Lobbyismus: König Bertelsmann

Bild: NRW-Piratenfraktion

Eine Große Anfrage der NRW-Piraten zeigt, wie weit das Unternehmen in die Politik-Bereiche vorgedrungen ist

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Joachim Paul von der Fraktion der Piratenpartei verteidigte kürzlich im NRW-Landesparlament die Große Anfrage der Piraten zu Lobbyismus und Einfluss von Bertelsmann.

Das wirtschaftsstärkste Bundesland NRW ist von Bevölkerung und BIP her eine "europäische Mittelmacht". Das Land beherbergt in Gütersloh nicht nur den Hauptsitz des Bertelsmann-Konzerns und seiner Stiftung sowie ein Bertelsmann-Projekt in Sachen Politik-Privatisierung, sondern in Ostwestfalen auch den Wahlkreis des Europa-Politikers Elmar Brok (CDU), der für enge und langjährige Beziehungen zu dem Konzern bekannt ist und in Brüssel auch schon als "Mister Bertelsmann" bezeichnet wurde.

Dazu gibt es noch die Bertelsmann-Tochter Arvato, die das ServiceCenter der Landesregierung technisch betreut, die ihren Beitrag zum Funktionieren der Regierung in Düsseldorf aber nicht an die große Glocke hängt.

Lobbyismus in NRW: Eine völlig neue Dimension

Der Begriff Lobbyismus erhält damit in NRW eine völlig neue Dimension: Dort verwaltet Bertelsmann inzwischen buchstäblich den Schlüssel zur Lobby der Landesregierung selbst, wie man erstmals durch diese Anfrage der Piraten Anfang Dezember erfahren konnte.

Die Landeshauptstadt Düsseldorf wurde Schauplatz der mit 55 Minuten hierzulande vermutlich bislang längsten parlamentarischen Redeschlacht über den Einfluss eines Lobbyisten: Bertelsmann (Videomitschnitt ab 5:35 - 6:30).

Der Piraten-Politiker Joachim Paul verwies in seiner Rede zum Debattenstart auf einen Telepolis-Artikel über Arvato: Er warnte vor dem durch die Bertelsmann-Tochter Arvato drohenden Zusammenwachsen der medialen Macht mit ehemals staatlichen Strukturen der Überwachung zu einem neuen Mechanismus der sozialen Kontrolle.

Die Piraten hatten in ihrer großen Anfrage im Frühjahr der rot-grünen Landesregierung noch einmal ausgiebig die Debatte um Lobbyismus im Allgemeinen und die dominierende Rolle von Bertelsmann-Stiftung und Bertelsmann-Medienkonzern bei der Politikprivatisierung im Besonderen vorgehalten. Detailliert wie nie zuvor wurde der Regierung qua ihrer parlamentarischen Rechenschaftspflicht auf den Zahn gefühlt.

Die Regierung von Hannelore Kraft (SPD) sah sich in ihrer Antwort (PDF) genötigt, in knapp 50 Seiten aufzulisten, was an Kontakten, Geschäften und Verträgen zwischen ihrer Regierung und Bertelsmann in den letzten zehn Jahren gelaufen war. Die Piraten hatten 25 Jahre zurückgehen wollen, doch dies sei u.a. aus Gründen mangelnder Dokumentation nicht möglich gewesen.

Man kann nun sehen in welche Bertelsmann-Projekte Steuergelder fließen, z.B. 5 Millionen in das Projekt Kein Kind zurücklassen, das u.a. die durch Hartz-IV bedingte Kinderarmut kompensieren soll und offenbar durch das Projekt "No Child Left Behind" von George W. Bush (letztlich ein Bildungsfiasko) inspiriert wurde.

Eine tabellarische Auflistung der Treffen von Regierungsbeamten mit Bertelsmann zieht sich in der Antwort über 13 Seiten hin, wie die Piraten twitterten.

