Journalisten regieren mit - und wie!

Bild: Jon S/CC-BY-SA-2.0

Was Mainstream-Medien mit der Mainstream-Politik verbindet

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Der Politikwissenschaftler und Herausgeber der Zeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte", Thomas Meyer, entwickelt in seinem 2015 erschienenen Buch "Die Unbelangbaren" (s. "Die große Meinungsvielfalt in der deutschen Presse ist Geschichte") zwei Thesen, auf die ich etwas näher eingehen möchte.

Die eine These lautet, dass Journalisten (nicht immer, aber immer öfter) Grenzen überschreiten; statt über Politik zu berichten und sie zu kommentieren, regieren sie mit (oder versuchen es), greifen also auf anmaßende und illegitime Weise ins politische Geschehen ein. Die zweite These besagt, dass Journalisten nie befürchten müssen, für solches Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen zu werden; sie seien, wie Meyer sagt, "unbelangbar".

Ist da etwas dran? Zunächst zum Thema "Mitregieren". Meyer schildert gleich zu Beginn seines Buches einen Fall, einen Eklat, der vielen noch in Erinnerung sein dürfte. Er spielte sich am 26. März 2014 ab, im "heute journal" des ZDF. An diesem Tag mutierte das Fernsehstudio zum Gerichtssaal. In der Rolle des Staatsanwalts: Claus Kleber. In der des Angeklagten: Joe Kaeser, Vorstandschef der Siemens AG. Hauptanklagepunkt: Während der sich aufheizenden Ukraine-Krise hatte Kaeser eine Geschäftsreise unternommen, ausgerechnet nach Russland, ausgerechnet zu Wladimir Putin. Aus Klebers Sicht war damit die rote Linie überschritten.

Wie auch immer man das bezeichnen will, was der ZDF-Mann mit seinem Gast veranstaltete - ein Interview war es jedenfalls nicht. Zwei Tage später sah sich Kleber selbst an den Pranger gestellt, und zwar durch einen anderen Alpha-Journalisten, den inzwischen verstorbenen FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher. In einem zornigen Artikel (FAZ, 28.3.2014) rechnete er mit seinem Kollegen gnadenlos ab, geißelte dessen "journalistisches Übermenschentum", warf ihm vor, statt eines Interviews ein inquisitorisches Verhör abgeliefert zu haben.

[Schirrmachers] Artikel […] befasst sich […] mit der Neigung maßgeblicher Großjournalisten, ihr Publikationsprivileg zu missbrauchen, um selbst im politischen Prozess mitzumischen, ja, um mitzuregieren, anstatt sich auf die Aufgaben zu konzentrieren, die ihnen im demokratischen Gemeinwesen zukommen: die treuhänderische Information über das politische Geschehen sowie die Orientierung durch Kommentare, die sachlich formuliert und als Meinungsäußerungen gekennzeichnet sein müssen.

Thomas Meyer

Seine Kernthese, dass Journalisten mitregieren, belegt Meyer insbesondere anhand der medialen Demontage des einstigen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück und der Kampagne gegen den CDU-Bundespräsidenten Christian Wulff. Journalisten, so beklagt er, fallen immer öfter aus der ihnen zugewiesenen Rolle.

Dem möchte man zustimmen. Jedoch: Ließe sich nicht gerade an den Fällen Steinbrück und Wulff demonstrieren, dass beide Politiker nicht lediglich Opfer waren, sondern sich der Medien zeitweise auch bedient, sie sogar regelrecht instrumentalisiert haben? Und: Greift denn nicht jeder politische Journalist, gewollt oder ungewollt, in politische Prozesse ein? Ob er eine von der Regierung lancierte Erfolgsmeldung verbreitet oder aber Regierungspropaganda durch eigene Recherche konterkariert - begibt er sich nicht zwangsläufig aufs politische Feld?

Wie also muss man sich das Verhältnis zwischen Medien und Politik vorstellen? Ist es tatsächlich so, wie Meyer - zumindest zwischen den Zeilen - nahelegt: dass wir auf der einen Seite die demokratisch legitimierte Politik haben und auf der anderen Seite Medien, die immer wieder ihre Kompetenzen überschreiten und sich illegitimerweise in Dinge einmischen, aus denen sie sich tunlichst heraushalten sollten? Nein, so ist es nicht.

Dieser Text ist in ähnlicher Form auch im Buch Lückenpresse - Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten erschienen. Ulrich Teusch zeigt darin die Gründe für die Vertrauenskrise der Medien, etwa die Unterdrückung wesentlicher Informationen und das Messen mit zweierlei Maß. Beide Defizite sind in unserem Mediensystem strukturell verankert. Und wenn sich daran nichts ändert, so Teusch, wird sich das Siechtum der Mainstreammedien fortsetzen.

Fall Wulff: Medien oder Journalisten können als Verstärker einer Seite wirken

Betrachten wir die Kampagne gegen den Bundespräsidenten Wulff. Ich unterstelle, dass viele Journalisten, die sich an ihr beteiligten, nicht von tiefergehenden politischen oder strategischen Überlegungen geleitet wurden. Das war Rudeljournalismus reinsten Wassers. Sie hatten Blut geleckt und wollten einfach mal sehen, ob sie diesen Mann zur Strecke bringen können. Ein eher sportlicher Ehrgeiz also.

