Wir sind alle zum Tantalus-Komplex verurteilt

Tantalus von Gioacchino Assereto (Ausschnitt). Tantalus_Gioacchino_Assereto_circa1640s.jpg:Bild: Landesmuseum Joanneum, Graz/gemeinfrei

Die Qualen der Konsumgesellschaft

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Unter den vielen Komplexen, denen der heutige Mensch zum Opfer fällt, gibt es einen, der vielleicht mehr als die anderen den Sinnhorizont (oder den Unsinnhorizont) der heutigen Konsumgesellschaft ausmacht.

Das ist der Sinn, den ich Tantalus-Komplex nennen möchte. Gemäß einer schönen Darstellung der griechischen Metaphysik des "richtigen Maßes" ist die Strafe, die die Götter gegen den König von Lydien verhängen - die unbegrenzte Unfähigkeit, seinen Durst zu stillen -, heute unsere unbedachte und natürliche Art zu leben und zu produzieren geworden - in Form einer "schlechten Unendlichkeit" (Hegel) zu Lasten des Planeten und des menschlichen Lebens.

Für die Griechen war Tantalus' Strafe abscheulich. Und somit eine Warnung an die Sterblichen, einen sicheren Abstand zu den verlockenden Sirenen des Unbegrenzten, des Immer-mehr, des Exzesses zu wahren.

Für uns postmoderne Menschen wird das hingegen zur alltäglichen Szene: Wir alle sind wie Tantalus, immer auf der irrsinnigen Suche nach neuen Produkten, neuen Waren, neuen Konsumgütern, die im Verbrauch verschwinden, um im Umlauf wieder aufzutauchen.

Tantalus' Qualen nehmen also den Status der makabren Voraussetzung der Konsumgesellschaft an. In ihr nähren die Wünsche, dank der Diktatur der Werbung, das Trugbild des Konsums und der grenzenlosen Produktion.

Jeder Wunsch ist die Basis für die sofortige Massenproduktion neuer Anreize und neuer desiderativer Triebe, ganz nach der geheimen Prämisse des plus ultra, in der sich die Metaphysik der Unbeschränktheit zusammenfassen lässt, die unser Leben und unsere Gedanken auszeichnet.

Die Coca-Cola, die unaufhörlich den Durst weckt, in der Illusion ihn zu stillen, ist die moderne Version der Tantalus-Qualen, zum Habitus einer gewöhnlichen, der Konsumgesellschaft eigenen Entfremdung verwandelt.

Daraus erfolgt die überall um sich greifende Figur des letzten Menschen, der zur Tantalusqual des zwanghaften Vergnügens verurteilt ist, immer wieder neu beginnend und ständig unzufrieden, zynisch und individualistisch, auf dem blinden Glauben in die Dinge und ihren falschen Versprechungen von Erlösung zentriert.

Das ist der Wahnsinn des Mannes, der unsinnigerweise Öl in löcherne Krüge füllt und den Plato im Dialog Gorgias beschwört.

Übersetzung Jenny Perelli

Diego Fusaro, 1983 in Turin geboren, lehrt Philosophie an der Mailänder Universität. Als unabhängiger Freidenker, intellektueller Dissident, der politisch weder rechts noch links anzusetzen ist, verblüfft er seit geraumer Zeit ganz Italien mit seiner eigenwilligen, neoidealistischen Auslegung des Marxschen Gedanken. In seinen Büchern beschreibt er die Widersprüche des Systems und des Lebens des postmodernen Menschen. Fusaro betreibt die Website filosofico.net.