Fehlende Nachdenklichkeit bei Politikern aller Fraktionen

Joachim Paul kritisierte die mangelhafte Reflexion der "Lobbyismusgefahr" in der Antwort. Es sei auch Bertelsmanns besonders starken Einflüssen in der Bildungs- und Hochschulpolitik zu verdanken, dass Hochschulen nur noch Rechtsaufsicht, nicht mehr der Berichtspflicht gegenüber der Landesregierung unterliegen, personalpolitisch rotiere die Drehtür zwischen Politik und Bertelsmann, was die Regierung mit Hinweis auf Datenschutz nicht beantworten wolle.

Man sehe die Bertelsmann-Stiftung als neutralen Think Tank, obwohl Bertelsmann im Lobbyregister der EU Brüssel schon als drittgrößter Lobbyist geführt werde. Die Regierung habe 86 Aufträge an Bertelsmann vergeben, Aufwendungen von 6,7 Millionen Euro etwa für den Betrieb ServiceCenter der Landesregierung. Dort beantworte Arvato (nach eigenen Angaben) inzwischen die meisten Bürgeranfragen abschließend.

80% aller eingehenden Bürgerkontakte, werden bereits im Erstkontakt fallabschließend durch die Arvato-Mitarbeiter bearbeitet. Das heißt vier von fünf Bürgeranfragen kommen nicht an die Exekutive heran, sondern werden schon vorher von einer privaten Firma erledigt. Die Politik der ausgestreckten Hand verkommt zur Politik des erhobenen Mittelfingers.

Joachim Paul

Die in der Debatte aufmarschierenden Etablierten wirkten gegen die erfrischende Kritik des Piraten wie eine Parade von Bauchrednerpuppen. Unisono bestritten die rot-grüne Regierungsfraktionen wie auch CDU und FDP jede "anstößige" Einflussnahme Bertelsmanns. Nun war gewiss keine Welle von reuigen Selbstanzeigen der Bestechlichkeit und Vorteilsnahme unter den Politikern zu erwarten gewesen.

Das völlige Fehlen jedweder Nachdenklichkeit, geschweige denn Kritik gegenüber der schieren Masse des Bertelsmann-Einflusses auf die Regierung, ist dennoch frappierend. Stereotyp wiederholten die Etablierten, was schon die Antwort der Regierung behauptete: Keine der vielen Stiftungen und Gruppen in NRW würde von der Politik bevorzugt gehört, alle hätten die gleiche Chance, sich in die Gestaltung des Landes einzubringen.

Die Piraten hatten im Vorfeld ihrer Anfrage bei einer Recherche auf dem Webserver des Landtages für das Stichwort "Bertelsmann-Stiftung" 1.370 Treffer erhalten, für die "Bosch-Stiftung" lediglich 69 Treffer, die "Körber-Stiftung" kam auf 27 Treffer (beide sind ebenfalls große Unternehmensstiftungen - die Körber-Stiftung ist eine Unternehmensträgerstiftung).

Die SPD sah "kein Indiz" für die "unterstellte Anstößigkeit", die FDP warf den Piraten Skandalisierung vor, die Grünen warnten sogar, Bertelsmann dürfe nicht "dämonisiert" werden, die CDU wollte keinen Erkenntnisgewinn durch die Anfrage der Piraten gesehen haben, was Pirat Paul mit einer Kurzintervention ad absurdum führen konnte: Es würden sich bereits drei Wissenschaftler mit der Auswertung der Antwort beschäftigen. Derartiges kann man bei den wenigsten Parlamentsdokumenten vermuten.

Generell kann man bei den Parlamentariern wohl eine für heutige Machteliten übliche Realitätsblindheit konstatieren, die besonders für ihre eigene Verstrickung mit den Geldeliten wirksam ist. Bertelsmann gilt den Machteliten wohl deshalb immer noch als nur "heimlicher" Lobbyist, weil der Medienkonzern sich dank seiner Medienmacht aus den Schlagzeilen des Mainstream heraushalten kann.

Zumeist macht er diese selber. Wer das Internet nutzen kann, weiß es besser, etwa von Lobbypedia. Das Sich-Dumm-Stellen der Parlamentarier wirkt heute auf viele Menschen lächerlich.

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