Der "Ernstfall Frieden" und die Einflüsterungen der Revisionisten

London während des Zweiten Weltkrieges. Bild: US-National-Archives (195566) / gemeinfrei

Der kritische Militärhistoriker Wolfram Wette wirft die Frage auf, ob in der Berliner Republik die zentrale Lehre "Nie wieder Krieg!" ihre Verbindlichkeit verliert

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Das soeben erschienene Werk "Ernstfall Frieden" von Wolfram Wette betrachte ich als herausragendes pazifistisches Buch-Ereignis zur Jahreswende 2016/2017. Die Zeit drängt. Aktion tut Not. Lesen hilft, Energien freizusetzen und Sackgassen zu meiden. Meine im Folgenden ausgeführte Buchempfehlung enthält viele Elemente einer Rezension. Gleichwohl möchte ich sie nicht als Rezension bezeichnen.

"... wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat"

Jahrzehntelange Mühen um eine "Geschichtsschreibung im Dienst des Friedens" (Dieter Riesenberger) und zahlreiche pazifistische Einsprüche aus den letzten Jahren sind eingeflossen in diese Neuerscheinung des namhaften kritischen Militärhistorikers und Friedensforschers. Der Autor führt seine Leser durch Abgründe der deutschen Geschichte - jedoch ohne Fatalismus.

Das Buch ist keine Kriegs-Geschichtsschreibung, sondern ein Friedensdiskurs entlang der geschichtlichen Kriegs- und Friedensdiskurse. Mit dem Inhaltsverzeichnis und dem Untertitel "Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914" wird der Zeitraum eines Jahrhunderts abgesteckt.

Hundert Jahre bis zur Gegenwart, das ist - von verschiedener Warte aus betrachtet - zu wenig oder auch zu viel. Die beiden von Deutschland zu verantwortenden Weltkriege waren keine unerklärlichen "Jungfrau-Geburten", sondern Erzeugungen einer ganz und gar männlichen sowie ganz und gar deutschen Gewalt-"Religion". Heinrich Heine sah - eingedenk der Totalitäten im deutschen Denkerkosmos - schon 1834 etwas nie Dagewesenes auf die Menschheit zukommen:

Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht.

Heinrich Heine

Der durch Kriege gezeugte erste deutsche Nationalstaat markiert nicht das Ende, sondern die Inflation von "Preußens Gloria". Die auch im kleinsten Dorf agierenden Schulmeister und Kriegervereine missionierten das Kaiserreich mitnichten unter den Vorzeichen von Humboldtschem Bildungshumanismus und Kants "Ewigem Frieden".

Die preußische Heilslehre

Wer von der neueren deutschen Geschichte sprechen will, darf vom preußischen Militarismus und von der mit diesem einhergehenden Menschenverachtung nicht schweigen. Erschreckend sind die Warnrufe (und einzelne Ansätze zu Selbsterkenntnis) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Um 1900 kann die Militarisierung der deutschen Landschaften als weitgehend abgeschlossen gelten.

Freilich muss mit Blick auf das Kommende zwingend von Kapitalismus und Imperialismus die Rede sein. Doch dies meinen auf "globalgalaktische Weise" auch solche Autoren, die mitnichten antikapitalistisch und antiimperialistisch eingestellt sind. Ihnen geht es darum, die von Preußen ausgehende - durchaus spezifisch "deutsche" - Heilslehre des Kriegerischen unter den Tisch fallen zu lassen.

Mit Wolfram Wette, der ein prominenter Vertreter der kritischen Militarismus-Forschung ist, sollte man hingegen weit zurückgehen, um besser zu verstehen, was dem deutschen Kriegsdonnern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange im Voraus den Weg bereitet hat. Diese Notwendigkeit wird im neuen Werk auch verdeutlicht.

Nun behandelt Wolfram Wette jedoch das Jahrhundert ab 1914 keineswegs in gleichgewichtigen Kapiteln. Auf weiter Strecke sind der Erste Weltkrieg und seine Folgen die maßgeblichen Bezugspunkte der Darstellung. Die deutschen Militärs hofften 1914 auf einen schnellen Sieg, nahmen zugleich aber in Kauf, dass ihr Kriegsvotum Europa in ein Schlachthaus verwandeln könnte.

