihr Zimmer mit Datenkarten öffnen, Ihr Mobiltelefon eingeschaltet haben oder sich in irgendwelche Datennetze einloggen, stets sind Sie nicht nur als Teil einer "anderen" Welt in Datennetze eingelassen, sondern mitten im Raum der realen Stadt.

Vielleicht war es immer schon ein Fehler, die virtuelle Welt der Netze für weniger real zu halten als die steinerne Stadt und diese für weniger virtuell als die Datennetze. Der Beitrag der Soziologie zu der ganzen Diskussion könnte darin bestehen, nicht die Fortsetzung des Stadt- und Urbanitätsdiskurses mit Netzmitteln fortzuführen, sondern die Auswirkungen des Netzes auf die Stadt selbst, auf das städtische Leben - und nicht zuletzt auf Urbanität - im Detail zu erforschen. Man wird die Ergebnisse in einiger Zeit sowohl in virtuellen Büchern als auch auf realen Homepages nachlesen können.

Literatur

Schroer, Markus, Dr. phil., Wiss. Assistent am Institut für Soziologie, LMU München.