Das venetische Volk wird zur "nationalen Minderheit"

Venedig im 18. Jahrhundert. Bild: Giovanni Badoer

Die italienische Region erklärt Venetisch zur zweiten Amtssprache und beansprucht Rechte, wie sie deutschsprachigen und rätoromanischen Südtirolern zugestanden wurden

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Die Region Venetien hat ein Gesetz erlassen, mit dem das venetische Volk - gleich den deutschsprachigen und rätoromanischen Südtirolern - zur nationalen Minderheit erklärt wird. Das Venetische würde zur zweiten Amtssprache werden, wobei der linguistische Aspekt bei der Gesetzesinitiative keine Priorität war (vgl. Venetien soll durch ein Referendum unabhängig werden).

Venetien will den italienischen Staat zur Anwendung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates zwingen, das Italien bereits im Jahr 1997 ratifiziert hatte. Es geht allerdings um mehr als den kulturellen und sprachlichen Schutz der historischen Minderheit.

Geld spielt eine Rolle

Vorrangig bei diesem Autonomiebestreben ist, angesichts Venetiens Wirtschaftskraft(5 Mio. Einwohner überweisen jedes Jahr an die 20 Mrd. € Steuern), die zentral von Rom aus entschiedene Umverteilung öffentlicher Gelder, die von Venetien als unfaire Gängelung empfunden wird. Man füge noch hinzu, dass zur Zeit nicht ein einziger venezianischer Minister in der Regierung Gentiloni amtiert.

"Wir sind diese Trinkgelder leid, die uns dieser Schurkenstaat graziös zubilligt", beanstandet der Regionalratsabgeordnete Riccardo Barbisan aus den Reihen der Lega Nord, "wir müssen mit allen Mitteln unsere bedeutende Geschichte und unsere Kultur verteidigen." Die Lega Nord ist in Venetien die stärkste Partei und schmettert schon seit Jahren ihren Kampfruf "Roma ladrona" (Rom, die große Diebin) dem "mafiaregierten" Zentralstaat entgegen.

Unabhängig soll Venetien ihrer Meinung nach sein, frei von Rom und seinen korrupten Machenschaften. So wie Südtirol oder Sizilien, soll auch Venetien eine Region mit Sonderstatut werden, mit einer weiterreichenden Autonomie in den Bereichen Finanz, Gesetzgebung und Verwaltung.

Lange eigene Geschichte

Der Präsident der Region Venetien, Luca Zaia von der Lega Nord will mit einem Referendum diese Unabhängigkeit schon bald Wirklichkeit werden lassen. 52 Prozent der befragten Veneter sollen sich bereits dafür ausgesprochen haben.

Die Veneter sind sich ihrer bedeutenden Geschichte wohl bewusst, was ihre Unzufriedenheit über die aktuelle Lage sicher zum Teil miterklärt. Wo die Region nur kann, fördert sie die venetische Identität - historisch gehörte die gesamte Region zur Republik Venedig, der Löwenrepublik, einer Handels- und Seemacht, deren Einfluss sich mehrere Jahrhunderte lang über weite Teile Europas, Asiens und Afrikas erstreckt hatte.

Die mittelständische Schicht Venetiens ist heute sowohl Europas als auch der Globalisierung überdrüssig und zweifelsohne ist sie für die Slogans der so genannten "populistischen" Strömungen anfällig - doch das ist nicht nur in Venetien, sondern landesweit ein Argument.

Tatsächlich scheint momentan ganz Italien zu protektionistischen Gedanken zu tendieren. Ob das eine Hyperreaktion auf das jüngste politische (internationale?) Geschehen ist und ob die Restauration eines voreuropäischen - und somit autonomen - italienischen Nationalstaates überhaupt durchführbar wäre, sei dahingestellt. Der negative Ausgang des Verfassungsreferendums hat jedoch eine klare Distanzierung der Wählerschaft zum bis dato eingeschlagenen politischen Kurs aufgezeigt, was bei den nächsten Wahlen wiederum sehr dem Movimento 5 Stelle und der Lega Nord zugutekommen dürfte.

Sozialdemokraten glauben, dass man Kinder "mit einem alten Dialekt von der modernen Welt fernhält"

Die Sprecherin des regionalen Partito Democratico, Alessandra Moretti ist da ganz anderer Meinung. Sie sieht die Bürger Venetiens nicht als Veneter, sondern als Italiener und Europäer und sie wünscht sich, dass die Kinder neue Sprachen und neue Technologien lernen und sich nicht mit einem alten Dialekt der modernen Welt fernhalten.

Aber das ist eben der zentrale Punkt: es geht beim neuen regionalen Gesetz gar nicht so sehr um die Sprache. Es geht um viel viel mehr. Loris Palmerini, Präsident des Istituto di lingua Veneta (Institut der Venetischen Sprache) und des Interessenträgers Aggregazione Veneta erklärt: "Niemand wollte einzig die sprachliche Unabhängigkeit. Wer das behauptet, verbreitet eine Unwahrheit. Vor allem die Zeitung Corriere del Veneto ist für diese ablenkende Fehlinformation verantwortlich. Wenn es allein um die sprachliche Unabhängigkeit gegangen wäre, dann hätte das die Region Venetien gar nicht allein entscheiden können, denn gemäß unserer Verfassung hat der Staat die ausschließliche Gesetzgebung im Bereich des Schutzes der sprachlichen Minderheiten. Nicht die Regionen."

Die Region Venetien wollte, dass Italien dieselbe Europarat-Konvention, die auf nationaler Ebene den rechtlichen Rahmen für den Schutz der Roma-Gemeinschaften, der Sinti und der sizilianischen Wanderer bietet, auch auf das venetische Volk anwendet.

Da ist es nun wirklich völlig einerlei, ob das Venetische eine eigenständige indogermanische Sprache ist oder "nur" ein Dialekt, obwohl das sprachwissenschaftlich natürlich höchst interessant ist.

Professor Michele Cortelazzo lehrt Linguistik an der Universität von Padua und zieht einen anregenden Vergleich zum Friulanischen Dialekt: "Wenn ein Dialekt, der im Reich der Spontaneität anzusiedeln ist, zur Sprache wird und deshalb einer Kodifizierung und Standardisierung bedarf, besteht die Gefahr, mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Ich denke da an das, was im Friaul geschieht, wo gerade versucht wird, eine Art von Friaul zu konsolidieren, die von niemandem gesprochen wird."

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