Hat am Ende im Gedenkjahr 2014 doch die Geschichtsverdrehung der revisionistischen Bestseller obsiegt, womit dann auch die Anschauung durchgesetzt wäre, es gäbe gar keine besonderen "Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914"?

"Gegen Pazifisten helfen nur Haubitzen"

Man nehme sich nur den Wikipedia-Eintrag zu Herfried Münklers Werk "Der Große Krieg" (2013) vor. Das Beste an diesem "arglosen" Artikel ist die in den Fußnoten untergebrachte Verlinkung zu kritischen Ausführungen von Rudolf Walter. Ansonsten geht es in diesem Wiki-Eintrag so schlafwandlerisch zu wie in Münklers Werk.

Die hohen Auflagen der beiden Bücher von Christopher Clark, dem Preußen-Liebhaber, und von H. Münkler, dem Ratgeber der Regierenden, können uns nicht gleichgültig sein:

Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.

George Orwell, 1984

Es bestehen durchaus Aussichten, dass angesichts dessen, was der Papst einen "Weltkrieg auf Raten" nennt, die Einflüsterungen der Revisionisten schon bald nicht mehr auf so viele leichtgläubige Ohren stoßen werden. In den nächsten zwölf Monaten wird das Weltkriegs-Gedenkjahr 2018 vorbereitet. Wolfram Wettes Buch "Ernstfall Frieden" steht hierbei zu Diensten. Es zeigt: Ein anderes Geschichtsgedächtnis ist möglich!

Gemeinhin wird diagnostiziert, die Weimarer Republik sei so etwas wie eine Demokratie ohne Demokraten und deshalb ohne Bestand gewesen. Das ist vielleicht weniger als die halbe Wahrheit. Ein schlimmes Erbe der Republik blieb der Militarismus, wie in Abteilung II von "Ernstfall Frieden" aufgezeigt wird. Es gab keinen Bruch mit dem Schwertglauben und weithin auch keinen Abschied von den alten kriegerischen "Eliten".

Die Soldaten durften nach Ausrufung der Republik das Mordhandwerk im Inneren weiter ausüben - und das gar unter Weisungen eines "National-Sozialdemokraten" wie Gustav Noske. Die preußische Parole hatte schon 1848 gelautet: "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten."

Die militaristische Rechte der Weimarer Zeit setzte dem etwas hinzu, was man so zusammenreimen könnte: "Gegen Pazifisten helfen nur Haubitzen." Die Pazifisten der Weimarer Zeit wurden an den Rand gedrückt, diskriminiert, bedroht und sogar ermordet. Einige von ihnen - so etwa Carl Mertens und Friedrich Wilhelm Foerster - waren mutige "Whistleblower" und enthüllten, wie im Geheimen ein neues deutsches Kriegswesen entstand.

Heute beschleicht uns ein Grauen, wenn wir die frühen Warnungen vor den Folgen von Antisemitismus und Militarismus einer neuen Lektüre unterziehen. Eine solche Relecture war freilich nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht erwünscht. Wer allein nur die Quellen zur Geschichte des Pazifismus in der Weimarer Republik zur Kenntnis nimmt, ist schon davor gefeit, den deutschen Faschismus irgendwie als Ergebnis einer plötzlichen Volksverführung im Jahr 1933 zu deuten.

Mit Blick auf die Entwicklung nach 1945 und Gegenwartsphänomene sollten nicht leichtfertige Vergleiche mit der Weimarer Republik angestellt werden, zumal dann nicht, wenn Hinweise auf entscheidende Unterschiede fehlen. Wolfram Wette legt großes Gewicht auf die Unterschiede. Er wirft jedoch die Frage auf, ob in der Berliner Republik die zentrale Lehre "Nie wieder Krieg!" ihre Verbindlichkeit verliert.

Die diesbezügliche Sorge ist mehr als berechtigt. Der letzte Text der Neuerscheinung trägt die Überschrift: "Die richtigen Lehren aus 1914: Deeskalation und nicht-militärische Konfliktbearbeitung."

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