Dass es die Medien waren, die im "Fall Wulff" das "hohe Amt beschädigt" haben, dürfte inzwischen jedermann klar sein. Aber es gab zweifellos auch Journalisten, die anders motiviert waren. Ein "Meinungsführer" wie Berthold Kohler, FAZ-Mitherausgeber, würde sich verbitten, zum Rudel gezählt zu werden. Wenn einer wie er auf einen wie Wulff losgeht und einen boshaften Kommentar nach dem anderen vom Stapel lässt, dann kann man das nicht mehr mit sportlichem Ehrgeiz erklären. Kohler hat sich sogar als Lyriker profiliert und auf den FAZ-Seiten unter dem Titel "Lummerland" im Februar 2012 denkwürdige Reime veröffentlicht. (Als mir dieses Elaborat vor Augen kam, fühlte ich mich spontan an einen Karl-Kraus-Aphorismus erinnert: "Der Friseur erzählt Neuigkeiten, wenn er bloß frisieren soll. Der Journalist ist geistreich, wenn er bloß Neuigkeiten erzählen soll. Das sind zwei, die höher hinaus wollen.")

Was also mag Kohler zu seinem Feldzug bewogen haben? Hat er sich den ganz allein ausgedacht? Hat er auf eigene Rechnung gehandelt? Verfolgte er seine höchstpersönliche Agenda, unbekümmert darum, was wohl die Unionsparteien dazu sagen werden? Das ist eher unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher dürfte sein, dass er sich auf politische Kräfte stützte, die - wie er - wenig erbaut davon waren, dass da ein Mann das höchste Amt im Staate bekleidet, der den Bankern die Leviten liest, der behauptet, auch der Islam gehöre inzwischen zu Deutschland oder der sich untersteht, von einer "bunten Republik" zu reden. Irgendwann ist es Kohler & Co. wohl einfach "zu bunt" geworden. Hätte sich der FAZ-Mann mit seiner Haltung allein auf weiter Flur gewusst, wäre er vermutlich zurückhaltender gewesen, insbesondere nicht unter die Dichter gegangen.

Der Verdacht kommt auf: Wenn Medien oder Journalisten "mitregieren", dann nicht autonom oder aus eigener Machtvollkommenheit. Sie schließen sich vielmehr einer in der Politik bereits existierenden Strömung an und ergreifen zu deren Gunsten Partei.

Fall Ypsilanti: Medien verfolgen keine eigene Agenda

Betrachten wir einen weiteren Fall, der als Beleg für diese These dienen kann: Andrea Ypsilanti. "Ich möchte zur Wahl der Ministerpräsidentin eine eigene Mehrheit ohne die Linkspartei haben, und dabei bleibt es auch, und ich finde, das ist ne klare Aussage." So sprach Andrea Ypsilanti im hessischen Wahlkampf 2008. Kurz nach der Wahl hat die Hessen-SPD ihren Kurs geändert. Nun also doch mit den Linken. In der Öffentlichkeit kam das als Wortbruch an. Für Andrea Ypsilanti persönlich bedeutete es das wohl unwiderrufliche Ende ihrer politischen Karriere.

Ich will die Affäre an dieser Stelle nicht nochmals aufdröseln; alles Schnee von gestern. Aber wichtig bleibt: Nachdem sie ihr Wort gebrochen hatten, wurden Ypsilanti und die Hessen-SPD Opfer einer heftigen Medienkampagne. Der Wortbruch wurde in einer Weise skandalisiert, wie man es in vergleichbaren Fällen ("Wir werden nach der Wahl die Steuern senken!") noch nicht erlebt hatte. Der Tenor: So etwas tut man nicht! So etwas gehört sich nicht! So kann man mit den Wählern nicht umspringen!

Die Medien gerierten sich als Wächter der politischen Moral. Oberflächlich betrachtet, lagen sie damit auch richtig. Und selbstverständlich hätte Ypsilanti wissen können und müssen, dass sie mit ihrer Entscheidung, ihr Wahlversprechen zu revidieren, genau diese Moraldebatte heraufbeschwören würde; eine Debatte, die sie nie und nimmer gewinnen konnte.

Doch schaut man genauer hin, entdeckt man das große "Aber". Denn was Andrea Ypsilanti hier erlebte, war eine Moraldebatte, die nichts mit Moral zu tun hatte. Wie ist das zu verstehen? Denken wir wieder einmal kontrafaktisch und stellen uns eine andere Konstellation vor. Nehmen wir an, Ypsilanti hätte sich vor der Wahl offen zu einer rot-rot-grünen Koalition bekannt und eine Koalition mit Roland Kochs CDU kategorisch ausgeschlossen. Am Wahlabend stellt sich heraus, dass weder eine SPD-geführte noch eine CDU-geführte Landesregierung möglich ist. Nach parteiinternen Debatten entschließt sich die SPD zur großen Rochade und will es nun doch mit der CDU versuchen. Sie nimmt Koalitionsverhandlungen auf und wenige Wochen später sitzt Ypsilanti neben Koch auf der Regierungsbank.

Was wäre geschehen? Ypsilanti hätte fraglos einige ihrer Anhänger enttäuscht. Aber die große Moraldebatte, die Medienkampagne wären ihr erspart geblieben. Mehr noch: Die meisten Medien hätten sie gegen Kritik aus der eigenen Partei wohl in Schutz genommen, hätten sie für ihren Mut und ihre Flexibilität gelobt, auch dafür, dass sie über ihren Schatten gesprungen sei und kleinliche parteipolitische Erwägungen dem großen Ganzen, dem Gemeinwohl untergeordnet habe. Vielleicht hätte man ihr sogar "staatsmännische Weisheit" attestiert.

"Doppelstandards", wie man sieht. Auch im "Fall Ypsilanti" regierten die Medien mit. Doch auch hier verfolgten sie keine eigene Agenda. Sie nahmen Partei, schlugen sich auf die Seite der politischen Gegner Ypsilantis - und die saßen nicht nur in der CDU, sondern auch in der Berliner SPD-Zentrale.

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