Armut in Deutschland: Keine volle Mahlzeit im reichen Land

Deutsche verfügen über geringeres Nettovermögen als viele andere Europäer

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"An Millionen Deutschen geht das vermeintliche Arbeitsplatzwunder in Deutschland komplett vorbei. Sie sind arm trotz Arbeit und haben massive Probleme, den täglichen Bedarf zu bestreiten." Das sagte die Arbeitsmarktexpertin der Linken, Sabine Zimmermann, den Ruhr Nachrichten.

Der Grund für die Äußerung Zimmermanns: Eine Statistik des Statistischen Bundesamtes, die die Linksfraktion ausgewertet hat, zeigt auf, wie groß die Zahl prekärer Lebensverhältnisse in Deutschland mittlerweile ist. Die Statistik zur sogenannten "materiellen Entbehrung" bringt zum Vorschein: 1,7 Millionen Menschen in Deutschland haben so wenig Einkommen zur Verfügung, dass sie sich nicht einmal jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten können.

Doch die Zahl derer, die erhebliche Probleme haben, ihr Leben finanziell zu bestreiten, ist weitaus größer. Laut der Statistik sind 10,6 Millionen Menschen trotz Arbeit nicht in der Lage, Rücklagen für unvorhergesehene Auslagen zu bilden. Das entspricht fast 30 Prozent aller Erwerbstätigen.

Mit diesen Zahlen vor Augen wird deutlich: Auch in Deutschland gibt es eine große Gruppe der Bevölkerung, die zu den working poor gehört, also jenen Menschen, die trotz Arbeit arm oder zumindest armutsgefährdet sind (Die Armen in Deutschland).

Die Statistik zeigt außerdem auf, dass 5,7 Millionen der Erwerbstätigen es nicht schaffen, finanziell einmal im Jahr einen Urlaub von einer Woche außerhalb ihres Zuhauses zu stemmen. Das entspricht einem Anteil von 15,5 Prozent der Beschäftigten. Laut der Statistik können des Weiteren 1,8 Millionen der arbeitenden Bevölkerung nicht immer pünktlich ihre Miete zahlen oder andere Rechnungen begleichen, 1,3 Millionen Beschäftigte haben zudem nicht genug Geld, um ihren Wohnraum angemessen zu heizen.

Laut Focus Online stammen die Daten aus dem Jahr 2015. Erfasst wurden Menschen ab ihrem 16. Lebensjahr. Nach EU-Definition liegt eine "materielle Entbehrung" dann vor, "wenn für einen Haushalt nach Selbsteinschätzung wegen finanzieller Probleme vier der folgenden neun Kriterien zutreffen:"

  • Finanzielles Problem, die Miete oder Rechnungen für Versorgungsleistungen rechtzeitig zu bezahlen.
  • Finanzielles Problem, die Wohnung angemessen heizen zu können.
  • Finanzielles Problem, unerwartete Ausgaben in einer bestimmten Höhe aus eigenen finanziellen Mitteln bestreiten zu können.
  • Finanzielles Problem, jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gleichwertige vegetarische Mahlzeit einnehmen zu können.
  • Finanzielles Problem, jährlich eine Woche Urlaub woanders als zu Hause zu verbringen.
  • Fehlen eines Pkw im Haushalt aus finanziellen Gründen.
  • Fehlen einer Waschmaschine im Haushalt aus finanziellen Gründen.
  • Fehlen eines Farbfernsehgeräts im Haushalt aus finanziellen Gründen.
  • Fehlen eines Telefons im Haushalt aus finanziellen Gründen.

Als Grund für die Armutsprobleme führte Zimmermann den großen Niedriglohnsektor sowie die zunehmende Teilzeitarbeit an.

Dass es in Deutschland für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung sehr schwer ist, sich materiell abzusichern, zeigt auch die aktuelle Studie der Europäischen Zentralbank (EZB) auf. Sie verdeutlicht, dass die Erfolge einer starken Wirtschaftsleistung in Deutschland bei einem großen Teil der Bevölkerung nicht ankommen. "Die meisten Bundesbürger besitzen deutlich weniger als andere Europäer", heißt es in der SZ. Die Ursache ist der geringe Immobilienbesitz, der europaweit 82,2 Prozent des Vermögens ausmacht. In Deutschland liegt der Prozentsatz der Menschen, die in eigenen Immobilien leben, bei 44 Prozent, in Frankreich hingegen bei 58,7 Prozent, in Italien bei 68,2 Prozent, in Griechenland bei 72,1 Prozent, in Ungarn bei 85,2 und in der Slowakei sogar bei 85,4 Prozent.

Ganz deutlich wird in der Studie, dass der Wohlstand aber in allen Ländern und im gesamten Euroraum höchst ungleich verteilt ist. Die reichsten 10 Prozent besitzen mehr als die Hälfte des Vermögens, ganz unten sind 5 Prozent verschuldet, die reichsten 10 Prozent haben ein durchschnittliches Vermögen von 497.900 Euro, die ärmsten 10 Prozent von 1.000 Euro:

If the euro area population is divided into 100 equal groups, or percentiles, sorted by increasing levels of net wealth, the 50th percentile, or the median, has wealth equal to €104,100; the 10th percentile has wealth equal to less than one hundredth of the median (€1,000); the 90th and 95th percentiles own almost five times (€496,000) and over seven times (€743,900) the median respectively. At the top of the wealth distribution, the wealthiest 10% of households own 51.2% of total net wealth; at the bottom, about 5% of households have negative net wealth.

EZB

Wie die SZ feststellt, bestätigte die EZB-Studie die Tendenz einer anderen Studie aus dem Jahr 2013. Demnach sei die Bundesrepublik zwar seit vielen Jahren der wirtschaftliche Motor Europas, aber die Bevölkerung Deutschlands spüre davon wenig. Konkret: Nach dem Abzug der Schulden haben die Haushalte in Deutschland ein Median-Nettovermögen von 60.800 Euro. In Österreich liegt es mit 85.900 schon deutlich höher. In einigen Krisenländern beträgt das Mediennettovermögen wie in Italien 146.200 Euro oder in Spanien 159.600 Euro, in Irland sind es 100.000 Euro, in Portugal auch noch 71.200 Euro. Griechenland liegt mit 65.000 Euro noch vor Deutschland, Estland, Lettland oder Ungarn jedoch deutlich darunter.

Auch der "geringe Verdienst" bei einem Teil der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland führe zu dem geringen Nettovermögen: "Laut Sachverständigenrat der Bundesregierung bilden Haushalte unter 2000 Euro Nettoeinkommen im Schnitt gar kein Vermögen. Sie verschulden sich." Eine Feststellung, die nahtlos an die eingangs des Artikels angeführte Statistik des Statistischen Bundesamtes anknüpft.