Neue Beschriftungen für die Welt-Bilder

Lewis Hein: Kinderarbeit, 1908. Bild: Library of Congress/gemeinfrei

Die Errettung der Fotografie durch den Kritischen Realismus - Ende der Fotografie Teil 6

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Ist das Sterben der Fotografie aufzuhalten? Wird es eine Neugeburt geben? Lässt sich der poetische Blick retten?

Dazu ganz unpoetisch zunächst der Blick auf die Erkenntnisbedingungen des Visuellen und darin speziell der Fotografie. Oder generell der sinnlichen Erkenntnis. Dazu hat in den 1970er Jahren Klaus Holzkamp im Rahmen einer "Kritischen Psychologie" nachgedacht. Damit näherte er sich auf akademischen Feld der Frage der Arbeiterfotografen aus den 1920er Jahren: Sieht das Auge des Fabrikarbeiter anders als das Auge des Fabrikbesitzers? Also: Wie funktioniert Wahrnehmung, wenn man nach gesellschaftlichen Faktoren fragt, zum Beispiel in Hinsicht auf die Stellung im Produktionsprozess und damit zur Klassenlage?

Der Befund von Holzkamp ist in gewisser Weise ernüchtern, wenn auch nicht überraschend: "Sinnliche Erfahrung und Anschauung sind ... prinzipiell keine Erkenntnisweisen, mit welchen gesellschaftliche Widersprüche in primären Zugriff erfassbar sein könnten."1

Das hat freilich schon Bert Brecht 1931 in seinem Grußwort an die "Arbeiter Illustrierte Zeitung" erkannt, als er schrieb, die Kamera, also das Bild, könne genauso gut lügen wie die Setzmaschine, also der Text. Und im gleichen Jahr forderte Walter Benjamin in seiner "Kleinen Geschichte der Photographie" die "Beschriftung" der Fotografie ein, "ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muß". Das heißt, zum sinnlichen Eindruck, zum Bild, muss die Bildunterschrift kommen, damit wir der Bedeutung des Bildes eine Richtung geben können.

Welchen Sinn für uns der sinnliche Eindruck macht, hängt also entscheidend davon ab, mit welcher "Software" (allgemeines Weltbild, Weltvorstellung, politische Meinung, etc.) unsere "Hardware" - Augen, Ohren - ausgestattet sind. Bedeutung entsteht erst in Zusammenhang mit zum Beispiel einer politischen Weltanschauung und ist davon nicht zu trennen.

Wenn es um die Errettung der Fotografie als Erkenntnismethode geht, ist zunächst eine neue Beschriftung notwendig. Das meint, dass der herrschenden Ideologie der angeblichen Alternativlosigkeit etwas entgegengesetzt wird, das sich vielleicht mit Ernst Bloch als "Prinzip Hoffnung" verstehen lässt und in dem es um die "konkrete Utopie" geht. Also um die Potenziale, die in den Dingen und Verhältnissen schlummern und zum Leben erweckt werden können. Das ist freilich ein gesamtgesellschaftliches Projekt.

Erkenntnis wäre in diesem Sinne die Wiederbelebung des utopischen Gedankens, in dem die Gesellschaft nach der traumlosen Zeit des Neoliberalismus erneut zu träumen beginnt und so Konzepte des (Über)Lebens entwickelt. Fotografie wäre in diesem Sinne eine Fotografie der Utopie, freilich in einem anderen Sinne als wie bei Lunatscharsky, der 1933 forderte, der sozialistische Realismus solle das gerade im Bau befindliche Haus nicht im aktuellen Zustand ohne Fenster und Türen, sondern das fertige Haus der Zukunft abbilden. Denn die Wahrheit sei das Morgen und wer das nicht sehen wolle, sei ein bourgeoiser Realist.

Wie Fotografie als Erkenntnismethode in Anschlag gebracht werden kann, hat der 2013 verstorbene Allan Sekulla vorgemacht. In der Auseinandersetzung mit der klassischen sozialdokumentarischen Fotografie und ihren Schwachstellen kam Sekulla zu einem "Kritischen Realismus". Der Kritische Realismus als Erkenntnisphilosophie geht - anders als etwa der Idealismus - davon aus, dass die Dinge der Welt wirklich existieren, und nicht nur in unseren Vorstellungen, also nicht nur als Konstrukt. Anders als der naive Realismus, bei dem die Bilder in unseren Köpfen als Widerspiegelung der Realität gelten, geht der kritische Realismus von einem vermittelten Bild dieser Realität aus.

Für den Philosophen Nicolai Hartmann (1882 - 1950) erfasst das Subjekt das Objekt durch eine Vorstellung. Der Mensch macht sich von den Dingen also ein Bild und dieses Bild steht als Repräsentation des Dinges. Dieses Bild (oder die Repräsentation) muss - sofern es wahr ist - Züge des Objekts in sich tragen, muss also mit dem repräsentierten Ding etwas zu tun haben, zumindest seine Spuren aufweisen. Aber an dem Aufbau des Bildes "kann das Bewusstsein sehr wohl schaffend beteiligt sein".2

Der Mensch tut also dem Bilde der Welt etwas hinzu und dieses Bild ist somit nicht nur eine mechanische Widerspiegelung. Wir erfassen den Gegenstand nicht als Gegenstand selbst, sondern als Repräsentation - und diese Repräsentation kann sowohl zutreffend, als auch unzutreffend sein. Der kritische Realismus unterscheidet also sehr wohl zwischen wahr und unwahr: "Das Erkenntnisgebilde muß, sofern es wahr ist, Züge des Objekts tragen."3

Unwahrheit meint dann, dass anstelle des Bildes eine "leerlaufende Vorstellung" ohne Bezug zu den Dingen tritt. Es ist unschwer zu erkennen, dass der kritische Realismus mit seiner Unterscheidung von Wahr und Unwahr nichts zu tun haben kann mit der Dekonstruktion oder Relativierung von Realität im Postmodernismus wie etwa bei Baudrillard. Aber er unterscheidet sich eben auch von einem naiven Realismus, der - ins Fotografische gewendet - in einem Bild die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Realität sieht. Er erkennt vielmehr an, dass der Mensch mit einem bestimmten Teil an der Konstruktion - nicht der Welt, aber der Vorstellung von Welt - beteiligt ist. Es gibt die Welt außerhalb und unabhängig von uns - aber das Bild, das wir uns von dieser Welt machen, kann mehr oder weniger wahr sein und bedarf der kritischen Überprüfung.

Allan Sekulla hat mit seinen fotografischen Projekten ("Die Schule ist eine Fabrik" 1978; "Fish Story" 1989 - 1994) den Kritischen Realismus als Erkenntnismethode für Bilder praktiziert. Sollte es noch einen Rettungsweg für die Fotografie geben, dann könnte Sekulla die Richtung weisen.