Seefahrer und Abenteurer auf dem globalen Datenmeer

Sprachschöpfung durch neue Medien

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn etwas Neues in die Welt kommt, brauchen wir dafür selbstverständlich einen Namen. Das ist nicht nur bei den Kindern so, auch für Entdeckungen, Erfindungen und technische Errungenschaften müssen neue Begriffe her. So spiegelt die Geschichte einer Sprache immer auch ein Stück weit die Geschichte der jeweiligen Kulturgemeinschaft.

Wie ein Blick in die 100 Wörter des Jahrhunderts1 zeigt, haben uns vor allem die Medien etliches an Novitäten beschert: Comics, Computer, Fernsehen, Film, Information, Kommunikation, Manipulation, Massenmedien, Pop, Radio, Rock 'n' Roll, Satellit, Star, Werbung.

Während wir uns mit Rechtschreibreformen eher schwer tun und unser orthografisches Sprachverhalten einem hartnäckigen Trägheitsgesetz unterliegt, scheinen wir die stetige Erneuerung und Umschichtung des Wortschatzes eher gelassen hinzunehmen. Bevor wir auch nur im Traum daran denken, Philosophie mit "F" zu schreiben, haben wir uns bereits wieder Dutzende von Anglizismen und Neuschöpfungen angeeignet und unser Alltagsvokabular durch ein Upgrade aktualisiert. Wir mailen, chatten, scrollen und zappen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Wortschwemme

Die zahlreichen Wörterbücher mit neuen Begriffen und Wendungen lassen befürchten, dass wir über kurz oder lang nichts mehr verstehen, wenn wir nicht mitmachen und Schritt halten. In der 21. Auflage des Rechtschreibe-Dudens fehlen noch zahlreiche Begriffe des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Compactdisc, Internet, E-Mail, Shareware und Cyberspace kommen zwar vor. Für Provider, Browser, Homepage, Pixel oder Hypertext müssen wir allerdings schon das Fremdwörterbuch bemühen - Chat, Netiquette, Newsgroup oder Website suchen wir aber selbst in der Duden-Handbibliothek oder sogar in den Benutzerwörterbüchern unserer Textverarbeitung noch vergebens.

Solche Lücken versuchen nun eine ganze Reihe von Nachschlagewerken zu füllen. Das Lexikon der modernen Begriffe2 beispielsweise vereinigt «1000 Schlüsselwörter von heute» und deckt dabei aktuelle Bereiche wie Technik, Gesundheit, Freizeit oder neue Medien ab und liefert ausführliche Erläuterungen. Oliver Rosenbaums Chat-Slang3 verzeichnet angeblich über 3700 Begriffe und bietet sich als handliches Taschenwörterbuch für Reisen im Cyberspace an. Neben Abkürzungen, Emoticons und technischen Fachausdrücken listet es vor allem englische Idioms und jede Menge Begriffe der Hacker- und Chattersprache auf. Informativer und mit nützlichen Querverweisen versehen präsentieren sich hingegen das illustrierte Internet-Lexikon4 von Dietmar Sittek oder auch Jürgen Abels handliches Glossar mit dem Titel Cybersl@ng5. Da die Sprache wohl unser wichtigstes Wahrnehmungsorgan ist, das Instrument schlechthin, mit dem wir die Welt ertasten und begreifen, gibt sie uns auch eine Vorstellung dessen, was in unseren Köpfen vor sich geht und wie wir in der Welt funktionieren. Da kann es ganz aufschlussreich sein, uns selbst wieder mal aufs Maul zu schauen und die "Wirklichkeit" gleichsam beim Wort zu nehmen.

Virtualisierung der Sprache

Neben der unübersehbaren "Invasion" von Neologismen lässt sich auch im Bereich der Alltagswörter eine drastische Bedeutungsverschiebung beobachten. Zahlreiche Begriffe aus handfesten Wortbeständen scheinen sich allmählich in einer digitalen Sphäre aufzulösen und verweisen zunehmend auf virtuelle Gegebenheiten. Das Menü ist nicht mehr nur für die Speisenfolge einer Mahlzeit vorbehalten. Der Speicher, wo man die Getreidevorräte aufzubewahren pflegte, hat sich zum Gedächtnis einer elektronischen Maschine gewandelt. Das Fenster gibt nicht mehr den Blick in die Natur frei, sondern dient als begriffliche Metapher für den grafischen Rahmen eines Computerprogramms. Das Öffnen und Schließen auf dem Bildschirm geht denn auch ohne Luftzug und mit lautlosem Klick vonstatten. Selbst das Konvertieren wird inzwischen von weltlicher Software besorgt und setzt keinen tief greifenden Gesinnungswandel mehr voraus.

Am eindrücklichsten ist die Virtualisierung der Sprache wohl in den Chatrooms und Multi-User Dungeons, wo man Leute lediglich in Zeichengestalt antrifft, über Tastenbefehle "schreien" oder "flüstern" kann und von Raum zu Raum hüpft, ohne sich von der Stelle zu rühren. Chat, das im Englischen ursprünglich eine zwanglose Unterhaltung oder Plauderei meinte, wird neuerdings auf eine spezifische Form der synchronen Schriftkommunikation angewandt. Aber wir werden uns ebenso daran gewöhnen, wie wir uns beim Telefonieren an die körperlosen Stimmen gewöhnt haben.

Im digitalen Niemandsland beginnen räumliches Hier und Dort zu verschmelzen. Wenn in einem Chat gefragt wird, wo sich jemand gerade befinde, so lässt dies immer zwei Interpretationen und Antworten zu. Die Frage kann sich nämlich auf den virtuellen Raum bzw. "Kanal" des jeweiligen Chats oder aber auf den realen (d.h. physisch-geografischen) Aufenthaltsort des Dialogpartners beziehen. Beim Phänomen der Telepräsenz sind Körper und Geist eben nicht am selben Ort. Das ist so, wie wenn wir im Kino oder beim Lesen unsere Aufmerksamkeit ganz auf die fiktionale Welt richten und unser leibliches Selbst dabei vergessen. Im Cyberspace sind wir mit virtuellem Körper unterwegs, können auch fernfühlen und fernhandeln. "Schön, dich zu sehen", heißt es dann im textbasierten Chat, obwohl auf dem Bildschirm nur bunte Buchstabenfolgen erscheinen.

Computerslang und Netzjargon

Abgesehen von echten Wortschöpfungen und Neukombinationen - wie Internet, CD-ROM oder Multimedia - beziehen wir viele Begriffe für das Neue einfach aus altem Sprachmaterial. Obgleich wir in einer hoch beschleunigten und technisierten Welt leben, scheinen wir sprachlich stets ein wenig hinterherzuhinken. Unsere Metaphern erinnern uns also noch an die gute alte Zeit. "Die Bilderwelt der Gegenwartssprache wirkt, als lebten ihre Sprecher im späten Mittelalter und auf dem Land", hält Dieter E. Zimmer schon in seinen Redens Arten fest: "Zwietracht wird gesät, ein Gebiet beackert, der Beifall geerntet."

Abgesehen von der zeitgenössischen Datenautobahn mutet selbst das Internet in sprachlicher Hinsicht eher mittelalterlich als modern an. Gutenberg und Columbus lassen grüßen. Obwohl wir im World Wide Web eher fliegen als segeln und mit der Geschwindigkeit einer Rakete um den Erdball flitzen, haben sich hier Sprachbilder festgesetzt, die an lange und zuweilen beschwerliche Schiffsreisen erinnern. Auf dem Datenmeer sind wir als Seefahrer, Entdecker oder Piraten unterwegs. Unser Klipper nennt sich (in Analogie zu landscape und seascape) Netscape oder Explorer, und die Embleme (Icons) dieser Browser-Flotte zeigen ein altes Steuerrad, einen Leuchtturm unter nächtlichem Himmel oder einen Globus mit Lupenglas. Da weit und breit kein Land in Sicht ist und weder Kompass noch Seekarte zur Verfügung stehen, ist die Navigation voller Tücken. Kein Wunder, dass es den meisten schwer fällt, den Kurs zu halten.

Wenn das Medium auch eine Botschaft ist, so zeichnet es hier etwa folgendes Bild: Information hat einen flüssigen Aggregatszustand. Sie mag zwar heute als schnell verderbliche Ware gehandelt werden, aber sie scheint gleichzeitig auch das Element zu sein, auf und in dem wir uns fortbewegen. Wir sprechen von Nachrichtenquellen, vom Datenstrom, von Informationsflut und Immersion. Wir bleiben an der Oberfläche oder gehen der Sache auf den Grund. So braucht es nicht weiter zu erstaunen, dass im Zusammenhang mit Computer und Internet immer wieder Metaphern aus dem Bereich des Wassers und der Schifffahrt auftauchen. Die virtuellen Handelsflotten (E-Commerce) haben ihre Werbebanner schon gehisst. Das Net ist zugleich Koordinaten-, Fischer- und Spinnennetz, mit dessen Hilfe die Infonauten ihre Daten orten und einholen.

Schon Cyberspace und Kybernetik gehen etymologisch auf den "Steuermann" (griech. kybernetes) zurück. Wer durchs weltumspannende Web surft, wird immer wieder auf nautische Begriffe stoßen: Anker, Kanal, Knoten, Log (Logbuch, Einloggen), Lotse, Navigation, Port. Die Seefahrerei zieht sich wie ein roter Faden durchs Netz der Netze. (Der übertragene Gebrauch von "roter Faden" geht übrigens von Goethes Wahlverwandtschaften aus: Seit dem 18. Jahrhundert wurde in den Schiffstauen der englischen Marine jeweils ein roter Faden eingewirkt, der sich durch das ganze Tau zog und damit selbst das kleinste Stück als deren Eigentum auswies.)

Das andere, ebenfalls nahezu unerschöpfliche Spendergebiet für Begriffe rund um Internet und Computer ist natürlich das Buchwesen. Das WWW wird gern mit einer Bibliothek verglichen. Daran erinnern auch Wörter wie Homepage, Browser, Lesezeichen, Scrollen, Blättern, Hypertext oder Webpublishing. Auch elektronische Post, schwarze Bretter, gelbe Seiten oder der virtuelle Desktop mit Ordnern und Papierkorb sind eng mit der Bilderwelt unserer traditionellen Schreib(tisch)kultur verknüpft und geben Hinweise darauf, dass wir hin und wieder neuen Wein in altvertraute Schläuche füllen. Auch dies scheint schon Goethe bemerkt zu haben: "Die Gewalt einer Sprache ist nicht, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es verschlingt." (Maximen und Reflexionen)

Literatur